BDSL-Klassifikation: 03.00.00 Literaturwissenschaft > 03.14.00 Literatursoziologie
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Außer Streit steht die Existenz eines Literaturkanons, der durch sozialen Konsens ästhetische Wertungen bestimmt und vom herrschenden Kunstverständnis geprägt ist. Besonders in seinem selten umstrukturierten Kern ist der Literaturkanon eine implizite Auswahl der als normsetzend und zeitüberdauernd erachteten künstlerischen Werke. Diese gelten als vorbildhaft, zugleich meist in ihrer ästhetischen Qualität als unerreichbar. Abgesichert sind sie in den Urteilen meinungsbildender Gruppen, besonders durch Zirkel, die sich Mechanismen von Salon und Tafelrunde zu eigen gemacht haben. [...] Der Kanon bleibt nicht unverrückbar. Er ist, über einen längeren Zeitraum betrachtet, tatsächlich immer wieder in Bewegung gewesen. Die Prozesse der Kanonisierung, der Aufnahme oder des Ausschlusses verlaufen in direkten oder indirekten Zusammenhängen mit poetologischen Debatten, mit einem Wandel des Kunstbegriffes, mit kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen. [...] Verhandelt werden jeweils Identität und Differenz, Eingrenzung und Ausgrenzung. Eine kulturelle Macht verteilt symbolisches Kapital, auch materielle Güter. Im Kanon steckt ein Autoritätsanspruch, äußert sich ein hierarchisches Denken, das Kunst und Kunstbetrachtung in eine selbstgefällige Beziehung setzt.
1997 wurde die Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur an der Palacký-Universität in Olmütz gegründet. Nach den umfassenden Feldforschungen der ersten Jahre stellte sich heraus, daß das gesammelte Material ein neues methodologisches und theoretisches Gerüst erhalten muß, damit es wissenschaftlich verwertbar und auch "verkaufbar" wird. Dieses Gerüst ist am ehesten als literatursoziologisch zu bezeichnen. [...] Von der Soziologie fundiert können zahlreiche Fragen an die regionale Literatur herangetragen werden, um diese vernünftig zu erschließen, sie in ihrer strukturellen Andersartigkeit im richtigen, dazugehörigen Kontext zu begreifen und gebührend einzuschätzen und von ihr die vielfachen ideologischen Beläge abzustreifen.
Hinsichtlich des Vordringens von bürgerlichen Mittelschichten in die zentralen Machtpositionen der europäischen Staaten kann man große Unterschiede für die Zeit bis 1914 ausmachen. [...] Aus vielerlei Gründen ist in diesem Zusammenhang das Militär von besonderem Interesse. Es war das klassische Betätigungsfeld einer Aristokratie; allerdings zeigen Statistiken, dass sich der Anteil des Hoch- und Altadels zugunsten jenes von Bürgern und Neuadeligen dramatisch verringerte. [...] Die sozialen Beziehungen innerhalb dieses so gewaltigen sozialen Körpers, den eine stehende Armee seit der frühen Moderne darstellt, sind auch daher wert, studiert zu werden. [...] Was war denn das für ein sozialer Organismus, diese habsburgische Armee, die noch 1914 so durchaus feudal und einem älteren Kriegerkanon verpflichtet wirkte? Wie kommt denn dieser Eindruck zustande, wenn sich die Zusammensetzung des Militärs doch durchaus in Richtung Bürgertum veränderte? Was motivierte denn Menschen bürgerlicher Herkunft dazu, sich in einem adeligen bzw. durch adelige Sitten geprägten sozialen Umfeld durchzusetzen? [...] Was hat das mit Ferdinand von Saars Novelle Leutnant Burda zu tun? Schon seit einiger Zeit hat in den Literaturwissenschaften eine Neubewertung des literarischen Schaffens von Saar eingesetzt. Seine Variante der naturalistischen Romanliteratur wird heute auch künstlerisch hoch eingeschätzt, und zugleich mehren sich Textinterpretationen, die ihn sowohl als meisterhaften Schilderer der österreichischen Konstellation des Übergangs vom Feudalismus zum Bürgertum als auch als einen die "Sphäre des Unbewussten und Unterbewussten" darstellenden Dichter verstehen. Es liegt also nahe, sich Saars Wahrnehmungsfähigkeit zu bedienen, zumal er das Milieu, das er beschreibt, aus seiner eigenen Militärzeit als junger Offizier gut kannte.
