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Der Roman "Die Wahlverwandtschaften" ist im ersten Ansehen ein Kammerspiel des Sozialen. Dessen Kern bilden die vier Hauptpersonen, umgeben von einer begrenzten Zahl von Nebenfiguren. Um nichts anderes scheint es zu gehen als um die Charaktere und ihre Beziehungen, die Konflikte und Motive, die psychologischen und sozialen Dynamiken. So mag man Ottilie recht geben, wenn sie in ihrem Tagebuch den berühmten Grundsatz von Alexander Pope zitiert: "...das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch" (417). Ist dieses aus bester Aufklärungstradition stammende Prinzip nicht eine treffendere inscriptio des Romans als die chemische Gleichnisrede von den Wahlverwandtschaften, die niemals wenn nicht fälschlich auf die Konstellationen des Romans angewendet werden kann? ...
Goethes Erde zwischen Natur und Geschichte : Erfahrungen von Zeit in der "Italienischen Reise"
(1993)
Meine These ist: Goethe vollzieht die Temporalisierung der Naturgeschichte mit. Er tut es allerdings nicht primär zur Erweiterung des empirischen Wissens von der Erdentstehung. Statt sich infinit in steingraue Zeiten zu verlieren, versucht er, diese in sinnlichen Maßen unvorstellbaren, darum im Kantischen Sinn erhabenen Kognitionen zu verbinden mit der allerdings erfahrbaren Spannung zwischen unvordenklichem Seinsgrund und pathischer Existenz. Dafür setzt er den Granit nicht als wissenschaftliches Objekt, sondern als symbolische Form ein, nicht thesei, sondern physei, und bringt ihn derart zur ästhetischen Evidenz. In dieser dialektischen Spannung spiegelt sich bei Goethe die Konfiguration von Geschichte und Natur, von Zeitlichkeit und Seinsgrund, von Subjektivem und Objektivem.
Das Interessante [...] ist, dass der lyrische Teil des Divans einen kulturhistorisch die Zeit transzendierenden utopischen Schwebezustand zwischen Ost und West inszeniert, welcher in kognitiver Spannung zum Ertrag des im Rahmen des Kolonialismus angehäuften Wissens über den Orient steht. Aus dieser Spannung entsteht die charakteristische Ambivalenz des deutschen Sonderwegs im Zusammenhang mit dem Orientalismus. Damit wird die ambivalente Stellung des deutschen Orientalismus auch am Divan deutlich. Die Spannung im Divan bedeutet, dass das Werk als Modell für Dialog und Verständnis zwischen Orient und Okzident gelesen werden kann, und es kann auch als utopischer Entwurf für den grenzüberwindenden Umgang mit fremden kulturellen Möglichkeiten gedeutet werden. Im Folgenden werden einige Aspekte davon behandelt.
Ich stelle fest – und mich zumindest erstaunte das –, dass es zwischen Literaturwissenschaft und Biotechnologie in einem wirklich zentralen Bereich interdisziplinäre Berührungspunkte gibt. Dass auch die Frage nach dem gelingende oder scheiternde Symbolgebrauch hier hinzugehört, werde ich im Folgenden zu zeigen versuchen. Ich befasse mich zu diesem Zweck mit der Schaffung von künstlichen Menschen in der fiktionalen Literatur und frage, welche Rolle der Symbolgebrauch und die Erzeugung semantischer Information in diesem Vorgang jeweils spielt. Im Speziellen wird es gehen um die Entzifferung von Lebensschrift bei GOETHE, ARNIM und MEYRINK.
Das dunkle Licht der Dichtung : zur Kunst des Erinnerns in Friedrich Hölderlins Hymne "Andenken"
(2005)
Das Gedicht "Die Künstler" eröffnet sozusagen Schillers theoretische Beschäftigung mit ästhetischen Fragestellungen, die ihrerseits die "klassische" Epoche seiner Kunstproduktion einleitet. Gerade wegen dieser Eingangsposition des Gedichtes und auch infolge einer späteren Behauptung von Schiller selbst, der im Nachhinein die ersten zehn Bogen seiner "ästhetischen Briefe" als eine philosophische Weiterführung des Gedichtes bezeichnete, hat man in ihm immer wieder nach Antizipationen der späteren ästhetischen Theorien gesucht. Solche Ermittlungen konnten jedoch höchstens zur Erkenntnis entweder ganz allgemeiner oder umgekehrt bloß punktueller Übereinstimmungen führen, da die Hauptgegenstände von Schillers späterer ästhetischer Reflexion über das Erhabene und die tragische Kunst, über die objektive Autonomie der Kunst und die "ästhetische Erziehung" oder schließlich über Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der Poesie der Antike und der Moderne, im Gedicht nicht thematisiert werden. Darüber hinaus bildet Schillers Studium der Kantschen Philosophie und insbesondere von dessen Kritik der Urteilskraft eine kaum zu überbrückende Wasserscheide, die die im Gedicht Die Künstler enthaltene Kunstauffassung von jener der späteren ästhetischen Überlegungen Schillers trennt, welche ausnahmslos von diesem Werk ausgehen und sich mit ihm auf verschiedene und zunehmend kritischere Art und Weise auseinandersetzen.
Verteufelte Humanität und erstaunliche Modernität, mit diesen beiden Begriffen läßt sich die zentrale und doch prekäre Stellung von Goethes Iphigenie im Rahmen der deutschen Klassik umschreiben. Mit dem Versuch einer Neubegründung des griechischen Humanitätsbegriffs steht Goethe dabei nicht allein. Auf vergleichbare Weise entwirft Novalis in den Hymnen an die Nacht ein modernes Bild des Menschen in Auseinandersetzung mit der griechischen Antike. Daher bietet es sich an, den Humanitätsbegriff in Novalis Hymnendichtung und Goethes Iphigenie zu vergleichen, um zu einer kritischen Bewertung der Versuche zu kommen, dem griechischen Mythos ein neues, versöhnliches Gewand zu geben.
