BDSL-Klassifikation: 03.00.00 Literaturwissenschaft > 03.07.00 Ästhetik
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In früheren Jahrhunderten wurde Krankheit teleologisch begriffen; man nahm also an, die natürliche menschliche Verfassung sei die körperlicher wie geistiger Gesundheit. Krankheit war ein Abweichen von diesem idealen, ordnungsgemäßen Zustand – daher auch die englischen Termini 'disorder' und 'distemper'. Ehe sich die moderne Auffassung von Infektionskrankheiten entwickeln konnte, wurden Krankheiten von Ärzten meistens als eine Unausgewogenheit der physischen Beschaffenheit des Menschen verstanden. Die antike und mittelalterliche Physiologie – deren Spuren sich, Fortschritten der medizinischen Wissenschaft zum Trotz, bis ins 18. Jahrhundert finden – hatte Gesundheit im Sinne des Gleichgewichts der für den Körper konstitutiven Elemente definiert. Der Terminus 'Temperament' war ursprünglich ein Hinweis auf eine Veränderung der Qualitäten (heiß oder kalt, feucht oder trocken) oder des Gemüts, das durch verschiedene Mischungsverhältnisse der Körpersäfte (Blut, Schleim, gelbe Galle, schwarze Galle) die Natur oder die 'Komplexion' einzelner Menschen – deren körperliche wie geistige Verfassung – bestimme. Im Falle der Gesundheit seien die konstitutiven Elemente im Gleichgewicht – 'tempered' –, und dementsprechend im Falle der Krankheit – 'distempered'.
Auch nachdem man Krankheit nicht länger als Unausgewogenheit von Körpersäften verstand, blieb die Vorstellung, Gesundheit erfordere ein Gleichgewicht körperlicher Elemente, bestehen. Der Terminus 'Temperament' kam im Laufe der Zeit nicht außer Gebrauch, obwohl die Medizin und die Physiognomie die Idee der Humoralpathologie als obsolet verabschiedeten. Nach und nach bezeichnete 'Temperament' eine allumfassende Qualität des Charakters, des geistigen Wesens oder der natürlichen Veranlagung, statt eine körperfunktionale Qualität zu meinen. Dieser Bedeutungswandel beeinflusste die Geschichte von Physiologie und Physiognomie, weil er Änderungen der Konzeption menschlicher Leidenschaften und ihrer Ausdrucksformen einschloss.
Im 48. Kapitel von Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" lesen wir folgende Beschreibung des deutschen Finanzmagnaten und 'Großschriftstellers' Paul Arnheim: "Die Ausflüge in Gebiete der Wissenschaften, die er unternahm, um seine allgemeinen Auffassungen zu stützen, genügten freilich nicht immer den strengsten Anforderungen. Sie zeigten wohl ein spielendes Verfügen über eine große Belesenheit, aber der Fachmann fand unweigerlich in ihnen jene kleinen Unrichtigkeiten und Mißverständnisse, an denen man eine Dilettantenarbeit so genau erkennen kann, wie sich schon an der Naht ein Kleid, das von der Hausschneiderin gemacht ist, von einem unterscheiden läßt, das aus einem richtigen Atelier stammt. Nur darf man durchaus nicht glauben, daß das Fachleute hinderte, Arnheim zu bewundern." Auch wenn es so scheinen mag, als werde mit diesem Zitat der Rahmen der romantischen Schöpfungsästhetik gesprengt: Hier klingen einige Leitmotive nach, die 'um 1800' die Auseinandersetzung um den 'wahren Künstler' bestimmen. So könnte man fragen, ob der Großschriftsteller Arnheim in der zitierten Passage nicht nur als Dilettant, sondern auch als Virtuose markiert .wird. Als dilettantischer Nicht-Fachmann genügt er nicht immer den "strengsten Anforderungen", zeichnet sich aber durch ein "spielendes Verfügen" über sein angelesenes Wissen aus. Deutet der Umstand, dass ihn die Fachleute bewundern, darauf hin, dass Arnheims "spielendes Verfügen" als virtuose Verbindungsgabe Ansehen findet, auch wenn die Nahtstellen die Dilettantenarbeit erkennen lassen? Und warum wird die Dilettantenarbeit mit der Naht der Hausschneiderin in Analogie gesetzt? Ganz abgesehen davon, dass mit der Maßschneiderei generell das Problem der Angemessenheit aufgeworfen wird: Warum sollte die Hausschneiderin schlechter nähen als das richtige Atelier?
