BDSL-Klassifikation: 01.00.00 Allgemeine deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft > 01.08.00 Zu einzelnen Germanisten, Literaturtheoretikern und Essayisten
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Paul Klees 'Angelus Novus' setzt bei Benjamin eine Reflexion in Gang, die unter der Ziffer 9 in seiner Schrift "Über den Begriff der Geschichte" (1940) ihre letzte sprachliche Gestalt findet. Das Denkbild setzt sich zur Zeichnung abseits 'objektiver' Beschreibungen und gängiger Bildkritik ins Verhältnis. Benjamins methodologisches Plädoyer für die Verwandlung von "Dinge[n] und Werke[n] in erregende Schrift" führt zu einer Betrachtungsweise, der es gelingt, das materielle Bild in sinnlicher Präsenz zur Darstellung zu bringen, und zwar wiederum als - dialektisches - Bild, welches den Augenblick, in dem die aktuelle Lektüre mit dem Abstand der Zeit zusammentritt, stillstellt. Diese Kunst der Darstellung soll hier Anlass dafür sein, das Verhältnis von Benjamins Sprache zur Malerei als einem zweiten Medium zu beleuchten.
Realität als Traum
(2013)
Philosophieren heißt überleben lernen. Ursprünglich schien das Gegenteil der Fall. Bei den Stoikern hieß philosophieren sterben lernen. Doch auch sterben lernen hieß natürlich überleben lernen. Die stoische Einübung in den Tod war letztlich eine Entmächtigungsstrategie, mit der die überwältigenden täglichen Ängste in Bann gehalten werden sollten - eine elitäre, weil intellektuelle Strategie, denn sie setzte darauf, - vermeintliche - Fehlurteile zu entlarven. Wer sich vor dem Sterben fürchtet, erliegt, so die Logik dieser Philosophie, nur einer falschen Einschätzung dessen, was wirklich furchtbar und fürchtenswert ist. Hans Blumenberg hat das Ensemble der Mächte, die uns in Furcht schlagen, unter den Sammelbegriff eines "Absolutismus der Wirklichkeit" gebracht. Damit meinte er schon die archaische Situation, in der "der Mensch die Bedingungen seiner Existenz annähernd nicht in der Hand hatte und, was wichtiger ist, schlechthin nicht in seiner Hand glaubte. Er mag sich früher oder später diesen Sachverhalt der Übermächtigkeit des jeweils Anderen durch die Annahme von Übermächten gedeutet haben." Es geht dabei um die Umwandlung von Angst in Furcht, also von einem unspezifischen Ohnmachtsgefühl angesichts der Vielzahl von Bedrohungen, die oft auch nicht versteh- und erklärbar sind, in eine durchschaubare Macht, der das Übel zugeschrieben und die so auch ein Stück weit gebannt werden kann. Auch wenn der Mensch keine Waffe gegen die wirkliche Gefahr in Händen hält, so glaubt er es doch zumindest und wird durch diese Waffe handlungs- und überlebensfähig - ein, wenn man so will, narratives Placebo. Vorgeschobene imaginative Instanzen sind für Blumenberg, was der Lebensangst abhilft.
Als der Positivismus auf allen Fronten, insbesondere derjenigen der 'harten' Wissenschaften wie Physik und Mathematik, in die berühmte Grundlagenkrise geraten war, richtete sich das Interesse der Kulturwissenschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts auf eine Neubestimmung von Natur und Geist. Der geheime Fluchtpunkt, das flüssige Substrat dieser sehr heterogenen intellektuellen Anstrengungen hieß damals häufig: Leben. Im Sog solcher Strömungen gelangte auch Goethes Metamorphosen-Lehre zu neuer Geltung. Nach Jahrzehnten der Latenz und Ridikülisierung durch Haeckels 1866 erschienene 'Generelle Morphologie der Organismen' in Zusammenhang mit Darwin gebracht und deszendenztheoretisch aktualisiert, begann die Metamorphose nach der Jahrhundertwende in zahlreichen anderen und keineswegs nur monistischen Zusammenhängen nachgerade zu wuchern: bei Kulturwissenschaftlern wie Simmel und Cassirer, in der idealistischen Biologie, bei rationalitätskritischen Lebensphilosophen wie Spengler und Klages, unter Kunst- und später Literaturwissenschaftlern wie Worringer, Wölfflin, Walzel, Jolles, Günther Müller, bei Künstlern wie Rilke, Einstein und Kafka. In einem Kapitel mit der Überschrift "Zur ideologischen Morphologie der literarischen Bestiae" nahm Franz Bleis 1922 erschienenes 'Bestiarium der Modernen Literatur' die Morphologie-Mode bereits satirisch-kritisch in den Blick.