Das Thema des Todes manifestiert sich im Werk Friedrich Schillers auf den ersten Blick vor allem in den Dramen [...] Doch das Drama ist nicht die einzige Gattung, innerhalb derer der Tod von Bedeutung ist. Seit jeher waren kleinere literarische Genres wie Elegie, Epicedium oder Epitaph diesem Thema gewidmet. Die Flut an elegischen und melancholischen Gedichten der Empfindsamkeit, etwa in der englischen "Graveyard"-Poesie oder in der Dichtung des "Göttinger Hain", belegt, daß gerade seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Lyrik in besonderer Weise als geeignet galt, Empfindungen wie Schmerz und Trauer zum Ausdruck zu bringen. Auch für die Werkgeschichte Friedrich Schillers ist es von nicht zu unterschätzender Bedeutung, daß in seiner frühen Lyrik, besonders in den Gedichten, die er in der von ihm selbst herausgegebenen Anthologie auf das Jahr 1782 veröffentlichte, die Todesthematik (in einer von der Empfindsamkeit deutlich abweichenden Weise) eine herausragende Stellung einnimmt – auch wenn Schiller diese Gedichte später als "die wilden Produkte eines jugendlichen Dilettantism" bezeichnete.
Der Blick hinter den Spiegel : Sinnbild und gedankliche Bewegung in Hölderlins "Hälfte des Lebens"
(2004)
Hölderlins Gedicht "Hälfte des Lebens" besitzt jene Überzeugungskraft des Vollkommenen, welche die Interpreten zu der Annahme verleitet, mit profaner Rede sei hier kaum etwas Wesentliches aufzuhellen. Der Innenraum, so scheint es, bleibt ohnedies verschlossen und evident zugleich, und so schickt man die Interpretationssprache selbst ins Dunkle, damit sie dort das Gedicht treffe, oder man konzentriert sich auf Fragen der Form umschweift das Gedicht im biographischen Umraum und versucht, einzelne Bilder punktuell durch Parallelstellen aufzuhellen. Doch Hölderlins Gedichte sind nicht nur wohlgeformter, assoziativer Ausdruck einer "Stimmung", so tiefgründig diese auch sein mag. Sie sind gedanklich kohärente Gebilde. – Für die Interpretation ergibt sich daraus die Aufgabe, den gedanklichen Vorgang zu rekonstruieren. Denn nur in seinem Kontext erhalten die Bilder ihre aktualisierte Bedeutung, werden sie "monosemiert", werden auch die Elemente der Form zu Bedeutungsträgern. Mag der Kern auch "inkommensurabel" oder, wie man neuerdings sagt, "polyvalent" sein, – so ist doch schon viel gewonnen, wenn das Geheimnis (oder auch die "Dialektik") nicht an der falschen Stelle vermutet wird.
Das Thema von Literaturnachahmung und Eigenständigkeit stellt sich für die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts in ganz anderem Maße als für die Barockliteratur. Soziale und wissenschaftliche Gründe - Formierung eines selbstbewußten Bürgertums und Aufstieg der naturwissenschaftlichen Disziplinen - bewirken eine gravierende Verschiebung. Zunächst tritt die Relativierung des Kanons ein. An die Stelle der unbesehen übernommenen Tradition rückt die urteilende Vernunft und der gute Geschmack. Mit der Aufwertung der Natur und des rationalen Denkens verkehrt sich die traditionelle Hierarchie von imitatio und Mimesis. An die Stelle eines "blinden" Nachahmens von Vorbildern tritt die Orientierung an der Vernunftnatur.
Mich interessiert bei meiner Analyse von Herders Länderbildern die Frage, ob Herders eigene Erfahrung sein Urteil beeinflusst und dadurch die tradierte, oft klischeehafte imago revidiert hat. Dies ist in drei Fällen gegeben: Herder kannte aus eigener Anschauung das Baltikum, einen Teil Frankreichs, Holland und Italien. Ich klammere hier das Baltikum aus drei Gründen aus: erstens weil Herders persönliche Bindung sein Urteil beeinflussen konnte, dann weil die Baltikum-Frage in enger Verbindung zur Slawen-Frage steht und weil schließlich dieser Komplex – angesichts der Fülle der vorhandenen Publikationen – sich nicht in einem kurzen Beitrag abhandeln lässt. Holland wird wegen der Unergiebigkeit der Quellenlage ausgespart.
Vorbehalte der Aufklärung und deren Dämonisierung Spinozas gegenüber finden sich immer wieder in der Literatur der Goethezeit. Allen voran beschäftigen sich die Autoren des Sturm und Drang, später dann die jungdeutschen Literaten mit dem revolutionären Impetus spinozistischer Kultur- und Religionskritik. Zum Sprachführer dieses Aufbegehrens gegen die Naturfeindlichkeit der bürgerlichen Kultur wird nicht selten der Teufel erkoren. Den Vergleich zwischen Spinozas Theologie einer göttlichen Natur und den Mythen der Aufklärung leisten in der Zwischenzeit die Frühromantiker, die sich mit ihrer Forderung nach einer Neuen Mythologie gegen den bigotten Vernunftkultus ihrer Zeit wenden. Im Gegenzug pochen sie auf die "Rechte der Individualität", welche sich nur dort behaupten können, "wo vom Höchsten" eben nicht die "Rede" ist.
Skandalöse Eröffnungen bilden den Auftakt der "Marquise von O...." wie des "Marionettentheaters": Eine angesehene Dame sucht vor ihrer Niederkunft per Zeitungsannonce nach dem ihr unbekannten Vater des Kindes; der erste Tänzer der Oper stellt die Behauptung auf, ein Tänzer, der sich ausbilden wolle, könne mancherlei von einer Marionette lernen, um dann im weiteren Verlauf des Gesprächs darzulegen, eine beliebige Figur aus dem Marionettentheater besitze mehr Grazie als die Mehrzahl der Mitglieder seiner Truppe. Beide Male steht ein Verlust zur Debatte, beide Male wird im Verzeichnen einer körperlichen Abwesenheit (das Fehlen des Vaters, der Verlust der jedem Menschen eigenen natürlichen Anmut) die gesellschaftliche Prägung des Körpers zum Thema. Die Rede über den Körper und sein Entzug als – in der Regel ganz wörtlich dargelegtes – Verschwinden in die Abwesenheit greifen ineinander. Das Wissen um die sexuelle Herkunft wird in "Die Marquise von O...." problematisiert, es stellt ein machtloses Wissen dar und kann allein mit den Mitteln der Sprache, im "Geständnis", nicht verifiziert werden. Im "Marionettentheater" steht der Prozeß der kulturellen Normierung des Körpers und der damit verbundenen Ängste zur Debatte. Dieses Wissen ist eng an die Produktion von Macht geknüpft und überschreitet die Sprache, die Kleist immer wieder entlang der Grenze ihrer Unzulänglichkeit darzustellen versucht hat.
