BDSL-Klassifikation: 13.00.00 Goethezeit > 13.14.00 Zu einzelnen Autoren
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In den "Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft" von Brentano und Kleist läßt sich ein wahrnehmungsgeschichtlich signifikanter Bruch nachweisen. Geht Brentano von der romantischen Konzeption der Sehnsucht aus, so stehen hinter dem Text Kleists die Theorie des Erhabenen und die Assoziation des Panoramas. Diese konkurrierenden Positionen gründen in unterschiedlichen Begriffen vom Subjekt.
Skandalöse Eröffnungen bilden den Auftakt der "Marquise von O...." wie des "Marionettentheaters": Eine angesehene Dame sucht vor ihrer Niederkunft per Zeitungsannonce nach dem ihr unbekannten Vater des Kindes; der erste Tänzer der Oper stellt die Behauptung auf, ein Tänzer, der sich ausbilden wolle, könne mancherlei von einer Marionette lernen, um dann im weiteren Verlauf des Gesprächs darzulegen, eine beliebige Figur aus dem Marionettentheater besitze mehr Grazie als die Mehrzahl der Mitglieder seiner Truppe. Beide Male steht ein Verlust zur Debatte, beide Male wird im Verzeichnen einer körperlichen Abwesenheit (das Fehlen des Vaters, der Verlust der jedem Menschen eigenen natürlichen Anmut) die gesellschaftliche Prägung des Körpers zum Thema. Die Rede über den Körper und sein Entzug als – in der Regel ganz wörtlich dargelegtes – Verschwinden in die Abwesenheit greifen ineinander. Das Wissen um die sexuelle Herkunft wird in "Die Marquise von O...." problematisiert, es stellt ein machtloses Wissen dar und kann allein mit den Mitteln der Sprache, im "Geständnis", nicht verifiziert werden. Im "Marionettentheater" steht der Prozeß der kulturellen Normierung des Körpers und der damit verbundenen Ängste zur Debatte. Dieses Wissen ist eng an die Produktion von Macht geknüpft und überschreitet die Sprache, die Kleist immer wieder entlang der Grenze ihrer Unzulänglichkeit darzustellen versucht hat.
Der Aufsatz widmet sich einem 1810 in Heinrich von Kleists Berliner Abendblättern erschienenen Distichon mit dem programmatischen Titel „Nothwehr“ und unternimmt es, die in den beiden Versen geschilderte Technik der Täuschung und Verstellung vor dem Hintergrund der französischen Besetzung Preußens zu deuten. Dabei zeigt sich, daß das Notwehr-Distichon nicht nur als Lektüreanweisung zur Entschlüsselung der in den Abendblättern abgedruckten, vermeintlich pro-französischen Nachrichten zu verstehen ist, sondern darüber hinaus eine Denkfigur formuliert, der für Kleists Werke eine gewisse Schlüsselfunktion zukommt.
Die psychohistorische Dimension der Gesellschaftsgeschichte wird zuweilen an den literarischen Niederschlägen deutlicher greifbar als an anderen Quellen. Nicht in dem Sinne, daß Literatur eine wie immer geartete Wirklichkeit einfach darstellt oder "widerspiegelt", sondern in dem Sinn, daß sie auf Probleme, häufig ungelöste Probleme, referiert. Die folgenden Überlegungen operieren mit zwei Voraussetzungen, die eng miteinander verknüpft sind. Erstens: Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist eine begriffsgeschichtliche "Sattelzeit", in der die Dynamik der modernen Welt irreversibel wird und auch die Begriffe in beschleunigten Wandel geraten. Diese Vorstellung von der "Sattelzeit" stammt aus den Vorüberlegungen des Wörterbuchs Geschichtliche Grundbegriffe und wurde durch das Wörterbuch selbst auf eindrucksvolle Weise bestätigt. Wenn man "Begriffe" generell als Instrumente des Begreifens oder Konstruierens von Welt auffaßt, ergeben sich zwanglos Anschlüsse zu weiträumigeren Theorien der Modernisierung. So entspricht die Zäsur zeitlich und auch in einigen inhaltlichen Momenten dem, was Michel Foucault als Umstellung von der Episteme der Repräsentation zu der der Reflexivität und Bewegung ansetzt. Und als metatheoretischer Erklärungsrahmen bietet sich die von Niklas Luhmann auf der Basis früherer Entwicklungstheoreme ausgearbeitete These von der Umstellung des Differenzierungsmodus von Stratifikation auf Funktion mit seinen Folgen an. Unter dem Druck der Differenzierungsprozesse zerfallen die alten Inklusionsformen der Individualität, wird Individualität durch Exklusion begründet und so mit enormen Lasten für die Identitätsbegründung versehen. - Die zweite Voraussetzung ist, daß in diesem Zusammenhang die Poesie eine besondere Funktion entwickelt, indem sie als Stätte der Formulierung ungelöster Probleme ausdifferenziert wird. In einem von unmittelbarem Entscheidungs- und Handlungsdruck entlasteten Formulierungsraum können neue Begriffe und Begriffsverschiebungen erprobt werden, bis hin zu ihren (auf dem Papier) tödlichen Konsequenzen, können Themen angeschlagen werden, nur damit sie intersubjektiv verfügbar bleiben und nicht der Sprachlosigkeit anheimgegeben werden, können semantische Vorräte angelegt werden.