Wem es an eigener Erfahrung oder Anschauung mangelt, der kann sich u.a. von Theweleit darüber belehren lassen, dass beim Fußball viel gelitten wird. Auch der Fan ist alles andere als ein 'standhafter Zuschauer ästhetischer Leiden', denn er leidet wahrhaftig und sozusagen leibhaft mit. Darin ist und bleibt, mit Verlaub, auch der moderne Fußball ein so archaisches Phänomen wie, sagen wir, die sophokleische Tragödie, in der auch viel gelitten wird und die auch keine Zuschauer, sondern ausschließlich Ritualteilnehmer kennt. Mit dem Leidensbegriff, den die moderne Kultur ausgebildet hat, hat der Fußball nichts zu tun, eher schon fungiert er als Gegengift für Kulturleidende. Man kann sich kaum vorstellen, dass Adorno von diesem Mittel Gebrauch gemacht haben sollte. O-Ton Youtube: "[M]an muß […] daran erinnern, daß die Menschen, die also auf dem Sportfeld zuschauen und zwar in allen Ländern […], gegen die Fremdgruppe, also gegen das ausländische Team, sich in einer Weise benehmen, die den einfachsten Anforderungen der Gastfreundschaft [...] aufs Krasseste widerspricht." Nun ja; Adorno war eben Theoretiker von "Gruppenverhalten" und als Fußball-Fan ist er so schwer vorstellbar wie als Spieler. Oder doch? Gibt es vielleicht auch bei ihm Rudimente eines Fan-Begehrens, die nicht in der Analyse von Gruppenverhalten aufgehen und theorieimmanente Selbst-Widerstände artikulieren? Dagegen spricht vorläufig die übermächtige Tradition des Leidens an der Kultur, der Adorno ganz ohne Zweifel verhaftet ist, eben weil er ihr Fan nicht sein konnte oder wollte.
Meine Überlegungen auf diesen Seiten drehen sich um ein von Walter Benjamin handbeschriebenes Blatt Papier, an dem sich die "performative" Dimension von Benjamins Poetik paradigmatisch illustrieren lässt. Das Manuskriptblatt (Benjamin-Archiv Ms 931) wurde von Gershom Scholem auf ca. 1935 datiert und gehört thematisch in den Umkreis des etwa zwei Jahre vorher verfassten sprachtheoretischen Essays "Lehre vom Ähnlichen". Dort heißt es, dass die "Einsicht in die Bereiche des 'Ähnlichen' [...] weniger im Aufweis angetroffener Ähnlichkeiten [zu gewinnen sei] als durch die Wiedergabe von Prozessen, die solche Ähnlichkeiten erzeugen" (GS II, 204). In Benjamins Beschriftung von Ms 931 wird dies in die Tat umgesetzt: wir können uns den Schreibprozess, dem sich der handschriftliche Text auf jenem Blatt verdankt, als Selbsterforschung eines solchen Prozesses denken. In dem vorliegenden Versuch scheint jedoch, neben der Erzeugung von Ähnlichkeiten, die "Überwindung des Mythos" (Ms 931) als zweiter Pol am Horizont auf. Zusammen stecken jene beiden Pole ein dialektisches Spannungsfeld ab, in welchem sich sowohl Benjamins Schreibprozess als auch der meinige bewegen, und dessen Gesetzlichkeit das eigentliche Objekt dieser Überlegungen ausmacht. ...