Jean Pauls "Schulmeisterlein Wutz" beendet kurz vor seinem Tod mit einer eigenwilligen und ein wenig melancholisch gestimmten Geste die umfangreiche schriftstellerische Arbeit seines Lebens: er beschwört die Erinnerung an die Bilderwelten seiner Kindheit herauf, indem er ein Sortiment von abgelegten Gebrauchsgegenständen und Besitztümern auf dem Krankenbett ausbreitet, welche unter der Treppe im Hausflur (chronologisch geordnet) die Zeit überdauert haben. Neben einem Schreibbuch und der Miniaturausgabe eines Exzerpteheftchens sind eine grüne Kinderhaube dabei, ein Finkenkloben, eine "mit abgegriffenen Goldflitterchen überpichte Kinderpeitsche" und - zur weiteren Vertiefung - ein Kalender mit "abscheulichen", jahreszeitlich gestalteten Vignetten.
Jean Pauls sorgfältig komponierte Sterbeszenen werden zu phantasievollen, anräuhrenden Inszenierungen. In ihnen zeigt sich aber auch die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten im Reich der Traumwelten: Sie folgt den Debatten des 18. Jahrhunderts und weist voraus auf die psychoanalytischen Positionen des 20. Jahrhunderts.
Goethes Beschäftigung mit der Erdgeschichte ist von großen Gesten bestimmt, leidenschaftlicher Parteinahme, ästhetischem Anspruch. Sie wird ihm zu einem grundlegenden Baustein der eigenen "Welterschaffung", deren Widerschein sich im zweiten Teil des "Faust" und in der Figur des Montan in "Wilhelm Meisters Wanderjahren" spiegelt. Aber auch unmittelbare Experimentierlust zeichnet die Geschichte seiner Bemühungen um "das Studium des Inneren der Erde" aus - der Erdforscher begibt sich in die Hexenküche des Laboratoriums, etwa um Versuche zu den "metallischen Vegetationen" des "Arbor dianae" durchzuführen, wo es um die Erzeugung von Kristallbildungen von Metallen auf chemischem Weg geht: sie weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit baum- und pflanzen ähnlichen Formen auf. Seine Arbeit ist erfüllt von der Freude an der Empirie, aber bei allzu langem Verweilen beim Steineschlagen im Feld stellt sich auch bald Langeweile ein.
Zur Wette im Faust
(2004)
Die Inbrunst, mit der die Frage nach dem Ausgang der Wette(n) im Faust früher erörtert wurde, mutet heute fast grotesk an, ist aber immerhin ein Beleg dafür ist, daß man den Text auch in seinem literalen Ablauf ernst nahm. Heute schlägt das Pendel ins Gegenteil hinüber. Der Ausgang scheint uninteressant geworden zu sein. Ob Goethe da nicht unterschätzt wird? Es ist zwar wohltuend, wenn die Fixierung auf den "juristischen" Abschluß der causa Faust und damit der harte Zugriff auf ein "Ergebnis" suspendiert wird. Aber die so gewonnene Unbefangenheit sollte zu einem erneuten Blick auf diese pragmatische "Hauptgräte" des Textes genutzt werden: Die Wette, so sei vorweg behauptet, spielt nicht einfach "so oder so keine Rolle mehr"; Goethe hat vielmehr das Handlungsmuster derart mit Bedeutung versehen, daß es sich am Ende selbst aufhebt und dabei den Sinn des Dramas pointiert.
Die psychohistorische Dimension der Gesellschaftsgeschichte wird zuweilen an den literarischen Niederschlägen deutlicher greifbar als an anderen Quellen. Nicht in dem Sinne, daß Literatur eine wie immer geartete Wirklichkeit einfach darstellt oder "widerspiegelt", sondern in dem Sinn, daß sie auf Probleme, häufig ungelöste Probleme, referiert. Die folgenden Überlegungen operieren mit zwei Voraussetzungen, die eng miteinander verknüpft sind. Erstens: Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist eine begriffsgeschichtliche "Sattelzeit", in der die Dynamik der modernen Welt irreversibel wird und auch die Begriffe in beschleunigten Wandel geraten. Diese Vorstellung von der "Sattelzeit" stammt aus den Vorüberlegungen des Wörterbuchs Geschichtliche Grundbegriffe und wurde durch das Wörterbuch selbst auf eindrucksvolle Weise bestätigt. Wenn man "Begriffe" generell als Instrumente des Begreifens oder Konstruierens von Welt auffaßt, ergeben sich zwanglos Anschlüsse zu weiträumigeren Theorien der Modernisierung. So entspricht die Zäsur zeitlich und auch in einigen inhaltlichen Momenten dem, was Michel Foucault als Umstellung von der Episteme der Repräsentation zu der der Reflexivität und Bewegung ansetzt. Und als metatheoretischer Erklärungsrahmen bietet sich die von Niklas Luhmann auf der Basis früherer Entwicklungstheoreme ausgearbeitete These von der Umstellung des Differenzierungsmodus von Stratifikation auf Funktion mit seinen Folgen an. Unter dem Druck der Differenzierungsprozesse zerfallen die alten Inklusionsformen der Individualität, wird Individualität durch Exklusion begründet und so mit enormen Lasten für die Identitätsbegründung versehen. - Die zweite Voraussetzung ist, daß in diesem Zusammenhang die Poesie eine besondere Funktion entwickelt, indem sie als Stätte der Formulierung ungelöster Probleme ausdifferenziert wird. In einem von unmittelbarem Entscheidungs- und Handlungsdruck entlasteten Formulierungsraum können neue Begriffe und Begriffsverschiebungen erprobt werden, bis hin zu ihren (auf dem Papier) tödlichen Konsequenzen, können Themen angeschlagen werden, nur damit sie intersubjektiv verfügbar bleiben und nicht der Sprachlosigkeit anheimgegeben werden, können semantische Vorräte angelegt werden.