In genauer Umkehrung des Programms der rhetorischen Kalkulierbarkeit expressiver Gesten einerseits, des Topos ihrer Ursprünglichkeit und Inkommensurabilität andererseits, werden die Bewegungen des Körpers wie die Affekte der Seele nun also als experimentell generierte Reaktionen begriffen. Die Gebärden des Körpers sind unter diesen Prämissen zwar immer noch Ausdruck eines inneren Zustands, dieser Zustand selbst aber ist dem Eindruck gezielt induzierter äußerer Reize geschuldet. Natur und Rhetorik des Körpers werden somit gleichermaßen unter die Ägide experimenteller Kalküle und Steuerungstechniken gestellt.
Wie ich im Folgenden an ausgewählten Beispielen zeigen möchte, ist dieser 'dritte Weg', den die experimentellen Wissenschaften vom Menschen zwischen die rhetorische und die empfindsame Semantik von 'Ausdruck' gebahnt haben, äußerst folgenreich gewesen: Obwohl das System der Rhetorik ebenso wie die Annahme natürlicher Empfindungen im kulturellen Gedächtnis der Moderne beide fest verankert bleiben, werden sie im Feld der Anthropologie im Zuge der Experimentalisierung der Wissenschaften vom Leben zunehmend marginalisiert. Dies allerdings nicht in dem Sinne, dass die Lebenswissenschaften sich schlicht an die Stelle vormals kulturalistisch argumentierender Paradigmen gesetzt hätten. Vielmehr legt gerade ein Prozess wie derjenige der Umcodierung expressiver Gesten zu mechanischen Reflexen die Notwendigkeit offen, Fragen der Wissenschafts- und Kulturgeschichte im Rahmen einer integralen Perspektive zu betrachten. In diesem Sinne ist auch die Geschichte des experimentellen Blicks auf Ausdrucksfiguren, um eine kulturelle Dimension zu erweitern – und das nicht nur hinsichtlich der allgemeinen Begleitumstände experimenteller Forschung wie z. B. der Materialität der Labore, der sozialen Interaktion der Forscher oder der diskursiven und nicht selten imaginären Entwürfe von Wissen.8 Vielmehr kann anhand der Geschichte der experimentellen Wissenschaften vom menschlichen Ausdruck eine ganz spezifische Dynamik der kulturellen Prägung von Wissen nachgewiesen werden: Die Experimentalisierung von Figuren des Ausdrucks führt nicht nur zur Verdrängung rhetorischer und empfindsamer Modelle, sondern wird von einem Diskurs mitgeschrieben, der von beiden Modellen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein geprägt wird, und sei es im Modus der kritischen Reflexion: vom Diskurs der Literatur, der in dieser Hinsicht als konstitutiver Bestandteil einer Geschichte des Wissens zu betrachten ist.
