Refine
Year of publication
Document Type
- Part of a Book (18)
- Part of Periodical (17)
- Article (4)
Has Fulltext
- yes (39)
Keywords
- Goethe, Johann Wolfgang von (6)
- Das Ganze (5)
- Ganzheit (5)
- Geschichte (5)
- Theorie (5)
- Blumenberg, Hans (4)
- Begriff (3)
- Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (3)
- Literatur (3)
- Wissenschaft (3)
Editorial
(2016)
Einleitung
(2022)
Die politischen Krisen der Gegenwart (Klimawandel, Migration, Pandemie) verlangen nach globalen und ganzheitlichen Lösungen, während Ganzheit aufgrund der Totalitarismuserfahrungen des 20. Jahrhunderts zugleich eine in Verruf geratene Kategorie ist. Dieser Spannung haben sich die Geisteswissenschaften seit einigen Jahren verstärkt zu stellen versucht. Galt das Ganze v. a. der Idealismuskritik lange als suspekt, geht die Verabschiedung überkommener Totalitätsmodelle derzeit oft mit der Erprobung neuer Vorstellungen von Ganzheit einher.
Die Beiträge dieser Interjekte-Ausgabe zeichnet eine programmatische Dimension aus, die zur Revision einer Reihe von bisherigen Annahmen in der Forschung zu Stil und Rhetorik auch durch überraschende historische Schnitte anregt: von Luther und Bernard Lamy über Baumgarten und Schleiermacher bis zu Musikvideos und Theatertexten der Gegenwart.
Fertig ist das Angesicht.
(2017)
In Bettines Titeln und Texten feiern Satzzeichen große Feste. Bindestriche, Gedankenstriche, Schrägstriche, Kommata, Ellipsen, Parenthesen machen sich zu schaffen - und ihr auch. Freigesetzt in ihr Tun und Lassen kommen sie in Schwung und intellektuell auf die Höhe, pfeifen auf Stimme und Schrift. Ein Komma im Frack lässt sich nicht blicken, aber mit Stifter wird man angesichts des entfesselten Kalküls der Satzzeichen sagen dürfen: "Es ist das kleinste Satzzeichen ein Wunder, das wir nicht ergründen können. Daß es ist, daß seine Teile zusammenhängen, daß sie getrennt werden können, daß die Teilung fortgesetzt werden kann, und wie weit, wird uns hienieden immer ein Geheimnis bleiben." Eigenmächtig setzt es Zeichen, die den Satz sperren oder stauen, ihn fluten oder dehnen, auch verrätseln. Und manches trägt dann ein Gesicht zur Schau. Der ernste Gedankenstrich in Theodor Storms Novellistik erschien Theodor W. Adorno als "Falten auf der Stirn der Texte" in seinem 1956 in der Zeitschrift "Akzente" erschienenen Essay "Satzzeichen". [...]
Das neue Jahresthema des ZfL, FORMEN DES GANZEN, knüpft an das vorangegangene Jahresthema der DIVERSITÄT in den Bereichen der Natur, des Sozialen und der Kultur mit einer gewissen Zwangsläufigkeit an. Denn wer sich mit der Vielfalt beschäftigt, kann der Frage nach der Einheit der Vielfalt und damit nach dem Ganzen nicht ausweichen. So ist etwa das Schlagwort von der Biodiversität ein absolut inkludierender Begriff und damit Chiffre eines Ganzen. Allerdings wurden Ganzheitsvorstellungen im 20. Jahrhundert von Regimen in Anspruch genommen, die nicht zufällig 'totalitär' heißen. Auch deshalb stehen die heutigen Geisteswissenschaften dem Ganzen kritisch gegenüber. Jener Geist, der sie einmal als Wissenschaften binden und von den Naturwissenschaften unterscheiden sollte, gehört ja selbst zur Sippschaft unifizierender Begriffe, die ein Ganzes meinen oder behaupten.
