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Der folgende Beitrag handelt nicht eigentlich über Theodor von Neuhoff (1694 bis 1756), jenen Sproß einer westfälischen Adelsfamilie, der sich in den Aufstand der Bevölkerung Korsikas gegen die Republik Genua verwickeln ließ, 1736 als Theodor I. zum König gewählt und gekrönt wurde und, nach Jahren scheiternd, bis kurz vor seinem Tod in einem Londoner Schuldgefängnis leben mußte. Dieser Mann, den so unterschiedliche Literaten wie Voltaire, Karl August Varnhagen von Ense und Theodor Heuss – um nur je einen Namen pro Jahrhundert anzuführen – als einen ›Abenteurer‹ entweder verspottet (Voltaire) oder mit Sympathie gezeichnet haben (Varnhagen und Heuss), hat nicht nur die Historiographen, sondern auch die Romanciers und Librettisten inspiriert. Der folgende Beitrag handelt über eben diese Fiktionen, zu denen die Lebensgeschichte des Barons und Königs schon im 18. Jahrhundert (und übrigens noch jüngst in einem deutschen Roman) Anlaß gegeben hat.1 Er beginnt mit zwei knappen Abschnitten über Neuhoffs fiktionale Existenz vor dem Zugriff von Christian August Vulpius auf den Stoff (Abschnitt 1) und über die Semantik des Abenteuerlichen in Nachschlagewerken des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts (Abschnitt 2). Die Analyse von Theodor König der Korsen unter der im Titel formulierten Fragestellung macht naturgemäß den Hauptteil aus (Abschnitte 3 und 4). Abgeschlossen werden Analyse und Beitrag durch eine Deutung der von Vulpius in den Roman eingefügten Figur des Ewigen Juden (Abschnitt 5).
Daß die Deutung eines Textes meist vor einem anderen Text erfolgt, den der Deutende schon verstanden hat, dieses Phänomen (von der hermeneutischen Konstellation, daß immer auf einen Fragehorizont hin gedeutet wird, klar zu unterscheiden) läßt sich in der schmalen Forschungsgeschichte zu Goethes »Unterhaltungen« darum besonders gut erkennen, weil die »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« selbst bei denen, die sie schätzen, als ein Werk geringeren Gewichts gelten und also der Anlehnung auf jeden Fall bedürfen.
Nähert man sich dem gewaltigen Werk Titan von Jean Paul ganz arglos und unvorbereitet, so begreift man rasch zweierlei: einmal, daß hier in schöner Hemmungslosigkeit das ganze romantische Inventar in Szene gesetzt wird, das bis hin zum Schauerroman hinlänglich bekannt ist, also Geister, Mönche, Geheimnisse, enigmatische Anweisungen, Testamente, Prophezeihungen, Verwechslungen, Liebes- und Todesdramatik usw., zum anderen, daß hier eine schier unerträgliche Spannung zwischen Natur und Künstlichkeit, zwischen Seelenphatos und Theaterwelt aufgebaut wird und daß die Grenzen zwischen diesen Bereichen immer wieder verschwimmen, sich auflösen, ineinanderlaufen, so daß es bis zum Ende hin schwer bleibt, sie voneinander zu scheiden. Das liegt nicht zuletzt an der Substanz, die gleichsam die heimliche ‚Heldin‘ des Romans ist: das Wasser; genauer: das Liquide, die Flüssigkeit, der ganz besondere Saft, der nicht nur das Blut (aber doch auch) als vielmehr die Tränen sind. Es wird viel geweint in diesem Buch, sei’s aus Kummer, sei’s vor Glück, sei‘s vor Lachen, und während man sich noch ratlos all die verweinten Gesichter vorzustellen sucht, die jede Gefühlsbewegung begleiten, versteht man, daß auch innerhalb dieses idealistischen Mediums der Tränen das Gleiche doch nicht dasselbe ist. Im unendlichen (Ver-)Wechselspiel von echten und unechten Doppelgängern, von scheinbaren und wirklichen Blutsverwandten, von himmlischer und irdischer Liebe oder gelebter und fantasierter Freundschaft verändern sich über mehr als 700 Seiten hin die Positionen immer wieder so unerwartet, so dramatisch bis hin zum Tragischen, so komisch bis zur Groteske und so geheimnisvoll einem unsichtbaren Ariadnefaden der inneren Psycho-Logik folgend, daß erst vom Fluchtpunkt der letzten Seite aus das ganze Gemälde überschaubar erscheint und alles in die rechte Perspektive rückt.