Die Gedichte Goethes [...] sind keine autonomen Einzelgebilde. Das lyrische Gebilde muß in seiner momenthaften Abgeschlossenheit mit anderen Mitteln als eine "Rolle" der Wahrheit kenntlich gemacht werden. Auch ein konsequenter zyklischer Bau wäre dafür ungeeignet, denn auch er ergäbe schließlich ein abgeschlossenes Gebilde. Das probateste Mittel, Kontingenz der Oberfläche und Consensus der "Wahrheit" zu gestalten, ist das lyrische Ensemble.
"During a Thunder-Storm", ein 1821 veröffentlichtes Gedicht über das Verhältnis des Menschen zu Gott von John Bowring (1792-1872), hat unlängst einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es bildete den obligatorischen Aufgabenteil des Übersetzungswettbewerbes Lyrik-Shuttle, der anläßlich des Europäischen Jahrs der Sprachen 2001 gemeinsam vom Lyrik-Kabinett München und dem Münchener Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (Komparatistik) erstmalig veranstaltet wurde. Neben der Gebundenheit durch Metrum und Reim, dem Alter und der anspruchsvollen Wortwahl bestand einer der Auswahlgründe für dieses Gedicht seitens der Organisatoren darin, daß es sich um einen unbekannten Text handelte. Die TeilnehmerInnen des Wettbewerbs sollten bei ihrer Lösung der Übersetzungsaufgabe alternativlos Neuland betreten und nicht – wie bei einem prominenteren Gedicht (bzw. Verfasser) zu erwarten – durch bereits vorliegende Nachdichtungen beeinflußt werden. Vor einhundertsiebzig, ja wohl auch noch vor einhundertfünfzig Jahren konnte "During a Thunder-Storm" dagegen eine weit größere Popularität für sich beanspruchen. Die Geschichte, die damit verbunden ist, liefert ein aufschlußreiches Fallbeispiel aus dem Bereich der internationalen literarischen Kommunikation – der zeitgenössischen Entwicklung, die für den späten Goethe zunehmend ins Zentrum seines Interesses rückte und die er seit dem Ende der 1820er Jahre unter der Losung "Weltliteratur" offensiv propagierte.
Was soll man erwarten,wenn GOETHE, das vielleicht letzte Universalgenie, unter dem Aspekt der Bildung untersucht wird? Scheint doch gerade zu sei-nem Bildungsbegriff mehr als genug geschrieben und gesagt worden zu sein. Hinzu kommen die Bildungsfolgen GOETHEs, die in der Tat unübersehbar sind. Vom Konzept des Bildungsromans und dem kaum von GOETHES Werken (zumindest im Bücherschrank) zu trennenden Bildungsbürger bis hin zu der nicht nur Germanistik-Bibliotheken und ihre Benutzer prägenden Epo-chenbezeichnung Goethezeit. Zwar werden Bildungsroman, Bildungsbürger und Goethezeit immer häufiger unter kritischem Vorzeichen gesehen, doch zeugt diese Diskussionswürdigkeit eher von der Vitalität als von der Über-lebtheit des Bildungsguts GOETHE. Hier sollen nun keine weiteren GOETHE-Büsten nach Weimar (bzw. in bildungsbürgerliche Wohnzimmer) getragen werden, noch wird angestrebt, den Jubilar endgültig als hoffnungslosen Dilettanten und universellen Nichts-könner zu entlarven. Es geht vielmehr darum, in einer Mischung aus unum-wundenem Respekt vor der Vielfältigkeit seiner Tätigkeitsfelder einerseits und nahezu ausschließlicher Neugierde bezüglich der Motivation GOETHES für diese Beschäftigungen andererseits ein kaleidoskopartiges Bild zu entwer-fen. Weder Bildungsgang noch -begriff GOETHEs (JANNIDIS 1996) samt ihrer pädagogischen Nutzbarmachung (z.B. BÖHME 1991) stehen damit im Zent-rum des Interesses, sondern seine je konkrete – und, wie sich zeigen wird, alles andere als unstrukturierte – Bildungspraxis.
Das Anlegen von Agenden gehört zu den grundlegenden Elementen der Arbeits- und Lebensorganisation Goethes. [...] Zwar wird diesen Arbeitslisten dort erst ab dem Jahr 1802 eine eigene (Teil)Rubrik zugestanden, doch findet sich bereits unter dem 1. Januar 1782 der Tagebucheintrag: "Früh verschiednes in Ordnung. Agenda durchgesehn und überlegt." [...] Im Januar 1790 nahm sich Goethe unter anderem die Fertigstellung der Bearbeitungen von Torquato Tasso, Lila, Jery und Bätely sowie Faust für die Schriften vor; daneben finden sich auf der Agenda aber auch Einträge, wie "Bergwerck", "Schloß Bau" oder "Erotica". [...] Auf Anfang 1799 schließlich datiert eine Arbeitsliste Goethes, die mit dem Nebeneinander von Orts- und Personennamen, Titeln literarischer und naturwissenschaftlicher Werke, Sachbegriffen usw. bereits ein typisches Merkmal der späteren, bis zum März 1832 reichenden Agenden aufweist: "Agenda in Jena | vom 7. Jan. an. | Hiller. | Merseburg. | Farbenlehre | Propylaeen. 2. B. 1 Stück. | Faust. | Mahomet | Uber Piccolomini. | Sammler. | Bibliotheck | Tyger."