Um die Aporien des gegen 1800 konzeptionalisierten Liebesprogramms vorstellen zu können, greift Heinrich von Kleist auf literarisch vermittelte Visionserfahrungen zurück. Die visionär im Wechselblick sich ereignende, scheinbar ideale Kommunikation zwischen Käthchen und dem Grafen Wetter vom Strahl wird im entscheidenden Moment unterbrochen. Achim von Arnim hat Kleists „Lust [...] an aller Quälerei seiner poetischen Personen“ beklagt, und Goethe tadelte die „Gewaltsamkeit“ seiner Motive. Die fatale Unterbrechung der Liebesbegegnung führt zu einer permanenten, abwegigen und oftmals verkehrten Wiederholung, zu dem immer wieder unternommenen Versuch Käthchens, den Wiedererkannten zum Wiedererkennen zu bewegen und zu dem nicht weniger permanenten Versuch des Grafen, dies zu vermeiden. Daß Kleist ausgerechnet das Verhör mit seiner im Laufe des 18. Jahrhunderts modernisierten Befragungstechnik aufgreift, um das als wahnhaft eingestufte, extrem sonderbare Verhalten Käthchens mit Mitteln aufklärerischer „Wahrheitserforschung“ zu ergründen, mag als Beleg seiner Vorliebe für bizarre Konstellationen gelten. Denn es war absehbar, daß sich der durch die Vision bedingte „versteckte(n) Sachverhalt“ im Prozeßverfahren mehr verhüllte als enthüllte. Dem entspricht, daß im 1. Akt der Buchfassung von Kleists Käthchen von Heilbronn Elemente des in der Vision Verkündeten in dem Moment auftauchen, als die Unterminierung und Inversion des Verhörs einsetzen.
Heinrich von Kleists Modernität wurde mittlerweile zum Topos der literaturwissenschaftlichen Forschung; übernimmt das Werk dieses Autors doch häufig katalysierende Funktionen. Es konzentriert und extremisiert die ästhetischen wie kulturellen Krisenphänomene seiner Zeit und verweist dadurch mitunter auf narrative Techniken des 20. und 21. Jahrhunderts. Um so mehr verwundert es, daß einem Phänomen in den Texten Heinrich von Kleists bislang kaum Beachtung geschenkt wurde, dem in der ästhetischen Diskussion um 1800 eine Schlüsselposition zuzuweisen und das zu den Kennzeichen der Moderne zu rechnen ist: das Groteske.
Ist nicht ohnehin alles zu Kleist gesagt und erforscht? Aber seine ungeklärten Aufenthalte, seine merkwürdigen Krankheiten, die geheimnisvollen Andeutungen zu Reisen bleiben weiter ebenso rätselhaft wie seine möglicherweise latent vorhandene Homosexualität, seine ewig von Todessehnsucht begleitete Melancholie, sein konspiratives Mitwirken in der napoleonischen Zeit, seine gewaltige und gewaltsame Sprache. Es hat in der Kleist-Rezeption immer wieder zahlreiche Versuche gegeben, das Dunkel auszuleuchten. Seine heute weltberühmten Stücke und Essays bieten scheinbar jedem Geschmack, jeder Zeit, jeder sozialen Befindlichkeit Nahrung für Interpretation und Aneignung. Die Zutaten zu dem in ungefähr zehn Jahren und in konzentrierten Schüben gebildeten Werk eines jungen preußischen Adeligen sind indes dieselben geblieben.