Alle historische Forschung basiert auf einer Selektion von Themen, die sich aus dem Kontext ergeben, in dem diese Selektion stattfindet. Historische Forschung ist selbst zeitgebunden, und das beeinflusst ihre Perspektiven und Fragestellungen, nicht aber ist die Geschichtswissenschaft in der Lage, eine zeitlose Wahrheit über die Vergangenheit zu erschließen. Eine Suche nach dem "wie es eigentlich gewesen ist" muss auch daran scheitern, dass historische Forschung immer mit Wissen und Nicht-Wissen zugleich konfrontiert wird. Auch die rechtshistorische Forschung ist stets ein Subjekt ihrer Zeit, und auch sie muss akzeptieren, dass historisches Wissen notwendigerweise unvollständig ist. Die Rechtsgeschichte kann immer nur Fragmente der Objektivität der Geschichte rekonstruieren, sie kann nur "die sichtbare Seite einer Gesellschaft – Institutionen, Denkmäler, Werke, Gegenstände" zugänglich machen, nicht aber ihre "verborgene, unsichtbare Seite: Vorstellungen, Wünsche, Ängste, Verdrängungen, Träume". Tradition, heißt es dazu bei Harold Berman auch, "ist mehr als historische Kontinuität. Eine Tradition ist eine Mischung aus bewußten und unbewußten Elementen." ...
Die Ausbildung des theoretischen Denkens in Griechenland vollzog sich nicht erst mit Platon und Aristoteles, sondern kündigte sich bereits im 6. Jh. an. Schon im archaischen Griechenland, in den frühen Ontologien der Vorsokratiker und bei den naturrechtlichen Vorstellungen der Sophisten, ist ein Fortschritt des Denkens in Richtung Rationalität erkennbar. Das ist der Ausgangspunkt der Untersuchung von Tobias Reichardt. Aber wie ist es zu dieser – im Vergleich zu allen anderen antiken Hochkulturen Vorderasiens – einzigartigen Ideen-Evolution in Griechenland gekommen? Wie war das griechische Mirakel möglich? Auf diese Frage versucht Reichardt eine neue Antwort zu geben: Das theoretische Denken ging aus der neuen Organisationsform der polis und der darin eingelassenen Praxis der schriftlichen Gesetzgebung hervor. Dadurch gelang es erstmalig, die Ausdifferenzierung einer öffentlichen (Herrschafts-)Sphäre mit der Idee einer "guten Ordnung" als Leitgesichtspunkt allen politischen Handelns zu verknüpfen. ...