Das gelähmte Genie : Versuch einer Deutung von Goethes Gedicht Der Adler und die Taube (1772/73)
(2005)
Das im Jahrgang 1774 des Göttinger "Musenalmanachs" erstmals erschienene Gedicht "Der Adler und die Taube" nimmt aufgrund seiner fabelähnlichen Struktur eine Sonderstellung in Goethes Sturm-und-Drang-Lyrik ein. Im Unterschied zu fast allen übrigen Texten aus diesem Zeitraum, die – was Thematik, Aufbau oder Handlungsstruktur angeht – meist von äußerster Komplexität sind, steht hier eine überschaubar wirkende gleichnishafte Situation im Mittel-punkt, die unverkennbar auf Auslegbarkeit hin entworfen ist. Diese Konstellation hat zu einer Reihe von Interpretationen geführt, die allerdings größtenteils unbefriedigend ausgefallen sind. Der vorliegende Beitrag begreift sich deshalb als Versuch, die bisherigen Deutungen kritisch auf ihren Aussagegehalt hin zu überprüfen, um darauf aufbauend einen erweiterten Verstehensansatz vorzustellen.
Bis heute ist die konkrete finanzielle Kalkulation von Humankapital wenig erforscht und entwickelt, besonders in Deutschland, wo Bildung bis in unsere Zeit noch immer als ein "nicht-tarifäres öffentliches Gut" gilt. Um so bemerkenswerter erscheint der frühzeitige Versuch Goethes, sein eigenes Werk- und Autor-"Kapital" über die bloße ökonomische Metaphorik hinaus auch praktisch umzusetzen, und sich dafür manchen innovativen verwertungsstrategischen Schachzug einfallen gelassen zu haben.
In der Hölderlin-Forschung der letzten Jahrzehnte ist immer deutlicher geworden, wie anspielungsreich und wie komplex Hölderlins Werk ist. Staunend, dankbar und mit großem Gewinn nimmt man die überreichen Forschungsbeiträge zur Kenntnis, die die vielfältigen Bezüge von Hölderlins Werk auf die Antike, auf die Bibel, auf theologische und philosophische Traditionen aufdecken. Ein herausragendes Ergebnis dieser differenzierten Kommentierungsarbeit ist die grundlegende These, daß Hölderlins Werk der bedeutendste Beitrag der Literatur um 1800 zu einer poetischen Geschichtshermeneutik und Geschichtsphilosophie sei. Diese geschichtsphilosophische Deutung Hölderlins läßt sich gut mit politisch-revolutionären und utopischen Deutungen verbinden.
Herrschergüte versus Staatsraison : Politik und Empfindsamkeit in Mozarts La Clemenza di Tito
(2004)
Keine Oper Mozarts ist im Laufe ihrer Wirkungs- und Aufführungsgeschichte einem derartigen Wechselbad der Wertungen ausgesetzt gewesen wie "La clemenza di Tito". Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gehörte sie zu seinen meistgerühmten musikdramatischen Werken, zählte an den deutschen Bühnen und seit 1806 - als erste Mozart-Oper überhaupt wurde sie in diesem Jahr in London in Szene gesetzt - auch an den großen europäischen Opernhäusern mehr oder weniger selbstverständlich zum Repertoire. Franz Xaver Niemetschek bezeichnete sie in seiner Biographie von 1798 gar als "die vollendetste Arbeit Mozarts". Auch Goethe brachte der letzten Oper des von ihm unter allen Zeitgenossen am höchsten geschätzten Komponisten besonderes Interesse entgegen.
Goethe und die Musik seiner Mit- und Nachwelt: das ist ein weites, ja eines der weitesten Felder seiner Wirkungsgeschichte. Wohl kein Dichter in der Geschichte der Weltliteratur hat einen vergleichbaren Einfluß auf die Musik gewonnen hat wie er. Fast keiner der großen Komponisten - zumindest in Deutschland - von der Schwelle des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ist ohne ihn ausgekommen, ja in vielen Fällen - es seien nur die Namen Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann, Liszt, Wagner, Brahms, Mahler, Strauss, Busoni oder Webern genannt - stehen die Lektüre und musikalische Auseinandersetzung mit Goethe so sehr im Zentrum ihres ästhetischen Kosmos, daß man beinahe behaupten kann: ohne ihn hätte ihr Werk eine andere geistige, ja vielfach eine andere künstlerische Gestalt. Vor allem eine bestimmte musikalische Gattung, die außerhalb Deutschlands heute mehr denn je als Inbegriff deutscher Kultur gilt, hätte sich ohne ihn niemals in dieser Form und zu dieser Höhe entwikelt: das Kunstlied, "le lied", wie die Franzosen sagen, ein Wort, das niemals im Dictionnaire stünde, hätte es Goethe nicht gegeben, dessen Gedichte seit fast zweihundert Jahren nach den Worten von Friedrich Blume "die bei weitem am häufigsten komponierten Texte der Weltliteratur" sind.
Als Mittel der für eine Reise konstitutiven Fortbewegung hat Goethe verschiedene Vehikel eingesetzt, das Spektrum reicht von den Fußwanderungen über die Fortbewegung zu Pferd, zu Schiff oder in der Kutsche bis zu den Reisen, die Goethe im Geiste unternahm – ausschließlich mit den Flügeln der eigenen Vorstellungskraft oder auch mit der Hilfe von Büchern, inspiriert durch Lektüre. Zu dieser letzten Art Reisen gehört offensichtlich die, um die es im folgenden gehen soll: "Goethes poetische Orientreise". Der Titel bezeichnet Goethes erstaunliche Begegnung mit den Dichtern des Orients in den Jahren von 1814 bis 1819 und das Werk, das daraus entstand. Es geht also um den Westöstlichen Divan, der mindestens in doppelter Hinsicht eine "poetische" Reise ist: eine Reise hin zu der Poesie des Orients und eine Reise mit den Mitteln der Poesie: der Phantasie und der literarischen Gestaltung.