Die "Werther"-Allusionen in zwei repräsentativen Dramen des Naturalismus – Arno Holz’ und Johannes Schlafs "Familie Selicke" und Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" – dienen zum einen dazu, Milieu und Protagonisten zu charakterisieren und ihre Prägung durch bürgerliche Moralvorstellungen zu illustrieren. Zum anderen zeigt eine intensive Kontextualisierung der punktuellen Anspielungen, dass die naturalistischen Dramatiker damit programmatisch gegen die bürgerliche Goethe-Verehrung der Zeit und die Dominanz traditioneller Kunstanschauungen opponieren, die ihrer sozial-analytischen Dramatik im Wege stand.
Zwischen Anfang 1787 und Ende 1789 erscheint in der Zeitschrift Thalia Schillers Roman "Der Geisterseher", der zunächst zeigt, wie die nüchterne Vernunft über scheinbar rätselhafte Geschehnisse triumphiert; er kann aber auch Ausgangspunkt sein, um Schiller mit drängenden Fragen zur Relevanz der Geisteswissenschaften zu konfrontieren, zumal dieser als Professor selbst über einen Wissenschaftlertypus nachgedacht hat, der ständig darum bemüht ist (und bemüht sein muss), die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er sein Amt angetreten hat, der – wie es heißt – "beim Eintritt in seine akademische Laufbahn keine wichtigere Angelegenheit" hat, "als die Wissenschaften, die er Brotstudien nennt, von allen übrigen, die den Geist nur als Geist vergnügen, auf das sorgfältigste abzusondern".
Der Begründer der Neuen Phänomenologie, Hermann Schmitz, rückt anläßlich einer Erläuterung des für ihn zentralen Begriffs der "implantierenden Situation" Goethes Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh ... in die Nähe der Haiku-Lyrik. Das von Schmitz nur beiläufig Konstellierte erweist sich bei näherem Hinsehen als aufschlußreich für das Verständnis der Naturlyrik aus Goethes erstem Weimarer Jahrzehnt. Denn es ist in der Tat die Haiku-Tradition, an der wir unseren Blick für manche Eigenheiten der lyrischen Sprache Goethes in jener Werkphase schulen können – einer Werkphase, die ich als "vorkritisch" bezeichne, da sie noch nicht unter dem Einfluß der kritischen Philosophie Kants steht und daher noch frei ist vom didaktisierenden Zug transzendentaler Subjektivität. Der japanische Blick auf den "vorkritischen" Goethe ist nicht nur von philologischem Interesse. Er zeigt uns, sehr viel weiter reichend, die Möglichkeit eines Sprechens über Phänomene, bei dem es kein die Erfahrung begleitendes und in seine Gewalt bringendes "Ich denke" zu geben scheint. ...
Der Autor beschäftigt sich u. a. mit den Fragen: Welchen Stellenwert haben unsere literarischen Bildungsgüter in der Mediengesellschaft? Stehen Goethe und Schiller, das Dioskurenpaar der deutschen Klassik, noch fest auf dem Weimarer Sockel, oder zerbröselt dieser zum Sanierungsfall, en passant besucht auf Klassenfahrten, von denen nur das ins heimische Bücherregal wandert, was leicht faßlich ist?
Das schöne Wort "Weltliteratur" verdanken wir zwar nicht Goethe, wie immer wieder behauptet wird, sondern Wieland. Goethe aber verdanken wir einen Begriff von Weltliteratur, der sich nicht auf den Kanon ihrer Meisterwerke beschränkt, wie es sowohl bei Wieland als auch im heutigen Sprachgebrauch konnotiert wird. Seine Verwendung des Begriffs umfaßt alles, was durch die Beschleunigung von Handel und Verkehr an Gedrucktem grenzüberschreitend Verbreitung findet. Dazu gehört sowohl die mit der Internationalisierung der Märkte unvermeidlich ausufernde Massenware als auch das Pretiose; die "englische Springflut" genauso wie der chinesische Sittenroman des Yü-chiao-li. Das entscheidende Definitionskriterium für Goethes Begriff der Weltliteratur ist die weltweite Rezipierbarkeit. Und was das Bedeutende vom Unbedeutenden unterscheidet, ist dennoch von denselben kommunikativen Voraussetzungen abhängig. ...