Gegenstand und Betrachtungsweise des Buches sind nicht nur im Hinblick auf die Entstehung inmitten von Kriegszeiten bemerkenswert, insofern darin von jeder zeitgeschichtlichen Bezugnahme abgesehen wird. Das Buch unterscheidet sich auch deutlich von den vorausgegangenen Arbeiten des Staatsrechtlers Schmitt, der den Aufstieg des NS mit seinen rechtswissenschaftlichen Arbeiten unterstützt hatte und noch 1939 die Expansionspolitik des Dritten Reiches mit einer Schrift zur 'Völkerrechtlichen Großraumordnung' zu legitimieren bemüht war, in der er den Staatsbegriff durch den des Volkes ablöst. Schmitts Grundthese in 'Land und Meer', dass nämlich die Weltgeschichte "eine Geschichte des Kampfes von Seemächten gegen Landmächte und von Landmächten gegen Seemächte" sei, ist jedem Tagesbezug enthoben. Sie wird vielmehr durch eine anthropologische Universalie grundiert, die sich bereits im Grundakkord formuliert findet, mit dem das kleine Büchlein einsetzt: "Der Mensch ist ein Landwesen, ein Landtreter." Der ins Literarische hinüberspielende Stil von 'Land und Meer', dessentwegen das Buch von vielen zu Recht in sprachlicher Hinsicht als Schmitts bestes bewertet wird, erklärt sich nicht nur aus der Widmung an seine damals elfjährige Tochter: "Meiner Tochter Anima erzählt." Er verdankt sich auch einer geschichtsphilosophischen Erzählweise. Indem das Buch die europäische Geschichte in menschheitsgeschichtlichen Begriffen deutet, arbeitet es allerdings Schmitts ausdrücklichem Anliegen entgegen, dem Schatten des Mythos zu entkommen. Dieses jedenfalls war die Konsequenz, die er in seinem Hobbes-Buch aus der dort kritisierten Deutung der Staatsform mit Hilfe des Leviathan-Motivs formuliert hatte - wie bereits der Untertitel "Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols" signalisiert.
Ich werde im Folgenden zunächst (1.) die Konstellation des Zukunftswissens der späten 1790er Jahre an den miteinander sowohl korrespondierenden als auch kontrastierenden Positionsbestimmungen Immanuel Kants und Johann Gottfried Herders zur Erkennbarkeit und Darstellbarkeit der Zukunft erläutern. Diese Problematik werde ich dann (2.) anhand von Friedrich Schillers Wallenstein-Trilogie (1798/99) diskutieren. Hier spielt Zukünftigkeit auf verschiedenen Ebenen eine zentrale Rolle – als strategisches Planungswissen, als divinatorische Zeichendeutung, aber auch im Einsatz von Vorausdeutungen als dramaturgisches Mittel –, so dass sich Schillers Drama auf exemplarische Weise futurologisch lesen lässt.
Der moderne Roman ist [...] eine Form vergegenwärtigter Zukunft in dem erläuterten Sinne und stellt sich darin dem traditionalen Erzählen entgegen, das ein Vergegenwärtigen des Vergangenen war. An dieser innerliterarischen Kehrtwende im Narrativen lässt sich ablesen, was bei der Heraufkunft des prognostischen Präsens auf dem Spiel steht. Mit der Entsprechung und der Gegenüberstellung von historischem und prognostischem Präsens hat es darum die zweite Überlegung zu tun. Sie macht in der vergegenwärtigten Zukunft den inneren Zeitstil des modernen Romans aus. Einerseits hat sie es mit einem literarischen Sonderfall des prognostischen Präsens zu tun. Andererseits zeigt sich an diesem besonderen Fall aber auch erst die Bedeutung des prognostischen Präsens für unsere Kultur insgesamt.
Dieser Zusammenhang soll im Folgenden genauer erörtert werden. Den Anfang bildet ein Hinweis auf die Gegenüberstellung von Erzählen und Roman in dem Essay, den Walter Benjamin Nikolaj Leskow gewidmet hat (1). Danach folgt in zwei Schritten eine kurze terminologiegeschichtliche Charakteristik dessen, was hier analog zum 'historischen Präsens' das 'prognostische Präsens' genannt wird (anhand der augustinischen Zeittheorie [2] und im Hinblick auf die probabilistische Philosophie des 19. Jahrhunderts [3]). Am Ende wird die Erörterung noch einmal zur Frage des romanartigen Erzählens und seiner inneren Zeitform der vergegenwärtigten Zukunft zurückkehren (4).