In der Balladenforschung besteht Konsens darüber, daß die Kunstballade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begründet wird. Strittig scheint nur, wem man die Priorität zuweist: Gleim oder nicht doch eher Bürger. Freilich ist die Gattung der Wenn Goethe, um dessen Balladendefinition es im Folgenden genauer gehen soll, die Ballade mit Bezug auf ein dreigliedriges Gattungssystem definiert, dann hat dies auch den skizzierten gattungstheoretischen Zusammenhang. Goethe vereinfacht das Gattungssystem. Er sieht klar, daß die grundlegenden ästhetischen Möglichkeiten, die die Poesie bietet, durch die drei Hauptgattungen hinreichend beschrieben sind. Eine Kategorie "beschreibende bzw. didaktische Gattung" stünde zu diesen ästhetischen Kategorien von Epik, Lyrik, Dramatik geradezu quer! Denn beschreibend und didaktisch kann jede Form von Literatur sein; jede Form kann solche Elemente in sich aufnehmen. Zugleich unterläuft Goethes Definition aber auch das in der Gattungspoetik um 1800 verbreitete triadische Gattungsmodell, das Epik und Lyrik als Gegensätze begreift, die in der Dramatik "aufgehoben" werden. Sie kehrt dieses, auch geschichtsphilosophisch begründete, Modell geradezu um: In der Ballade ist zu einer organischen Einheit zusammengezogen, was sich nun von hier aus differenzieren kann. So ist Goethes Balladendefinition auch ein Versuch, ein ästhetisches Einheitskonzept zu formulieren angesichts fortschreitender kultureller und sozialer Differenzierung.
"Beykommendes wünsche für den Damenkalender geeignet." Mit diesen lapidaren Worten übersandte Goethe seinem Verleger Johann Friedrich Cotta am 8. Juli 1808 die erste Erzählung aus "Wilhelm Meisters Wanderjahre". Der Abdruck des Textes leitete eine sich (mit einer längeren Unterbrechung) über zehn Jahre hinweg erstreckende Veröffentlichungstätigkeit ein, während der Goethe einzelne Partien seines Romans im "Taschenbuch für Damen" vorabdrucken ließ. Diese Vorabdrucke waren Bestandteil einer gezielten Publikationsstrategie zur Gewinnung der Leser. Es soll deshalb hier gezeigt werden, wie Goethe versuchte, durch eine geschickte Lesersteuerung das Interesse an seinem Roman bleibend wachzuhalten. Zugleich gilt es, den Nachweis zu erbringen, daß Goethe die "Wanderjahre" nicht nachträglich aus den Almanachdrucken zusammengestellt, sondern daß er die Beiträge für das "Taschenbuch für Damen" aus dem im Entstehen begriffenen Romankomplex ausgekoppelt und im Hinblick auf dessen baldiges Erscheinen vorab veröffentlicht hat.
In der Geschichte der Literatur ist eine Schaltstelle dafür die Konstituierung der Volkspoesie durch Herder und Goethe in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Diese programmatische Neuorientierung der Literatur in der sog. "Sattelzeit" (Koselleck) der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts berührt sich mit der Frage, ob, wie und wann sich Elite-Kultur und Volks- bzw. neutraler: populäre Kultur differenzieren, insofern sich entsprechende Wahrnehmungsmuster herausbilden. Sie berührt sich auch mit dem komplizierten Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Zuge der allmählichen Durchsetzung des Buchdrucks. Und sie berührt sich schließlich mit der Frage nach der Entstehung moderner Unterhaltungskultur. Um diese Aspekte soll es im Folgenden gehen.
Obwohl Goethes Bedeutung als größter deutscher Dichter - bei aller Polemik gegen ihn zu seiner und späterer Zeit - kaum je umstritten war, wurde ihm doch von den Deutschen nach der Überzeugung Nietzsches kaum je wirklich normative Kraft zugeschrieben. "Goethe that den Deutschen nicht noth, daher sie auch von ihm keinen Gebrauch zu machen wissen", bemerkt er in einem anderen Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches: "Man sehe sich die besten unserer Staatsmänner und Künstler daraufhin an: sie alle haben Goethe nicht zum Erzieher gehabt, - nicht haben können." Er stehe "zu seiner Nation weder im Verhältnis des Lebens noch des Neuseins noch des Veraltens", heißt es wieder im Aphorismus "Giebt es >deutsche Classiker<?". "Nur für Wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die Meisten ist er Nichts, als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst."
Hyperions Melancholie
(2005)
Im Sinne der "lectio difficilior" soll im folgenden die Spur der metaphora audax verfolgt und die These vertreten werden, die Parallelführung zwischen göttlichem und poetischem Schöpfungsakt gelte für die ganze Kosmogonie; sie impliziere damit auch zwei grundsätzlich verschiedene poetische Schaffenstypologien, und Goethe kontrastiere in Wiederfinden über die beiden Schöpfungsphasen der Weltwerdung den einen Typus des dichterischen Schaffensprozesses mitsamt dem ihm innewohnenden Leidensdruck mit seinem Gegentypus, der freilich deutlichen Wunschbildcharakter trage.
Es ist so bemerkenswert wie verständlich, daß kaum umfassendere Arbeiten vorliegen, die versuchen, Goethes Werk von der Aufklärung her zu verstehen. Wie sollte ausgerechnet der Klassiker, der die Epoche um 1800 so maßgeblich geprägt hat, daß wir sie heute Goethezeit nennen, selbst nachhaltig durch die vorausgehende Epoche beeinflußt worden sein? Andererseits: Zwei Programmschriften der deutschen Aufklärung, Lessings Drama "Nathan der Weise" und seine Abhandlung "Die Erziehung des Menschengeschlechts", erscheinen erst 1779 bzw. 1780. Goethe, der Lessing hochgeschätzt hat, ist da gerade 30 Jahre alt. In seiner Analyse moderner Subjektivität "Die Leiden des jungen Werthers" (1774) vergißt Goethe nicht, auf diese innere Verbindung zwischen der Problematik seines Briefromans und der Aufklärung hinzuweisen: Als man Werther nach seinem Selbstmord findet, wird registriert: "Emilia Galotti lag auf dem Pulte aufgeschlagen." Von Goethe selbst liegen jedoch wenige Äußerungen vor, die sich unmittelbar auf die Aufklärungsdebatten beziehen. Die Worte "aufklären" und "Aufklärung" – bei ihm vor allem für die Zeit nach 1800 belegt – gebraucht er meistens in einem sehr bildhaften, nicht theoretisch-reflexiven Sinn.