Für die Einzelsprachlichkeit der Literatur : Nebenbemerkung zum jüngsten Streit um die Germanistik
(2017)
"Daß gepfleget werde / Der feste Buchstab, und Bestehendes gut / Gedeutet." Das ist aus der letzten Strophe von Hölderlins "Patmos" ("Nah ist / und schwer zu fassen …" etc.). Die Hymne schließt mit: "Dem folgt deutscher Gesang." Was daraus zu Zeiten gemacht wurde und wie schlecht es gedeutet wurde, ist bekannt. Es gibt also gute Gründe zu fragen: Hat das irgendetwas mit uns heute, unseren politischen und medialen Umwelten und Umbrüchen zu tun? Darf man so anfangen, oder auch: so weitermachen? Haben wir Germanisten, vor allem die der vorangegangenen Generation, nicht hart an der Befreiung unseres Faches aus den Verstrickungen der Nationalphilologie einschließlich aller Idealismen, Romantizismen, Nationalismen gearbeitet? Und ist Hölderlin nicht auch irgendso'n Toter und so überforscht wie die Nordsee überfischt?
Mit der Goethe-Rezeption Max Kommerells beschäftigt sich der Beitrag von Eva Geulen. Ausgehend von Walter Benjamins bekannter Kritik an "Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik" (1928) fragt sie nach einem "Doppelzug des Theorie- und Gegenwartsverzichts" von Kommerells literaturwissenschaftlicher Arbeit, wie er sich in herausragender Weise in seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Goethe kondensiert. Dabei rückt Geulen weniger den zentralen Stellenwert Goethes im Führer-Buch oder die bis heute viel zitierten Studien über Goethes Lyrik, Faust II oder Wilhelm Meisters Lehrjahre in den Blick, sondern widmet sich stattdessen zwei Reden Kommerells, die die Bedeutung Goethes für die Jugend seiner Zeit eruieren: "Jugend ohne Goethe" (1931) und "Goethe und die europäische Jugend" (1943). Zwar zeichneten sich diese Arbeiten durch für Kommerell eigentlich untypische zeitkritische Bezüge aus. So rechne die erste Rede mit Jugendbewegung und Präfaschismus ab; und so lese sich die zweite streckenweise bereits wie ein Vorschlag zur 'Völkerverständigung' der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die besondere Pointe von Kommerells Goethe-Aneignung erblickt Geulen allerdings darin, dass die Reden das Motiv des einsamen Goethe mobilisieren und dass sie eine "absolute Aktualität und Gegenwärtigkeit" Goethes "mit seiner absoluten Entrückung im Knotenpunkt der Einsamkeit" verschränken. Aktuell und gegenwärtig sei Goethe für Kommerell just aus dem Grund, dass er sich bereits von seiner eigenen Gegenwart nicht habe vereinnahmen lassen. Dieses "Widerspiel von Entrückung und Vergegenwärtigung" lasse Goethes Aktualität mit seiner Unzeitgemäßheit durchgängig koinzidieren. Und nicht zuletzt dies bewahre sowohl Kommerell als auch Goethe vor dem Altmodisch-Werden: "Kann er nicht gegenwärtig sein, so wird er auch nie vergangen sein." Im Hinblick auf Kommerells "beharrliche Entrückungsstrategie" Goethes wirft Geulen auch die Frage nach Chancen und Grenzen des gegenwärtigen Interesses an Kommerell auf.
Die Besonderheiten der Gutachtenkultur verdanken sich demselben Umstand: Das geisteswissenschaftliche Gutachten ist in all seinen Varianten, vom Referenzschreiben für eine Person (im Englischen 'letter of recommendation') bis zum anonymen Gutachten eines Verbundprojektes, stets ein Hybrid aus Patronage und Sachverständigen- bzw. Expertenmeinung. Dabei gibt es auf Sender- und Empfängerseite unausgesprochene Erwartungshaltungen, Usancen und Codes, die die Vergleichbarkeit von Gutachten so sichern sollen, dass sie eine Entscheidungshilfe darstellen.