Die gegenwärtige Debatte zur Naturästhetik erinnert in manchen Zügen an den vorstehenden Dialog aus Becketts 'Endspiel'. Die Hamms dieser Debatte, sentimentalische Physiozentriker, werden von anthropozentrischen Clovs mit letzten erkenntnistheoretischen Wahrheiten konfrontiert: "Natur als solche existiert nicht." ...
Der Begründer der Neuen Phänomenologie, Hermann Schmitz, rückt anläßlich einer Erläuterung des für ihn zentralen Begriffs der "implantierenden Situation" Goethes Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh ... in die Nähe der Haiku-Lyrik. Das von Schmitz nur beiläufig Konstellierte erweist sich bei näherem Hinsehen als aufschlußreich für das Verständnis der Naturlyrik aus Goethes erstem Weimarer Jahrzehnt. Denn es ist in der Tat die Haiku-Tradition, an der wir unseren Blick für manche Eigenheiten der lyrischen Sprache Goethes in jener Werkphase schulen können – einer Werkphase, die ich als "vorkritisch" bezeichne, da sie noch nicht unter dem Einfluß der kritischen Philosophie Kants steht und daher noch frei ist vom didaktisierenden Zug transzendentaler Subjektivität. Der japanische Blick auf den "vorkritischen" Goethe ist nicht nur von philologischem Interesse. Er zeigt uns, sehr viel weiter reichend, die Möglichkeit eines Sprechens über Phänomene, bei dem es kein die Erfahrung begleitendes und in seine Gewalt bringendes "Ich denke" zu geben scheint. ...
Eine lettische Sage, Die Rose von Turaida, erzählt von dem Mädchen Maija, das sich einem Gärtner versprochen hat und tapfer allen anderen Werbern widersteht. Als sie aber, von einem zudringlichen Ritter mit Hinterlist in eine Waldgrotte gelockt, diesem wehrlos ausgesetzt ist, wahrt sie ihre Integrität durch eine heroische Opferbereitschaft: Im Moment der Überwältigung gibt sie ein rotes Tuch, das sie um den Hals trägt, als Zaubermittel aus, das die Fähigkeit habe, unverwundbar zu machen, und sie fordert den Ritter auf, sich davon zu überzeugen, indem er nur einmal versuchen solle, ihr den Kopf abzuschlagen. Von seiner Machtlüsternheit verführt, tut der Ritter, wie ihm geheißen – und erhält eine traurige Lektion über die Macht der Treue. ...
Goethes Lebens-Erinnerungen
(1996)
Wenige Wochen nach seinem sechzigsten Geburtstag entwirft Goethe ein Schema seiner Biographie. Offenbar hält er die Zeit für gekommen, Rückschau zu halten. Das erscheint verfrüht, wenn man bedenkt, daß er seine Hauptwerke, den Diwan, die Wanderjahre, den Faust II noch vor sich hat. Doch das eine hängt mit dem anderen zusammen: Goethe schreibt seine Lebenserinnerungen nicht obwohl, sondern weil er große Projekte vor sich hat. Er vollzieht die Retrospektive nicht im Interesse einer abschließenden Bilanz, sondern des Aufspürens kreativer Impulse. Im folgenden soll gezeigt werden, daß Goethe dieses Aufspüren schöpferischer Quellen durch eine Erinnerungstechnik vollzieht, die den faktischen Gang des äußeren Lebens in bestimmter Weise transzendiert. Erinnerung der eigenen "Vita" heißt bei ihm: Innewerden der lebendigen Naturproduktivität – nicht im abstrakten Zugriff auf das "große Ganze", sondern durch Bewußtmachung der Bedingtheit des kulturellen Gedächtnisses. ...
Das gelehrte Übermenschentum bekam schon immer einen steifen Nacken, wenn es galt, auf die Niederungen des Gretchenschicksals hinabzublicken. Noch heute wissen die Faustforscher nicht so recht, worin er eigentlich besteht, der "tragische Gedanke". Sie ahnen nur, daß die alten Erklärungen überholungsbedürftig sind – Erklärungen, die noch aus der Zeit des kalten Geschlechterkrieges stammen. Auch in diesem Krieg war Deutschland geteilt. ...
Goethes Medientheorie
(2007)
Medientheoretische Zugänge zu Goethe sind bis heute eher die Ausnahme. Denn Goethe gilt uns als letzter Vertreter der sogenannten "Kunstperiode", die mit seinem Tod ihr Ende gefunden habe – so urteilten schon seine Zeitgenossen Hegel, Heine und Gervinus. Und wenn Goethe heute in ein Verhältnis zu unserer sogenannten "Mediengesellschaft" gebracht wird, so geschieht das vorwiegend in negativer Abgrenzung der Literatur gegen die audiovisuellen Medien. ...