Bedeutende Situationen, in einer künstlichen Folge : Goethes und Hofmannsthals Singspiele und Opern
(2004)
Goethes Texte zu Singspielen und Opern werden wie seine gesellige Dichtung überhaupt weithin mißachtet, ja kaum auch nur gekannt. Wie aber Stammbuch und Widmungsgedichte – im umgekehrten Verhältnis zu ihrer generellen Geringschätzung – einen quantitativ wie qualitativ gewichtigen Teil von Goethes lyrischem Gesamtwerk ausmachen, so bilden die zwanzig Texte und Entwürfe zu Singspielen und Opern fast ein Fünftel seiner dramatischen Produktion (außer dem Faust). Zu ihrer angemessenen Würdigung kann ein Blick auf die für die Operngeschichte so bedeutungsvollen Libretti Hofmannsthals beitragen, die die schneidende Ablehnung des George-Kreises wie das bezeichnende Stillschweigen in Borchardts "Eranos-Brief" erfahren hatten.
Es [hatte]keineswegs nur ökonomische Gründe, daß Goethe in "Ueber Kunst und Alterthum" fast völlig auf eine bildliche Wiedergabe der behandelten Kunstwerke, damit er sie so „dem Anschaun sinnlich oder auch nur symbolisch näher brächte“, Verzicht leistete, sondern daß er statt solcher (wie auch immer vermittelten) Unmittelbarkeit der ästhetischen Anschauung supplementär auf „Reflexion und Wort“ als (wie George Steiner sagen würde) ‘sekundäres, parasitäres’ Medium der Kunstkritik setzte.
Der Ausdruck "Weltliteratur" ist eine der folgenreichsten Wortprägungen des späten Goethe: hat er sich doch nicht nur in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft und -kritik rasch durchgesetzt, sondern inzwischen auch im Ausland seinen Niederschlag in Titeln wie J. T. Shipleys Dictionary of World Literature oder der im "Maksim-Gorkij-Institut für Weltliteratur" in Moskau entstehenden vielbändigen Istorija vsemirnoj literatury gefunden. Für den damit angestrebten enzyklopädischen Überblick über die verschiedensten Literaturen der Welt hat Goethe selbst in seinen Schriften zur Literatur ein beeindruckendes Beispiel gegeben; denn deren Spannweite reicht von den Literaturen des Nahen und Fernen Ostens über die Klassische Antike und das Mittelalter bis zu den zeitgenössischen europäischen Nationalliteraturen, ja selbst bis zu neugriechischen, serbischen, litauischen und anderen Volksdichtungen.
Goethe (1749 - 1832)
(2003)
Goethe: den "wahren Statthalter des poetischen Geistes auf Erden" hat Novalis ihn einst in der Romantiker-Zeitschrift "Athenäum" genannt. Es dürfte keine Nation geben, in der ein einziger Name zum Synonym für ihre Kultur geworden ist - die wichtigste kulturpolitische Institution Deutschlands trägt bezeichnenderweise seit dem Ende der Weimarer Republik den Namen Goethes -, keine Nation, die ein halbes Jahrhundert ihrer Literaturgeschichte nach einem einzigen Autor: als "Goethezeit" bezeichnet hat. Den Deutschen gilt Goethe mit fast noch größerer Selbstverständlichkeit als Homer den Griechen, Dante den Italienern, Cervantes den Spaniern, Shakespeare (mit langer Verzögerung) den Engländern oder Puschkin den Russen als ihr größter Dichter.
Goethes Opus summum Faust ist - wie keine andere seiner Dichtungen - ein Werk voller Musik, von durchaus realisierbarer, ja oft genug realisierter Bühnenmusik, also von instrumentalen, lied- und kantatenhaften Einlagen über szenische Analogien musikdramatischer Formen bis zu einer imaginären oder symbolischen Welt der Töne. Kaum eine dramatische Dichtung der Weltliteratur ist so sehr von unhörbarer Musik erfüllt und trotz der zahllosen kompositorischen Annäherungsversuche, trotz der deutlich opernhaften Strukturen des zweiten Teils letzten Endes doch so unkomponierbar wie Faust.
In den "Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft" von Brentano und Kleist läßt sich ein wahrnehmungsgeschichtlich signifikanter Bruch nachweisen. Geht Brentano von der romantischen Konzeption der Sehnsucht aus, so stehen hinter dem Text Kleists die Theorie des Erhabenen und die Assoziation des Panoramas. Diese konkurrierenden Positionen gründen in unterschiedlichen Begriffen vom Subjekt.
Folgender Aufsatz basiert auf [...]einem Vortrag "Cornelia und ihre Liebschaft", der am 26. August 1999 im früheren Emmendinger Wohnhaus ("Schlosserhaus") der Schwester Johann Wolfgang Goethes gehalten wurde. Organisation: Kulturamt der Stadt Emmendingen anlässlich des 250. Geburtstags des Dichters. Nach einer kurzen biographischen Übersicht, stehen folgende Überlegungen im Mittelpunkt dieser Arbeit: 1. soll verdeutlicht werden, woher Cornelia Goethes Männer - und Frauenideale stammen 2. wie Cornelia ihre Welt vergeblich nach diesen Idealen zu modellieren versuchte und 3. soll auf eine interessante, von der Forschung bis dahin wenig beachtete weibliche Figur im Leben Cornelias aufmerksam gemacht werden: Sophie von La Roche. Die Erstpublikation enthält einige vergleichende Betrachtungen (auf Portugiesisch) über D. Leonor de Almeida, Marquesa de Alorna, die im selben Jahr wie Cornelia Goethe geboren wurde, den Grafen von Oeynhausen heiratete und in Portugal als Dichterin und Übersetzerin unter dem Namen "Alcipe" Berühmtheit erlangte. Ein Erfolg und eine Art der Selbstverwirklichung, die Goethes Schwester versagt blieben. Während Sophie von La Roches und Alcipes Werke durch Wieland, bzw. Filinto Elysio, Anerkennung fanden und einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurden, blieben Cornelia Goethes schriftstellerische Ambitionen im Versuchsstadium stecken.