Wenige Phasen in der Kulturgeschichte Deutschlands sind so sehr durch die Präsenz eines prophetischen Diskurses gekennzeichnet gewesen wie das erste Drittel des 20. Jahrhunderts. In der Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und in den Jahren der Weimarer Republik, die einmal die "Krisenjahre der Klassischen Moderne" genannt wurden, taucht eine Vielzahl von selbsternannten Geistersehern, Wunderwirkern und Heilsbringern auf, die auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Zusammenlebens Abhilfe und Erlösung versprechen. Die Allgegenwärtigkeit dieses Versprechens lässt daran zweifeln, dass der von Heilssuche getragene prophetische Diskurs im Rücken einer sich fortentwickelnden Wissenschaftskultur stattgefunden hat. Vielmehr gehört sein Erlösungsversprechen zu den "beherrschenden Gedanken" der damaligen Zeit und bezeugt die prekäre Koexistenz von Wissenschaft einerseits und Prophetie andererseits. "Es sei", schreibt der Philosoph Max Scheler am Ende der Weimarer Republik, "eine beispiellose Sehnsucht nach Führerschaft allüberall lebendig", die eine entsprechende Anzahl von Propheten, Heilanden und Weltverbesserern mit sich bringt. Angesichts dieser geistesgeschichtlichen Lage konnte eine Erinnerungsfeier für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, um ein Beispiel aus dem Jahr 1922 anzuführen, leicht in die Frage münden: "Wann kommt der Retter Deutschlands?" Der Historiker Klaus Schreiner hat diese Frage, die Honoratioren aus einem kleinen Kurort in der Lüneburger Heide aufgeworfen haben, zum Titel einer umfangreichen Studie über den politischen Messianismus in der Weimarer Republik gemacht. [...]
Vom "Messias der Dichtung" soll im Folgenden die Rede sein. Wie sich zeigen wird, ist mit dieser Figur, über deren Besonderheiten und Begrenztheiten hinaus, zugleich das "Verlangen nach einem Messias der starken Hand für das Ganze" verbunden.
Von außen betrachtet erscheint [...] das Thema Shelley und die Prophetie wenig vielversprechend, zumindest was die hebräische und christliche Bibel angeht. Aber gibt es vielleicht so etwas wie einen prophetischen Atheismus, oder eine atheistische Prophetie? Shelley besteht jedenfalls in gänzlich positiven Begriff en auf dem prophetischen Charakter der Dichtung, und es ist unsere Aufgabe, herauszufinden, was er damit gemeint haben könnte. Und auch wenn seine Gedanken über Poesie und Prophetie in vielerlei Hinsicht charakteristisch für seine Zeit sind, sind sie doch vorbereitet worden durch eine Tradition bibelkritischen Denkens, die wir ebenfalls betrachten müssen. Im Folgenden werde ich daher Shelleys Gedanken über Prophetie zwischen Spinoza und Benjamin situieren, auch wenn ich letzteren nur kurz, in einer Art Ausblick, berühren kann.
Wittgenstein hat die Metapher des Gesichts in verschiedenen thematischen Kontexten verwendet. Er hat Gesichter gezeichnet wie das typische Bildgesicht, das gestern noch mit dem Begleitspruch "Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht" durch die Kinderstuben geisterte. Mehrfach hat er den "Hasen-Entenkopf" nachgezeichnet, den Joseph Jastrow, Schüler von Charles Sanders Peirce und Professor für Psychologie in Wisconsin, um die Jahrhundertwende zu Demonstrationszwecken entworfen hatte; diese simple Illustration einer "optical illusion" ist übrigens bedauerlicherweise fast die einzige Spur, die heute noch auf den Autor von Fact and Fable in Psychology (erschienen 1900 in Boston) verweist. Wittgenstein gebrauchte die Metapher des Gesichts häufig, doch nur selten mit jener Beliebigkeit, die charakteristisch ist für gegenwärtige Alltagsrhetorik; meist setzte er sie ein, um die Ambiguität eines Problems – die Spannung zwischen hautnaher, körperlicher Konkretion und begrifflicher Abstraktion – zu konnotieren. Denn Gesichter sind Zeichen am Leib, nah und fern zugleich; sie gelten geradezu als Signaturen einer unverwechselbar individuellen Persönlichkeit – und sind doch zugleich Resultate eines semiotischen Verfahrens, das in der Moderne – von der Physiognomik bis zu den neuesten Technologien der Identifikation – stets systematisch verfeinert wurde.