Unter den Werken Goethes sind insbesondere die "Wanderjahre" und der "Faust II" immer wieder als Ratgeber für das rechte Fortschrittsbewußtsein herangezogen worden. So etwa vom ersten deutschen Reichspräsidenten in seinem Plädoyer für einen demokratischen Neubeginn: Nach dem Ersten Weltkrieg beschwor Friedrich Ebert den "Geist von Weimar", der "die großen Gesellschaftsprobleme" so behandeln müsse, wie "Goethe sie im zweiten Teil des Faust und in Wilhelm Meisters Wanderjahren erfaßt" habe; d.h. nach der Devise: "mit klarem Blick und fester Hand ins praktische Leben hineingreifen!" ...
Während Fausts letzte Worte seit je den Kommentierungswillen der Interpreten herausfordern, macht sie die anschließende, das Drama erst abschließende Szene Bergschluchten vergleichsweise sprachlos. Schon das opernhafte Arrangement und die überschwenglichen Reime entziehen sich dem zugreifenden Gedanken, mit dem das Gemüt sich sonst wappnen mag. Zweifellos handelt es sich hier, wo es aus schwer erfindlichen Gründen mit Fausts Unsterblichem himmelan geht, um die abgründigste Szene der ganzen Dichtung. Scheu befiel schon ihren Autor bei der Abfassung vor jenen "übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen", denen gegenüber man sich "sehr leicht im Vagen hätte verlieren können". Daß er diese Scheu überwunden und die Gefahr der Verschwommenheit "durch die scharf umrissenenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen" zu bannen gesucht hat, wurde von den Interpreten jedoch erst recht als Verständnisbarriere erlebt. ...
Paradoxes Gedächtnistheater: Dreitausend Jahre Kulturgeschichte – vom trojanischen Krieg bis zur industriellen Revolution – läßt Goethe in seinem Faust II Revue passieren, doch der Protagonist durchläuft dieses Panorama der Denkwürdigkeiten nicht als Erinnernder, sondern als Vergessender. Fausts "Cursum" durch die "große Welt" (V. 2052ff), der ihn aus der kleinen Welt des ersten Teils herausführt, beginnt mit einem Lethebad, und endet in einem Läuterungsprozeß, der "Alles Vergängliche", mithin die gesamte Memorialkultur des Abendlands, zum bloßen "Gleichnis" (V. 12104f) verflüchtigt. Auch, ja gerade dort, wo Faust sich im kulturellen Gedächtnis zu verewigen sucht – etwa in einer theatralischen Reanimation des antiken Schönheitsideals oder einem grandiosen Landgewinnungsprojekt – erweist er sich um so mehr als selbstvergessen: Kaum hat er die Bühnenexistenz Helenas herbeigezaubert, verpufft sie ihm in einer Explosion, die ihn bewußtlos zurückläßt; und der vermeintliche Entwässerungsgraben, an dem der blinde Kolonisator seine Arbeiter zu schaufeln wähnt, ist in Wirklichkeit nur sein eigenes Grab. Alles Bemühen um Fixierung des eigenen Tuns im Monument befördert es nur um so gründlicher in den Abgrund der Vergessenheit. ...
Faust I
(1996)
"Faust letztes Arrangement zum Druck." Mit dieser knappen Tagebuchnotiz besiegelte G. am 25. April 1806 das Ende einer über 35-jährigen Entstehungsgeschichte, die man eigentlich eine Unvollendungsgeschichte nennen müßte. Daß sie nun doch noch zum Abschluß kam, war auch für den Dichter nicht selbstverständlich. Noch weniger für seinen leidgeprüften Verleger: Cotta fuhr eigens nach Weimar, um das Manuskript abzuholen. Wegen der französischen Besatzung verzögerte sich der Druck um weitere zwei Jahre, dann erst konnte Faust. Eine Tragödie im achten Band der dreizehnbändigen Werkausgabe erscheinen. ...