Goethes Römische Elegien und Venezianische Epigramme entfalten eine "Poiesis des Körpers" in einem doppelten Sinn. In ihren selbstreflexiven poetologischen Passagen zeigen sie Liebe und Sexualität als die Affektbasis der Hervorbringung von Kunst, die sich selbst erotisch auflädt. Sie entwerfen damit eine Anthropologie des künstlerischen Prozesses in nuce. Damit verzahnt ist die Arbeit an einem neuen Blick auf den weiblichen Körper und an der Konstitution eines spezifischen Geschlechtskörpers des Künstlers selbst. Dieser Vorgang beinhaltet zugleich eine Verschiebung und Umformierung der Sexualität. Diese Aspekte werden in Zusammenhang gebracht 1. mit epochenspezifischen kulturhistorischen Phänomenen (Attitude und Tableau vivant; Blick auf die antiken Statuen; Konjunktur des Pygmalionmythos) 2. mit Goethes ästhetischen Reflexionen. Im Zusammenhang mit der Bestimmung des ambivalenten Verhältnisses von Kunst und Natur entwerfen diese eine Ästhetik des lebendigen Kunstwerks: Kunst wird in Natur verankert und in Analogie zum natürlichen Leben - so die Leitmetaphorik - "gezeugt" und "geboren". Diese Gesichtspunkte umreißen eine Art Biologie der Kunst, in die sich die erotische Dichtung nahtlos einfügt, indem sie Kunstschöpfung auf Sexualität bezieht.
Als literarisches Konzept der zeichenhaften Vergegenwärtigung, das primär am bildlichen Sehen orientiert ist und die intuitive Wahrnehmung betont, erweitert sich die poetische Funktion von Kleidung und deren Accessoires als gängiges Charakterisierungsmittel fiktiver Figuren am Ende des 18. Jahrhunderts indes um poetologische, dichtungssymbolische Aspekte. Das betrifft den Goetheschen Symbolbegriff ebenso wie die von Herder 1776 in einer Rezension über Lavaters Physiognomische Fragmente aufgestellte Forderung nach einer adäquaten Korrespondenz von Körperausdruck und Sprache im Sinne einer poetisch-anschaulichen, "physiognomischen Sprache". Dies geschieht gleichzeitig vor dem Hintergrund eines lebenspraktischen Umgangs mit einer"toilette parlante", das heißt, einer symbolischen Bedeutung tatsächlich getragener Kleidung. [...] Denn die distinktive Kleidungsfunktion höfischer Etikette vervielfältigt sich im Zuge der Abschaffung von Standeskleidung durch die Französische Revolution nun vermehrt um psychologisch-emotionale Aspekte. Auch die zeitgenössische Schriftstellerin und Modeexpertin Caroline de la Motte Fouqué, Verfasserin einer Geschichte der Moden, [...] ist davon nicht unbeeinflußt geblieben. Inwieweit sie diese dichtungssymbolischen Tendenzen aus Empfindsamkeit, Klassik und Romantik in ihre Werke einbringt und umdeutet, soll daher im folgenden mein Thema sein.
Die traditionale Klassifizierung von "Wilhelm Meisters Lehrjahren" als "Bildungsroman" hat im Laufe der Jahre erhebliche Relativierungen erfahren. Goethes Werk, das 1795/96 nach langer Vorarbeit gänzlich umgestaltet in vier Bänden à zwei Bücher beim Verleger Friedrich Unger erschien, gilt inzwischen allenfalls noch als Muster einer "unerfüllten Gattung". Im Großen und Ganzen hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass mit den Lehrjahren ein "moderne[r], komplizierte[r] Künstler- und Zeitroman" vorliegt, dessen Modernität sich allenthalben in einer anspielungsreichen transtextuellen Struktur und einer "Symbiose von objektivem (naivem, klassischem) Verfahren und subjektivem (sentimentalischem, modernem) Gegenstand" manifestiert. Davon unberührt bleibt allerdings eine schon seit der ersten Rezeption Ende des 18. Jahrhunderts zu beobachtende Ambivalenz bei der Bewertung von Wilhelm Meisters Entwicklungsgang innerhalb des Romangeschehens. Bereits in der frühesten Rezeption konzentrierte sich das Für und Wider auf den Erzählschluss des Romans.
Es ist bereits ein Topos der Goethe-Philologie, daß den "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" insgesamt ein eher geringes Interesse zukommt [...].Das Erzählwerk ist [...] zuerst einmal Unterhaltungsliteratur. Einer Rahmenhandlung mit begrenztem, auf jeden Fall überschaubarem Personal sind kleinere Erzählungen eingepaßt, die als Erzählungen in der Erzählung einem durch ein aktuelles Krisengeschehen verunsicherten Hörerpublikum zwecks Zerstreuung dargeboten werden. [...] Die Rede von einem "Nebenwerk" ist auch gattungspoetologisch zutreffend, insofern die Unterhaltungen als kleineres Prosawerk Ende des 18. Jahrhunderts im Schatten des Romans standen. [...] Erst die Romantik und dann die Neuromantik sahen die innovativen Elemente des Erzählwerks, das die hochentwickelte romanische Novellistik in die deutsche Literatur einführte. [...] Dokumentiert werden soll, daß die "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" wohl nicht zuletzt [...] als "Nebenwerk" bis in die aktuelle Gegenwart hinein unter einem gewissen Minderinteresse und einer gelegentlich allzu flüchtigen Behandlung zu leiden haben. In der Folge soll das Erzählwerk selbst im Mittelpunkt stehen: Zuerst wird die Entstehungsgeschichte behandelt, anschließend werden die inhaltliche Dimension und – damit verbunden – das Verhältnis von Rahmenhandlung und Binnenerzählungen in den Blick genommen.