In dem von thematischer Heterogenität geprägten Werk "Oráculo manual y arte de prudencia" (1647) bildet das untergründige Wechselverhältnis von Wahrheit und Lüge den zentralen Leitgedanken. In dem vielzitierten "aforismo" 13 reflektiert Baltasar Gracián die Problematik der Täuschung und konstatiert, dass die Aufrichtigkeit in Gestalt des Betrugs auftreten kann und dass die eigentliche und die fingierte Absicht einander zum Verwechseln ähnlich sehen. Dies lässt nicht nur die einzelne Situation zum Verwirrspiel werden, sondern stellt überdies die Möglichkeit einer klaren Unterscheidbarkeit von Wahrheit und Täuschung grundsätzlich in Frage. Die hier zu Tage tretende epistemologische Problemstellung gewinnt aber erst in der Übertragung auf den Bereich der Handlungspragmatik ihre komplexe Mehrdeutigkeit. Die im "Handorakel" vorgestellte "arte de prudencia" besteht in der ambivalenten Gleichzeitigkeit aus taktischer Beobachtung der Außenwelt und dem stets mitgeführten Bewusstsein, selbst Gegenstand kritischer Beobachtung und Beurteilung zu sein. Der Höfling, dem das "Oráculo manual" zur Orientierung im gesellschaftlichen Ränkespiel am Hofe an die Hand gegeben wird, hat daher eine zweipolige Aufgabe zu verfolgen: Auf der einen Seite muss er die Gabe besitzen, seine Mitmenschen mit "Scharfblick und Urteil" zu ergründen und durch gezielte Beobachtungen ihr Innerstes zu entziffern; auf der anderen Seite muss er, um seine Ziele zu erreichen, die eigenen Absichten und Beweggründe verbergen oder sogar verstellen. Die Verknüpfung von Sehen und Wissen wird auf diese Weise zu einem strategischen Kerngedanken des Textes.
The author presents the concept of testimony in two different literary and theoretical backgrounds, namely the German and the Spanish-American. Testimonio and Zeugnis an not be mutually translated because the first is thought as a literary gender inside the literary tradition of mimesis/imitatio. Whereas the notion of Zeugnis was created in Germany on the grounds of Shoah literature, and was strongly impregnated by the psychoanalytical idea of trauma, and by the awareness of the simultaneous necessity and impossibility of the testimonial writing.
Der Dualismus von Körperästhetik und Moral, der die abendländische Kultur seit der Antike bestimmt hatte, bricht in der schönen Literatur erst im 20. Jahrhundert - im Gefolge psychologisierter anthropologischer Konzeptionen - endgültig auseinander. Es entstehen neue, komplexe Relationen von Körper und Psyche, in denen unterschiedliche Normenkomplexe und Machtstrukturen wirksam sind - soziale, geschlechtsspezifische, sexuelle. Demgegenüber scheint sich in den literarischen Zeugnissen der Gegenwart ein neues Paradigma anzudeuten. Die jüngsten Variationen der Konfrontation von Schönheit und Häßlichkeit, die Verwechslungen, Vertauschungen, Verwandlungen und Umkehrungen beider Zustände entstehen erkennbar vor dem Hintergrund avancierter technologischer Möglichkeiten zur Herstellung von Körperschönheit, einer Schönheitsindustrie und Medizin, die das Bewußtsein von der technischen Produzierbarkeit von Schönheit, vom Sieg über Alterungsprozesse vermitteln. Die Gegenwartsliteratur spiegelt eine neue Objekthaftigkeit von Schönheit und Häßlichkeit, ihren Warencharakter. Schönheit kann, wie bei Bruckner, enteignet werden, sie kann gekauft und gestohlen werden wie bei Kureishi, mit ihrem häßlichen Gegenteil verwechselt wie bei Brasme und sie kann mit diesem - zur kontrastiven und kommerziellen Überhöhung ihrer Eigenart -vorübergehend vertauscht werden wie bei Nothomb. Der Objekt- und Warencharakter von körperlicher Schönheit und Häßlichkeit führt dazu, daß die Dichotomien zusammenrücken und austauschbar werden, weil sie kein metaphysisches, moralisches oder gedankliches Substrat mehr besitzen, sondern zunehmend vom marktwirtschaftlichen Prinzip bestimmt sind. Auf einem totalitären Markt der Schönheit kann plötzlich auch Häßlichkeit kommerziell und sexuell attraktiv werden, in einem faschistoiden Schönheitssystem ist sie die einzige Möglichkeit der individuellen Nicht-Anpassung.