Im Jahr 1781 initiierte die Herzogin-Mutter Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach das „Journal von Tiefurth“, eine nur handschriftlich vervielfältigte Zeitschrift, die es bis 1784 auf insgesamt 49 Stück brachte. Der Vortrag von Katharina Mommsen zeigt, daß das Journal keineswegs nur dem musisch-literarischen Zeitvertreib der Weimarer Hofgesellschaft diente, sondern gleichzeitig ein raffiniert konzipiertes Instrument der Kulturpolitik war, mit dem sich Anna Amalia gegen das Pamphlet „De la Littérature Allemande“ ihres Onkels, König Friedrich II. von Preußen, wandte. Beide Erscheinungen, die man gewöhnlich nur als beiläufige Fußnoten zur Literaturgeschichte zur Kenntnis genommen hat, werden durch Detektiv-Philologie in einen schlüssigen politischen Zusammenhang gesetzt, der beiden erst ihre rechte Bedeutung gibt.
Mit seinem hymnischen Gedicht ‘Harzreise im Winter’, in dem Goethe auf seine im Dezember 1777 unternommenen „Ritt“ durch den Harz und die Besteigung des verschneiten Brocken rekurriert, hat er zwei für die romantischen Versionen winterlicher Reisen konstitutive Diskurse vorgeprägt: Zum einen ist ihnen die Reflexion über ihre poetische Gestaltung eingeschrieben, zum andern vermittelt die Schilderung frostiger und lebloser Landschaften eine (wie auch immer geartete) krisenhafte Situation und melancholisch-weltschmerzliche Stimmung. Diese wird in Goethes Gedicht mit der Frage nach dem einsamen ‚Menschenfeind’ hervorgerufen, der sich in die Öde zurückgezogen hat. Die ihm gewidmeten Strophen V-VII hat Brahms 1869 in seiner Rhapsodie vertont und mit seiner Komposition die Gewissheit einer Erlösung aus unglückseliger „Selbstsucht“ zum Ausdruck gebracht. Hingegen deutet Goethe nur die Möglichkeit einer Heilung der zur Werther-Zeit grassierenden „Empfindsamkeits-Krankheit“ in den vielschichtigen Bildern seiner ‚Harzreise’ an, mit denen er die Symbolik seiner klassischen Dichtung antizipiert
Im folgenden sollen Aspekte dieses ambivalenten Orientierungsrahmens beleuchtet werden, die für Goethes Beschäftigung mit dem Renaissance-Dichter Torquato Tasso im weiteren Entstehungskontext des gleichnamigen Dramas von 1789 relevant sind. Zunächst wird für die grob skizzierte deutsche Tasso-Rezeption des späteren 18. Jahrhunderts die Bedeutung zweier grundverschiedener Verbindungswege zur französischen Literatur und Philosophie nachgezeichnet, die Goethe selbst reflektiert. Diese Reflexionen verbleiben jedoch im Allgemeinen und geben keinen Aufschluß über konkretere Anknüpfungspunkte für die Gestaltung seines Tasso-Stückes, obwohl eine nähere Verbindung zu Rousseau und seiner Tasso-Rezeption zu vermuten steht. Es gilt daher, für diesen französisch-deutschen Transfer mentalitätsgeschichtliche und intertextuelle Bezüge von den philosophischen und literarischen Werken Rousseaus zu Goethe zu rekonstruieren, und zwar anband einschlägiger Texte aus dem Umkreis der Empfindsamkeit und Empfindsamkeitskritik. Auf diese Weise kann eine latente rezeptiongeschichtliche Linie aufgezeigt werden, die von Rousseaus epochemachendem Briefroman Julie ou la Nouvelle Heloise (1761) über Goethes Werther (1774) zu Torquato Tasso (1789) führt, den Goethe selbst dezidiert als »gesteigerten Werther« bezeichnet. Hierauf aufbauend wird schließlich eine Lesart des Tasso entwickelt, die der bisher für Goethe wenig beachteten Verbindung zur Entzweiungsphilosophie Rousseaus Rechnung trägt und diese Perspektive auf den Horizont der Weimarer Klassik, aber auch auf den simultanen der Romantik bezieht.
