BDSL-Klassifikation: 18.00.00 20. Jahrhundert (1945-1989) > 18.14.00 Zu einzelnen Autoren
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Die Frage, welche Funktion Dinge in literarischen Texten haben können, wird hier nicht in Form einer motivgeschichtlichen Sammlung von Beispielen erörtert werden; vielmehr geht es darum, die unterschiedlichen Repräsentationsformen von Gegenständen in der Literatur - und deren Problematisierung - als Teil einer langen und folgenreichen Debatte über die menschliche Wahrnehmung auszuweisen. Besonders aufschlußreich ist dabei die Beschäftigung mit dem Diskurs der Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit erlebte seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Konjunktur. Sie wurde zum Thema intensiver psychologischer und physiologischer Forschungen. Das Verhältnis von Wille und Aufmerksamkeit beschäftigte die Philosophie, und für die neu entstehende Soziologie ist Aufmerksamkeit bzw. ihr Mangel von Anfang an ein wichtiger Bestandteil der Charakteristk der Moderne. Aufmerksamkeit erweist sich dabei als der notwendige Gegenpol zum Phänomen der Zerstreuung, das bei Autoren wie Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer zur Signatur der Moderne erklärt wird. Zerstreuung gilt ihnen als Kennzeichen einer stetig zunehmenden Beschleunigung des Lebens, einer Fragmentarisierung und Atomisierung der Existenz, einer Entsinnlichung und Entsubstanzialisierung aller Wahrnehmung und Erfahrung. Zerstreuung ist unbestritten eines der Merkmale der Moderne, nicht nur was lebensweltliche Bereiche angeht, sondern auch was die Produktion und Rezeption von bildender Kunst, Musik, Film und Literatur betrifft. Häufig werden die neuen Medien wie Rundfunk und Film geradezu mit dem “Kult der Zerstreuung” in eins gesetzt. Hier soll nun anhand einiger Texte von Robert Musil und früher Beiträge zur Filmtheorie gezeigt werden, daß es einen bedeutenden und weitverzweigten, zum Teil hochdifferenzierten Diskurs der Aufmerksamkeit gibt, der denjenigen der Zerstreuung begleitet und konturiert. Dabei werden neben Fragen der menschlichen Wahrnehmung, Erinnerung und Kommunikation insbesondere auch solche nach dem Verhältnis des Menschen zu seiner Wirklichkeit und infolgedessen auch eine Reihe von verschiedenen Subjektivitätsmodellen diskutiert. Gerade hierfür lassen sich in literarischen Darstellungen von Gegenständen und Dingen Aspekte finden, die im Diskurs der Aufmerksamkeit und damit im Diskurs der Moderne bisher zu wenig berücksichtigt worden sind.
Was im modernen Gedicht alles nicht mehr geht, meinte Gottfried Benn in seinem Marburger Vortrag über Lyrik diagnostizieren oder gar festlegen zu müssen: die Andichtung eines Du, die malerische Farbe (mit Ausnahme des Blau), der Wie-Vergleich und der seraphische, sentimental säuselnde Liebeston. Der Vortrag, kurz vor Entstehung des hier abgedruckten Krolow-Gedichts gehalten, hat wohl weniger prononcierten Einfluß auf ihn gehabt, doch lassen sich, wie im folgenden deutlich werden soll, gewisse Parallelen ausfindig machen: Themen des schwierig gewordenen Idylls, der unsicheren Liebesbeziehung, der Anonymisierung und Selbstdistanz des Autors sollen hervorgehoben werden, aber auch das Konzept des Gedichts als Spielraum, in dem das Individuum ins Allgemeine aufgehoben ist.