Die Literatur "weiß" viel, und vieles wusste und weiß sie früher, als die sich ausdifferenzierenden Wissenschaften seit dem 19. Jahrhundert, im Besonderen Soziologie, Psychologie und Gesellschaftsgeschichte, auf ihre Weise erkannten. Karlheinz Rossbacher zeigt dies anhand verschiedener Beispiele, die er als kleine Materialsammlung in etwa historisch anordnet.
Als Pierrre Boudieu in den 1960er-Jahren seinen Ansatz entfaltete, waren in der Literaturwissenschaft zwei Richtungen dominant: einerseits die immanente Literaturbetrachtung, die glaubte, in den Werken selber den Schlüssel ihrer Deutung zu finden, und eine etwas reduktionistische Literatursoziologie, die in den literarischen Werken den unmittelbaren Ausdruck einer sozialen Klasse sah. Das Verdienst von Bourdieus Feldtheorie erscheint dem Autor darin, dass Bourdieu aus dieser Aporie herausführte, den Autonomisierungsprozess der Literatur ernst nahm und trotzdem die Bedeutung des Kontextes nicht aus den Augen verlor.
Was weiß Literatur?
(2008)
Die erste Nummer der Online-Zeitschrift präsentiert sechs Beiträge zu der im Mai 2007 stattgefundenen Tagung "LiTheS. Literatursoziologie - Theatersoziologie" in Graz, dem Start-up Workshop zur Einrichtung des gleichnamigen Forschungs-, Dokumentations- und Lehrschwerpunkts am Institut für Germanistik der Karl-Franzens-Universität Graz.
Wie sollen – erstens – zehntausende disparate literaturhistorische Daten verarbeitet, wie soll eine Literatur beschrieben und dem Abnehmer, Leser, Forscher nähergebracht werden, die zu 80 % unbekannte, nie kanonisierte – oder längst nicht mehr kanonisierte – Größen und Erscheinungen darbietet (die wohlgemerkt zu 90 % zurecht unbekannt und unkanonisiert sind), und wo auf die übrigen 20 % höhere – und also entscheidendere – Beheimatungsansprüche gestellt werden? [...] Wie soll – zweitens – eine Literatur gehandhabt werden, die „nicht zentral“ ist, sondern, im besseren Falle das Attribut „regional“, im schlimmeren Falle „provinziell“ trägt, was freilich keine objektiven, etwa geographisch fundierten Begriffe sind, sondern ideologische Metaphern, die die zentrale Literaturgeschichtsschreibung als Waffen benutzt, um die regionale Literatur an den Rand, ins Provinzielle, Abweichende, künstlerisch Unzureichende zu drücken? [...] Wie soll – drittens – eine Literatur gehandhabt werden, die nicht Objekt der nationalen Philologie ist (in Tschechien also der Bohemistik), sondern fremdsprachige Äußerung eines Ethnikums, das auf diesem Gebiet nicht mehr lebt und dessen vormalige Existenz man am liebsten vergessen würde?
Der vorliegende Beitrag untersucht die Zusammenhänge von medizinischen, soziologischen und ideologischen Debatten in den frühen Identitätsentwürfen der zionistischen Bewegung. Ausgehend von Nordaus und Herzls gesellschaftskritischen Diagnosen zur Großstadt wird nach der Funktion der Krankheits-Metaphorik innerhalb utopischer Heilskonzeptionen gefragt.
Die postmoderne Auflösung der Grenze zwischen Kunst und Leben und die daraus resultierende Frage, wieviel Wirklichkeit ein Roman verträgt, wird verstärkt von den Gerichten beurteilt und nicht von Literaturwissenschaftlern und Kritikern. Das in der Praxis schon übliche Gegenlesen von Manuskripten durch die Verlagsjustitiare auf die potentielle Verletzung Rechte Dritter birgt in sich die Gefahr einer ›Vorzensur‹. Die zunehmende Verrechtlichung und die damit einhergehende Regulierung ist eine bedenkliche Entwicklung, die schleichend zu einer Unterwanderung der Kunstfreiheit führen könnte. Besonders dringlich erscheint eine zunehmende Beteiligung von Literaturwissenschaftlern an dem Diskurs. Ein Ringen im Einzelfall scheint aus Mangel an generellen Lösungen und Definitionen, in literaturwissenschaftlicher sowie juristischer Hinsicht, auch in Zukunft unumgänglich zu sein.