Renaissance
(1998)
Zu Lebzeiten Goethes [G.] existierte noch kein Epochenkonzept, wohl aber ein disparates, andelbares Renaissance-Bild in Philosophie, Historiographie und Literatur. Das im Laufe des 18. Jhs. aufkommende historische Denken entwickelte zunächst, bei Bayle und Voltaire, das aufklärerische Konzept der « renaissance des lettres et des arts ». Die neue Kultur der italienischen Renaissance wurde entweder mit der Exilierung Gelehrter beim Fall Konstantinopels 1435 (Katastrophentheorie) oder mit dem Import neuen Wissens durch die Kreuzzüge (Kreuzzugstheorie) erklärt und auf unterschiedliche Art mit der deutschen Reformation in Verbindung gebracht. Vorherrschend war im 18. Jh. ein unreflektiertes Gefühl der Verbundenheit mit der neuzeitlich- fortschrittlichen Kultur der Renaissance. Eine dem Epochenbegriff von Jules Michelet und Jacob Burckhardt (1855/1860) entsprechende, klare Grenzziehung zwischen Spätmittelalter und Renaissance ist noch nicht zu erwarten. „Epoche“ bedeutete zunächst Einschnitt oder Schwelle, noch keine Entität im Sinne des späten Historismus.
Goethe und die Renaissance
(1997)
Goethes Bewußtsein für die Modernität und Zeitbedingtheit des eigenen Ichentwurfes entsteht aus dem Spannungsverhältnis zwischen der Nähe einer als Bildungsprinzip verstandenen, normativen Antike und der Ferne ihres Wiederauflebens am Beginn der neuzeitlichen Periode, in der Goethe nach einem modernen Ichprinzip sucht. Goethe antwortet darauf mit der subjektgeschichtlichen Orientierung seines autobiographisch orientierten Bildungsgedankens. Die Genese von Epochenbegriffen und die Verzeitlichung des Subjektverständnisses erscheinen in seinem Werk aus heutiger Sicht als komplementäre Prozesse.
Bei Goethes Renaissance-Rezeption handelt es sich zunächst um einen facettenreichen und heterogenen Komplex, der so unterschiedliche Phänomene wie die Konjunktur der Dichtung des deutschsprachigen 16. Jahrhunderts im Sturm und Drang, eine positive Machiavelli-Rezeption und die Begeisterung für die Malerei und Architektur des italienischen Cinquecento umfaßt. Goethe entwickelt zwei große Interessenschwerpunkte: zum einen das von ihm selbst eröffnete Genre des historischen Dramas, zum anderen das eigenständige Interesse am italienischen und deutschen 16. Jahrhundert, das sich vor allem in den historiographischen Projekten und den historischen Portraits manifestiert, die nach der Rückkehr aus Italien entstehen. Beide Bereiche erschließen sich Goethe besonders über das intensive Studium von Biographien und Autobiographien. Die konstante Aufmerksamkeit auf Gestalten des spätmittelalterlichen respektive frühneuzeitlichen Zeitraumes ist daher als sein Hauptzugang zu der von uns als Renaissance definierten Epoche zu betrachten.
1932 befindet sich die Weimarer Republik an ihrem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Tiefpunkt. Was ließe sich angesichts des angeschlagenen Selbstbewußtsein der Nation besser instrumentalisieren als der hundertste Todestag des Olympiers Goethe, als die Epiphanie des Unsterblichen, als ein "Ehrenjahr des deutschen Menschen und der deutschen Kultur". Nicht nur in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Goethes Werk und den gigantischen staatlichen Feierlichkeiten, mehr noch in den populären Medien, in allen Radiosendern, in sämtlichen Zeitungen, in allen politischen Lagern, von Nationalsozialisten und Katholiken, von Juden und Kommunisten wird Goethe auf fatale Weise ideologisch vereinnahmt.
Verzeitlichung, das Leitmotiv dieses Buches, ist ein Schlüsselbegriff für das Verständnis unserer kulturhistorischen Situation. Ohne die Ablösung der Zeit vom Raum, ohne die Emanzipation temporaler Prozesse von topischen Bindungen wäre die Fortschrittsdynamik der Moderne nicht durchsetzbar gewesen. Deren Errungenschaften, das Aufbrechen starrer Ordnungsstrukturen, wie auch ihre Kehrseite, das Herausfallen aus lebensweltlichen Orientierungsrahmen, sind Resultate desselben Vorgangs. ...
Die Ursache für die lang anhaltende Aktualität der Winckelmannschen Kunstgeschichte und für ihre Anschlußfähigkeit in bezug auf den Weimarer Klassizismus liegt in der poetisch-emphatischen Qualität des Werks und seinem überragenden Gründungsanspruch. Künstler zu bilden und Menschen ästhetisch zu erziehen ist Winckelmanns Legat an Goethe und Schiller. Dieses wird am Ausgang der Klassikperiode durch Winkelmann und sein Jahrhundert in der prekären Balance zwischen Normativität und Historizität festgeschrieben. Verbürgt wird dieses Gleichgewicht durch das »Anschauen«, das schon Novalis in seinen Fichte-Studien und seiner »poët[ischen] Theorie der Fernröhre« über die Aporien der späten Querelle hinweg als aktive Konstruktion des Gegenstands durch den Betrachter und als epistemologisches Grundproblem der Darstellbarkeit reflektiert.
