Die Wiener Moderne und die Tradition literarischer Gattungen
- Man kann eine literarische Konzeption oder ein literarisches Milieu auch durch seine Bereitschaft zu Theoriebildung und Programmatik kennzeichnen. In der Wiener Kultur um 1900 ist die Anzahl literaturästhetischer und kunstkritischer Arbeiten beträchtlich; die bereits genannten repräsentativen Autoren wie auch zahlreiche halb vergessene Kritiker haben daran teil. Allein auch hier fällt ein bezeichnender Umstand ins Auge. Mustert man die kritischen Schriften der wichtigsten, Bewegung und Milieu wirklich prägenden Schriftsteller, ist die Tatsache nicht zu übersehen, daß die größte Aufmerksamkeit Fragen der Drarnentheorie sowie der Poetik lyrischer Dichtung und kleiner Prosaformen gilt. Für eine Theorie großer Erzählgattungen ist dagegen kein ausgeprägtes Interesse zu erkennen. Zwischen Kraus oder Hofmannsthal und der folgenden Generation liegt eine poetologische Zeitenscheide. Um den Dingen gerecht zu werden, ist es erforderlich, zwischen einem programmatischen bzw. poetologischen Diskurs und gelegentlichen kritischen Äußerungen über Lektüre zu unterscheiden.