Indem das Mäusefest in die historische Wirklichkeit eingebettet wird, verweist es über die begrenzte Begebenheit hinaus ins allgemein Politische. Im Unscheinbaren und Abseitigen wird die Wahrnehmung für die verschüttete Vergangenheit wachgerufen, so daß Moral, Schuld und Trauer das Idyllische für immer zerstören. Die Erzählung „Mäusefest“ ist ein besonders eindringliches Beispiel für Bobrowskis Verständnis einer moralischen und sozialen Verpflichtung von Literatur. Sein besonderes Anliegen gilt der deutschen Kriegsschuld den östlichen Ländern gegenüber. „Mäusefest“ gehört zu Bobrowskis Erzählungen vom Krieg, die auf eigene Erfahrungen gründen. Den biographischen Hintergrund bildet hierbei die Anwesenheit Bobrowskis beim deutschen Überfall auf Polen als Soldat der Wehrmacht. Bobrowski legte stets großen Wert auf die persönliche Erfahrung und damit auch auf die persönliche Schuld, die die Basis seiner Literatur bilden.
Wie die anderen Erzählungen des Bandes "Das dreißigste Jahr" handelt dieser zwischen Lyrik und Prosa changierende Monolog - "Undine geht" - von Sprache und Gewalt, von existentieller Wahrheit des Individuums und Anpassung an die gesellschaftliche Norm, von der quälenden Last der Erinnerung und der Freiheit zur Rebellion. Wohl erstmals in ihrem Werk stellt Bachmann hier die Frage nach der Möglichkeit der Kommunikation zwischen Mann und Frau von jenem dezidiert weiblichen Standpunkt aus, der die späte Prosa ihres "Todesarten"- Zyklus kennzeichnen wird. Nicht zuletzt setzt der Text eine poetologische Reflexion fort, die implizit in Gedichten und Erzählungen, explizit in Essays und Vorlesungen, um die Möglichkeit einer neuen, radikal anderen, nicht entfremdeten Sprache kreist.
Das letzte der drei Gedichte unter dem Titel „Schutt“, ein Text von nicht zu überbietender Prägnanz, Strenge und Verhaltenheit, entstand vermutlich mehr als ein Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg. Karge sechs Zeilen, veröffentlicht erstmals 1965. Die wie beiläufig vorgetragenen Verse lassen an den verlegenen Versuch eines Kindes denken, gegen seinen Willen ein Gedicht aufsagen zu müssen. Doch ist das fiktive Ich die Stimme einer geprüften Frau, die, identisch mit dem realen Ich, während eines Luftangriffs verschüttet, drei Tage lang lebendig begraben war. Der Schock, dazu Alpträume der Erinnerung an die eigenen Eltern, die noch in der letzten Phase des Krieges Bomben zum Opfer fielen, das Bewußtsein, sie tot aus den Trümmern ihres Hauses hervorgegraben zu haben, ließen sie verstummen. Zögernd löst sie sich aus dem Zustand der Verstörung. Widerstrebend, aus welchem Antrieb auch immer, gibt sie das Schweigen auf. Mühsam sucht sie die Sprache wiederzugewinnen. Die Erfahrung der Katastrophe, die Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander verkettet, hat seelische Wunden hinterlassen. Wie sind die Folgen solcher Heimsuchung zu verarbeiten? Äußert sich in dem Gedicht eine vom Tode Verschonte oder eine zum Leben Verurteilte? Wie steht es um die Beziehung der verschütteten Stimme zum verstummten Wort?
Diese 1952 entstandene Kurzgeschichte der österreichischen Autorin erweist sich als besonders charakteristisch für die Eigenart ihres Werks, sowohl was den Themenkreis – Entfremdung, Bedrohtsein, Angst und Tod – betrifft, als auch in Bezug auf die Vorliebe für die monologische Ausdrucksform, für Überraschungseffekte und Paradoxa. [...] Im Gesamtschaffen der Dichterin gehört "Wo ich wohne" zu einer Übergangsphase. Nach der wehmütig-poetischen Sprache des Romans "Die größere Hoffnung" und der 1948 entstandenen Spiegelgeschichte ist dieser Text durch eine größere Zurückhaltung und Sachlichkeit geprägt. Die Tendenz zur Untertreibung und Aussparung, zur Raffung und Verknappung wird sich in den späteren Werken bis ins Hermetische steigern.