Der Aufsatz widmet sich einem 1810 in Heinrich von Kleists Berliner Abendblättern erschienenen Distichon mit dem programmatischen Titel „Nothwehr“ und unternimmt es, die in den beiden Versen geschilderte Technik der Täuschung und Verstellung vor dem Hintergrund der französischen Besetzung Preußens zu deuten. Dabei zeigt sich, daß das Notwehr-Distichon nicht nur als Lektüreanweisung zur Entschlüsselung der in den Abendblättern abgedruckten, vermeintlich pro-französischen Nachrichten zu verstehen ist, sondern darüber hinaus eine Denkfigur formuliert, der für Kleists Werke eine gewisse Schlüsselfunktion zukommt.
Der Eckermann-Workshop : die Gespräche mit Goethe als Einübung in die Literatur der Gegenwart
(2007)
Der Aufsatz verfolgt die Thematik des Sehens und des Lichts im Faust und verknüpft sie mit der von der neueren Forschung herausgearbeiteten kulturanthropologischen Dimension der Dichtung. Die These ist, daß Faust sich vom kreatürlichen (vormodernen) Empfangen des Schöpfungslichts in die eigenproduzierte Welt einer künstlichen Helligkeit entfernt, bis er, erblindet, nur noch seine innere Vision der "neuesten Erde" übrigbehält. Von diesem mephistophelisch infizierten neuzeitlichen Prozeß sind die ästhetischen Bilder nicht abzutrennen, die andererseits die verlorene ´gebürtige´ Selbstverständlichkeit des Daseins unter der Voraussetzung neuzeitlicher Autonomie wiederzuholen versuchen. Das Dilemma einer ´ästhetischen Selbstbeschenkung´ des autonomen Subjekts mit seiner Geburt thematisiert Goethes Drama auch durch die Selbstreflexion seines theatralischen Mediums.
Die Funktion des herstellenden Buchhandels im Prozeß der literarischen Kommunikation gewinnt im 18. Jahrhundert eine neue Bedeutung. Die Emanzipation des freien Schriftstellers und das Entstehen eines anonymen bürgerlichen Lesepublikums stehen in enger Korrelation mit der Entwicklung des Buchmarktes zu modernen Handelsformen. Als Folge davon wandeln sich die Beziehungen zwischen Autoren und Verlegern, das Selbstverständnis beider Teile und die Struktur des literarischen Lebens insgesamt. Dies alles ist nicht unbekannt. Gerade in den letzten Jahren sind mehrere zum Teil detaillierte Untersuchungen über Schriftsteller, Publikum und literarischen Markt des 18. Jahrhunderts erschienen. Doch fast alle von ihnen können sich bei der Erforschung des Verlagswesens nur auf eine sehr schmale, somit manchmal verzerrende und seit Jahrzehnten kaum verbreiterte Quellenbasis stützen². Überdies fehlt bisher eine dringend nötige Bibliographie des sehr verstreuten, oft an entlegenem Ort publizierten Materials. Die leicht erreichbaren Sammlungen von Korrespondenzen bedeutender Autoren wie Goethe, Schiller, Herder, Lessing, Klopstock mir ihren Verlegern (soweit deren Briefe überhaupt erhalten sind oder aufgenommen wurden) bieten eine Gipfelwanderung, auf der man die Verhältnisse in den Niederungen nur in sehr groben Umrissen erkennen kann. So undenkbar es wäre, von den genannten Dichtern auf die poetae minores ihrer Zeit pauschale Rückschlüsse zu ziehen – bei Verlegerpersönlichkeiten wie Cotta, Göschen, Nicolai und Reich führen Verallgemeinerungen zu ebenso irrigen Schlußfolgerungen. Um ein unverfälschtes Bild des Buchmarktes und literarischen Lebens zu gewinnen, bedarf es der literatursoziologischen Erforschung der Beziehungen zweit- und drittrangiger Autoren zu kleineren Verlegern. Die Quellenlage freilich ist nicht allzu günstig: oft wurden Verlegerbriefe als unbedeutend aus Dichternachlässen ausgeschieden. Die noch weitgehend unausgewerteten Nachlaßreste Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs (1737-1823) enthalten eine wenngleich lückenhafte Folge solcher Dokumente, die einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren umfassen. An ihnen soll paradigmatisch verdeutlicht werden, welche Fülle bedeutsamer Hinweise auf die Entwicklung des Buchmarktes, des verlegerischen Selbstverständnisses und auch der Rolle des Autors im literarischen Leben diese bisher kaum beachteten Zeugnisse bieten können. Der den Briefen vorausgehende Kommentar kann im engen Rahmen dieses Beitrages auch wesentliche Aspekte nur mit wenigen Sätzen skizzieren.