Gestalt
(2022)
Das Bedeutungsspektrum von 'Gestalt', diesem Inbegriff eines Abgeschlossenen, in sich Gegliederten, aber nur als Ganzes Wahrnehmbaren, ist um 1800 noch erstaunlich breit.[...] Auch den 1890 vom Gestalttheoretiker Christian von Ehrenfels fixierten "Gestaltqualitäten", zu denen vor allem gehört, dass eine Gestalt die Summe ihrer Teile übersteigt, kommt um 1800 noch keine privilegierte Stellung zu. Während das "Historische Wörterbuch der Philosophie" für jene Zeit zwar auch ein Dutzend Spezifikationen verzeichnet, 'Gestalt' aber exklusiv als ästhetischen und psychologischen Grundbegriff ausweist, hat Dagmar Buchwald in ihrem Eintrag für die "Ästhetischen Grundbegriffe" darauf hingewiesen, dass Gestalt in der mechanistischen Festkörperphysik der Zeit als Prädikat der 'res extensa' zu deren messbaren Attributen hinzutritt, ohne aber "in den Rang eines Standards" aufzusteigen. Die Differenz zwischen diesem und dem idealistisch überhöhten Gestaltbegriff "ist der Goethe-Zeit eingeschrieben", bezeichnet also ein Spannungsfeld, das erst später und besonders in der Zwischenkriegszeit den exklusiven Ganzheitsansprüchen der Gestalt weicht. [...]
Dagmar Buchwald zufolge "läßt sich die Geschichte des Begriffs Gestalt auch als Warnung vor einem 'Kult' um die Gestalt lesen." Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ein Kult um die Gestalt einer begriffshistorischen - wie überhaupt einer begrifflichen - Reflexion der Gestalt abträglich bleibt. Für eine Konkurrenz zwischen Kult und Begriffsschärfe sind die wissenschaftlichen Überlegungen, die in den 1910er und 1920er Jahren im Umfeld Stefan Georges zum Phänomen der Gestalt angestellt wurden, aufschlussreich und symptomatisch in einem. 1911 von dem Historiker Friedrich Wolters im "Jahrbuch für die geistige Bewegung" programmatisch lanciert, treibt die Gestalt bald in den germanistischen Schriften Friedrich Gundolfs und später auch Max Kommerells ihre Blüten. [...]
"Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile" - dieser Satz, eine stark verkürzte Passage aus Aristoteles' "Metaphysik", wird wie wohl kaum ein zweiter mit der Gestaltpsychologie assoziiert. Ähnlich hartnäckig mit ihr in Verbindung gebracht werden allenfalls noch 'Kippfiguren', also visuelle Reize, die abwechselnd mindestens zwei einander ausschließende Gesamteindrücke provozieren. In dieser assoziativen Verkürzung mag Gestaltpsychologie wenig konturiert oder banal anmuten, weil darin ihre historische Entstehungssituation und damit ihr radikaler, epochemachender Perspektiv wechsel unterschlagen wird. [...]
Die Tradition des Gestaltbegriffs, von Goethe bis zur Gestaltpsychologie, lässt sich der breiteren philosophischen Grundausrichtung des Holismus zuordnen, dessen Widerpart ist der Atomismus. Diese Differenz wird im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert dort problematisch, wo holistische Gegenstandsfelder in atomistisch operierende technische Systeme umgesetzt oder durch sie simuliert werden sollen. Nirgends zeigt sich der Zusammenstoß beider Paradigmen besser als in der fortdauernden Auseinandersetzung um die Begriffe und Vorgehensweisen zweier der jüngsten Disziplinen des letzten Jahrhunderts, der Informatik und der Kognitions- bzw. Neurowissenschaft. Dieses Spannungsverhältnis wird vor allem am Forschungsdiskurs um die Künstliche Intelligenz (KI) seit den 1940er Jahren deutlich, der hier nachgezeichnet werden soll.
Wo das Ganze als Prozess begriffen wird, droht es mitunter zu entgleiten. Im Denken des Ganzen haben sich reiche Traditionen herausgebildet, die (auch) in dieser Gefahr eine Chance sehen. Die Überzeugung einer kategorialen Ungreifbarkeit, Unbestimmtheit oder Unerreichbarkeit des Ganzen dominiert ganze Bereiche des Wissens und der Künste. Dabei scheinen solche Vorstellungen mit den Forderungen nach möglichst 'handfesten' Formen oder Bedingungen von Totalität gleichursprünglich zu sein. Tentative oder gar hypothetische Formen des Ganzen sind entsprechend oft unter dem Zeichen eines imaginierten Verlusts von Totalität formuliert worden. Dies gilt zumal mit Blick auf die moderne Kunst und Ästhetik, die das Kunstwerk als einen Mikrokosmos vorstellte, dem sein eigener Makrokosmos indes längst (oder immer schon) abhandengekommen zu sein schien.