Markus Färbers 'Reprobus' aus dem Jahr 2012 ist im Genette’schen Sinne ein Palimpsest der mittelalterlichen Legende des Heiligen Christophorus, angesiedelt in einer dystopischen Welt, in der eine geographisch reale 'Welt der Legenden und Mythen' durch Erosion zu verschwinden droht. Westlich davon liegt, durch einen Fluss abgegrenzt, eine düstere von Menschen bewohnte Megastadt. Dorthin zurückgekehrt, versucht Christus, sich und Christophorus / Reprobus wieder in das Gedächtnis der Bewohner_innen zu bringen. Die Missionarstätigkeit und das Martyrium der alten Version fehlen. Stattdessen versucht Reprobus mehrfach vergeblich über den Grenzfluss aus der Welt der Menschen wieder in die der Legenden zu gelangen. Dieser Grenze zwischen Logos und Mythos, die immer unüberwindbarer wird, gilt es in ihrer allegorischen Konstellation Beachtung zu schenken. Denn an die Stelle der traditionellen Moralisatio ist in diesem Buch folgende Frage getreten: „If the myths have gone away, will the stories ever stay in our time?“ In Färbers Werk spiegelt sich eine Hoffnung, von der Benjamin in seiner Allegorietheorie spricht: das Aufgreifen von verschwindenden Dingen, ob materieller oder geistiger Natur, und deren Besetzen mit neuen Bedeutungen könnte sie über die Grenze, vor dem Vergessen, für die jeweilige Gegenwart der Künstler_innen, die damit zu Allegoriker_innen werden, retten.
Bei der Durchsicht von literarischen und literarkritischen Werken der 1830er und 40er Jahre wird schnell deutlich, daß jedes einen anderen 'Goethe' hat. Damit ist nicht nur den Tatsachen Rechnung getragen, daß jeder der Autoren seine ganz individuelle Sicht auf Goethe zur Geltung bringen will - um des eignen Profils und der Distinktionsgewinne willen - und daß jede der sich ausdifferenzierenden ideologischen Positionen,
die dem Vormärz sein besonderes Gepräge geben, sich ihre spezielle, pejorative oder verklärende Mystifikation zurechtlegt.
Rezension zu Armen Avanessian, Winfried Menninghaus u. Jan Völker (Hg.): Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit. Zürich, Berlin (diaphanes) 2009. 256 S.
Biologie als Wissenschaft des Lebens entsteht - geschichtlich bedeutsam oder zufällig - gleichzeitig mit der philosophischen Ästhetik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Um diese wissenschaftshistorische Gleichzeitigkeit drehen sich die Konstruktionen und Interpretationen der in "vita aesthetica" versammelten interdisziplinären Beiträge aus Kunst- und Wissenschaftsgeschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft.
Rezension zu Harald Fricke: Gesetz und Freiheit. Eine Philosophie der Kunst. München (Beck) 2000. 274 Seiten.
"Was ist Kunst? Und: was ist große Kunst? Was für Arten von Kunst gibt es? Wie verändert sie sich im Verlauf der Geschichte? Wie hängt sie mit der natürlichen, wie mit der gesellschaftlichen Welt zusammen - und wie mit dem einzelnen in dieser Welt?" Bereits der erste Absatz in Harald Frickes Vorwort zu seinem Buch 'Gesetz und Freiheit', macht ebenso unmißverständlich klar, daß es um Grundlegendes geht, wie der Untertitel des Buches: 'Eine Philosophie der Kunst'. Fricke stellt sich den großen Fragen, die hier formuliert sind, und seine 'Philosophie der Kunst' weist einen im besten Wortsinn bedenkenswerten Weg zu ihrer Beantwortung auf - einen von individuellen Neigungen und Interessen bestimmten Weg, der aber gleichwohl oder eben darum überzeugt.