Die Melancholie bildet im ausgehenden 18. Jahrhundert das Gravitationszentrum zahlreicher moralphilosophischer Debatten und polarisiert die Intellektuellen. „Wie hältst Du’s mit der Melancholie“, lautet die Gretchenfrage unter rationalistischen Aufklärern und deren empfindsamen Gegnern. Der 1774 publizierte Werther-Roman thematisiert mit besonderer Intensität die unterschiedlichen Facetten der Melancholie – er schildert die von ihr ausgehenden Gefährdungen ebenso wie ihre inspirierenden Wirkungen und bringt damit die Melancholie in ihrer ganzen Bandbreite zur Darstellung. Die der Aufklärung verpflichtete Psychopathologie steht neben dem eigenwilligen Melancholiekult der Empfindsamkeit.
Lernet-Holenias „Wahrer Werther“ (1959) ist eine Montage: Der größte Teil des Buches besteht aus einer Wiedergabe der 1774 anonym erschienenen ersten Fassung von Goethes »Leiden des jungen Werthers«. Vorangestellt ist eine aus Heinrich Gloëls Buch »Goethes Wetzlarer Zeit« (1911) kompilierte Einleitung, in der die stofflich-biographischen Hintergründe des Romans aus Goethes Wetzlarer Zeit erzählt werden. Die Montage belegt, dass die Gegenreaktion gegen den „Werther“ auch in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch nicht verstummt ist. Nicht Entgrenzung, nicht Formulierung eines Unbedingtheitswillens – wie im »Werther« –, nein: Ordnung und Begrenzung ist Lernet-Holenias nicht nur poetisches Programm. Die »Brandraketen«, die Goethe noch 1824 im »Werther« fürchtete, bei Lernet-Holenia dürfen sie nicht zünden, sondern werden entschärft.
Dieser Beitrag zu Goethes "Wahlverwandtschaften" geht von der Prämisse aus, dass dem Roman ein ausgeklügeltes System szenischer, bildlicher und narrativer Rahmungen zugrunde liegt. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen die Tableaux vivants, die als in Szene gesetzte Ein-Bildungen Umgruppierungen der auf der Handlungsebene entworfenen Konfigurationen von Handeln, Lieben und Wissen vornehmen. Der Fokus der Argumentation richtet sich auf die selbstreflexive Funktion dieser ‚lebenden Bilder’: in ihnen spiegelt und reflektiert sich der mediale Zuschnitt der Zeichen, aus denen sich die Begehrens- und Wissensordnungen des Romans konstituieren. Obwohl die Tableaux vivants den "erfüllten Augenblick" in der Stillstellung der Zeit zu verwirklichen vorgeben, überantworten sie diesen doch einer Repräsentationslogik der Mortifikation.
Die folgende Darstellung versucht, ästhetische Erziehung am Beispiel eines klassischen Schultextes, nämlich Schillers Wilhelm Tell, unter die Lupe zu nehmen. In gängigen Unterrichtshilfen, aber auch in fachwissenschaftlichen Darstellungen bleibt die Problematik der ästhetischen Erziehung weitgehend ausgeklammert zugunsten entstehungsgeschichtlicher Themen oder historischer und politischer Aspekte. Jedoch ist dieses Drama Schillers gerade für die Behandlung der Frage, worin sich ästhetische Erziehung oder ästhetisches Lernen manifestieren, gut geeignet; und das nicht allein deshalb, weil es zu Schillers theoretischer Abhandlung eine anschauliche Entsprechung liefert, sondern weil die für ästhetische Erziehung paradigmatische Spannung zwischen Denken und Empfinden im Gegensatz zu anderen seiner Dramen, etwa Maria Stuart oder Wallenstein, in diesem seinem letzten Stück an einer einzigen Figur vorgestellt wird.