Gilles Deleuze und Félix Guattari haben ein polemisches Buch geschrieben, das seinen Gegner im Titel benennt: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie. Man fände kein Ende, wenn man allen seinen Bezügen zur Psychoanalyse nachgehen wollte. Als es 1972 herauskommt, wird es als Rück fall hinter deren Errungenschaften kritisiert. André Green zieht einen Vergleich mit Sigmunds Freuds voranalytischen Schriften: [...] Worauf der Vergleich aus ist, ist ein Tertium comparationis, das in der Rolle der Naturwissenschaften für die Theorie des Unbewussten liegt. Obwohl der Anti-Ödipus keinen unmittelbaren Verweis auf die voranalytischen Schriften enthält, scheint der Vergleich gerechtfertigt, weil Deleuze und Guattari in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Biochemie und Molekularbiologie eine neuartige Konzeption des Unbewussten vorschlagen. Green sieht in der Attacke gegen den Ödipus-Komplex einen Angriff auf das Kernstück der Psychoanalyse: Ohne Ödipus gibt es nur mehr einen diffusen Nexus zwischen biologischem und psychischem Geschehen. Während Green oder Leopold Szondi versuchen, neuere biologische Forschungen in die Psychoanalyse zu integrieren, aber hierbei am Ödipus-Komplex festhalten, verfolgen Deleuze und Guattari einen »vagen Monismus«, indem an die Stelle eines durch den ödipalen Konflikt gebildeten Unbewussten ein molekulares Unbewusstes tritt.
Die Zukunft der Psychoanalyse scheint [...] von ihrer naturwissenschaftlichen Begründung abhängig zu sein. Ist dies das, was Freud sich für die Psychoanalyse erhofft hatte? Oder sollte man angesichts dieses Unterfangens nicht vielmehr erneut die Frage nach dem stellen, was weggelassen wurde?
Zur Beantwortung dieser Fragen werde ich zuerst exemplarisch zwei Passagen aus Freuds Werk, die als Beleg dafür dienen, dass Freud seine Hoffnung darin setzte, dass die Psychoanalyse einmal neurowissenschaftlich begründet werden könnte, einer genauen Lektüre unterziehen. In einem zweiten Schritt werde ich untersuchen, inwiefern die Psychoanalyse Freuds ein anderes Verhältnis zur Hoffnung auf Erfüllung von Wünschen unterhält, als die oben vorgestellte Argumentationsfigur impliziert. Dabei gehe ich auf die Funktion des Aufschubs in den Anfängen des Psychischen ein, sowie auf das Konzept der Kastration und auf die Figur der Reihenbildung. Vor diesem Hintergrund werde ich abschließend erneut nach der Bedeutung der Neurowissenschaften für Freud und für die Psychoanalyse fragen.
The nascent field of neuropsychoanalysis positions itself as a putative bridge between two »historically divided disciplines«. In this chapter, we address this attempt to bridge these two disciplines, through considering a particular scientific and conceptual debate that is taking place within this new field. Neuropsychoanalysis is a diverse and loosely defined interdisciplinary field that comprises the efforts of researchers and clinicians within several branches of both psychoanalysis and the neurosciences to construct a shared space of inquiry in which clinical concepts and findings can be correlated with neuronal data and models. While researchers differ in how they conceptualize the specific contours of this shared space, they tend to converge in their desire to figure out how Freudian concepts might be anchored through neurobiological and anatomico-functional investigations.
Frage und Untertitel dieses Aufsatzes gehen auf eine Warnung zurück, die Sigmund Freud in der Schrift Zur Einführung des Narzissmus (1914) formuliert hat. Dort heißt es: "Die Ichidealbildung wird oft zum Schaden des Verständnisses mit der Triebsublimierung verwechselt." [...] Es liegt nahe, von hier aus Idealisierung fälschlich als eine Art Sublimierung aufzufassen, denn was ist erhabener, sublimer, als ein hohes Ideal? Bei Freud bezeichnet Sublimierung im Unterschied zur Idealisierung aber durchweg ein Verfahren, mit dem Trieb umzugehen, ihn umzulenken. Der Einsicht Freuds zufolge ist das Objekt "das variabelste am Triebe", und Sublimierung ist daher nicht der Versuch, den Trieb selbst zu 'veredeln' oder zu 'vergeistigen', sondern sie ist das Unternehmen, den Trieb auf andere, zunehmend nicht-sexuelle, 'höhere' Objekte zu richten. Dem hydraulischen Modell der Triebe zufolge gibt es 'Vergeistigung' oder eben: 'Idealisierung' der Triebe selbst nicht, die nach Freud allenfalls abflauen mit dem Verlust "feuriger Jugendkraft". So ist indirekt eine weitere Klärung erbracht: Da Freud Idealisierung und Sublimierung scharf voneinander sondert, wird auch aus dieser Perspektive klar, dass mit der Sublimierung nicht der Trieb verfeinert bzw. idealisiert wird, sondern Objekte ersetzt werden.