Heiner Müller: Fernsehen
(2000)
Der hier vorgestellte Text, der unterschiedliche metrische und graphische Merkmale aufweist, besteht aus drei numerierten Sektionen: „Geographie, Daily News nach Brecht, Selbstkritik.“. Das Gedicht ist kurz nach der Öffnung der Mauer in der Zeitschrift „Temperamente” erschienen. Obwohl in dieser ersten Druckfassung die gespannte Situation schon zu erkennen ist - die Zeitschrift, die im Januar 1990 herauskam, ist voller Appelle und Reflexionen über die historische Identität der DDR - sind die Entstehungsbedingungen noch viel dramatischer. Die ersten Oktobertage. Im Theater „Am Palast der Republik” soll „Quartett“ von Heiner Müller gegeben werden, aber der Regisseur und ein Schauspieler sind in den Westen geflohen. Der Autor liest das Stück selbst: Eine Geste der Solidarität mit denen, die bleiben, eine Haltung, die viele ostdeutsche Intellektuelle eint, von Volker Braun über Christa Wolf bis Stefan Heym, die an eine mögliche Neugründung der DDR glauben. In diesem gespannten Klima liest Heiner Müller dem Publikum „Fernsehen“ vor und unterbricht damit Valmonts Monolog. Der Text folgt einer analogischen Optik, welche die Figuren der Gegenwart den Fernsehbildern der 1989 übertragenen Ereignisse zuordnet.
Heiner Müller e Brecht
(2000)
Based on Heiner Müller's play 'Fatzer +- Keuner', the present article shows Müller's opinion on Bertolt Brecht's work. The adaptations of Brecht's didactic plays (Lehrstücke) by Müller are commented on and compared to the originals.
Der Titel scheint unverfänglich, ist aber alles andere als harmlos. Aus einer Erzählposition, in der sich zwei Perspektiven der Annäherung überschneiden, eine äußere der „[v]ersuchte[n] Nähe“ (des kritischen Beobachters) zum Vorsitzenden des Staatsrates (Außensicht) und eine innere der „[v]ersuchte[n] Nähe“ des Staatsoberhauptes zum „Volk der DDR“ (Innensicht), wird die „[v]ersuchte Nähe“ des Protagonisten aus dem Blickwinkel des Beobachters Schritt für Schritt in ihrer Hinfälligkeit entlarvt. Beschrieben wird der Ablauf einiger Stunden des Generalsekretärs der staatstragenden Partei an einem „Feiertag“, dem Gründungstag der DDR am 7. Oktober. Die Instanz des Erzählers verfolgt dabei den Einsatz des dem Staatschef zu Gebote stehenden gestischen, mimischen und sprachlichen Instrumentariums. Vertraut mit der Mentalität des Funktionärs, befähigt, dessen Umgang mit den Hilfsmitteln der Macht zu analysieren, durchleuchtet der Autor bestimmte Rituale als Syndrome einer totalitären Gesellschaftsstruktur.
Günter Wallraffs Industrie-Reportagen sind wohl die bekanntesten Beispiele für eine kritische, auf gesellschaftliche Veränderungen zielende „Literatur der Arbeitswelt“, und sein 1966 erstmals erschienener Bericht „Am Fließband“ kann als klassisches Beispiel sowohl für die Ziele und Methoden dieser Literaturgattung im allgemeinen wie auch für Wallraffs individuelle Verfahrensweisen gelten. Die folgende Lektüre will daher nicht in erster Linie die vom Text vermittelten Informationen zusammenfassen, sondern exemplarisch zeigen, auf welche Weise diese Informationen aufbereitet und vermittelt werden und welche Wirkungen der Text damit zu erzielen hofft. Dabei geht es nicht darum, Wallraffs oft zitierten Anspruch zu konterkarieren: „Nicht gestalten (...), sondern die Vorkommnisse und Zustände für sich selbst sprechen lassen.“ Vielmehr ist zu zeigen, wie erst durch eine bestimmte Gestaltung das Material zu „sprechen“ beginnt und Wirkungen zustande kommen.