In dem vorliegenden Artikel untersuche ich [den] besonderen Fall von Wechselseitigkeit zwischen dem Körperlichen und dem Sprachlichen in Freuds "Zur Auffassung der Aphasien"; ich unternehme den Versuch zu zeigen, dass gerade in diesem frühen Text einerseits Freuds am äußersten Anfang stehendes und zuweilen noch unausgefeiltes Verhältnis zu Sprache, andererseits seine grundlegende Darstellung des Körpers und dessen Beziehung zum Sprachlichen zu finden sind.
"Zur Auffassung der Aphasien" dient dabei als mein Ausgangspunkt, von dem aus ich für eine entscheidende Verknüpfung zwischen diesem frühen Text und Freuds späterer psychoanalytischer Theorie, insbesondere seinen Arbeiten zum Gegenstand Trauma, argumentiere. Ich glaube, dass die Motivation für Freuds Übergang von seiner frühen neurologisch-physiologischen Phase zur späteren psychoanalytischen Arbeit an eben dieser besonderen Schnittstelle zwischen dem Sprachlichen und dem Körperlichen gefunden werden kann, so wie es sich in seiner Arbeit zur Aphasie niederschlägt.
In der entscheidenden Phase der Schöpfungsgeschichte der Psychoanalyse machte Sigmund Freud seine eigenen Krankheitssymptome, Träume und Fehlleistungen zum Gegenstand seiner wissenschaftlichen Arbeit. Diese »Selbstanalyse«, wie er sie nannte, erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren vor der Jahrhundertwende und gipfelte in der Publikation der »Traumdeutung«. Sie ist bis heute ein irritierender, neuralgischer und faszinierender Punkt in der Geschichte der Psychoanalyse, gewissermaßen das aktuelle Rätsel einer modernen Sphinx, die den Zugang zum Freudschen Königreich bewacht. Doch anders als im Altertum, wo nur Ödipus das Rätsel lösen konnte, werden heute in Bezug auf die Selbstanalyse Freuds verschiedene Lösungen für richtig gehalten. Für den Interpreten, den professionellen Freud-Deuter, verspricht auch kaum etwas einen größeren Lustgewinn, als ausgerechnet ihn, den Schöpfer der Psychoanalyse, nachträglich auf die eigene Couch zu legen und zu analysieren, ja, womöglich in noch tiefere Tiefen vorzustoßen, als es dem Meister selber beschieden war, der bekanntlich die Couch der Kollegen mied und vermutlich das Sitzen am Schreibtisch der horizontalen Lage vorzog.
Der "Ödipuskomplex", eine Wortprägung Freuds, ist eine seelische Dynamik, die in kindlicher Liebe zu den Eltern und in Hass auf die Eltern wurzelt und Einfluss auf die mentale Verfassung des Erwachsenen hat. Ödipus ist eine prominente Figur der griechischen Mythologie und Tragödiendichtung. Freud nimmt in seinem Gesamtwerk weit über zwanzig Mal, besonders ausführlich in der "Traumdeutung", einerseits auf die Sage vom König Ödipus, andererseits auf die Tragödie des Sophokles Bezug. Die Figur des König Ödipus, der mythologische Stoff und die Handlung des Dramas fanden Freuds Interesse, weil die dargestellte Konfliktdynamik ausgeprägte emotionale Beteiligung beim Betrachter mobilisiere. Freud nimmt eine rezeptionstheoretische Perspektive ein. Im Mittelpunkt des Interesses steht für Freud seit der ersten Erwähnung der griechischen Sage am 15.10.1897 in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fliess die emotionale Antwort des Publikums. Das literarische Muster der Ödipus-Geschichte schaffe ein Modell psychischer Organisation, das den Höhepunkt und die entscheidende psychosoziale Herausforderung frühkindlicher Entwicklung bildet. Da es ihm um dieses modellschaffende literarische Muster geht, nicht aber in erster Linie um das individuelle Werk des Sophokles, behandelt er die griechischen Vorbilder in eher lockerer Weise.
Der [...] Beitrag besteht aus drei Teilen, die nur locker miteinander verbunden sind. Der Eindruck des Unzusammenhängenden, der zunächst entstehen mag, wird dadurch gefördert, dass die Abschnitte nicht explizit Bezug aufeinander nehmen und sich in sehr unterschiedlichen Perspektiven der Fragestellung nähern. Sie gehen von der Nahsicht (auf einen Traum) zum Blick auf größere historische Zusammenhänge über. Die Fragestellung jedoch ist allen drei Teilen gemeinsam: Wie steht es um die Natur des Freudschen psychischen Apparates?