BDSL-Klassifikation: 15.00.00 19. Jahrhundert > 15.15.00 Zu einzelnen Autoren
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Im Folgenden liest Thomas Giese Immermanns Essay in der "Europe littéraire" nicht als "kunsthistoriographischen Entwurf " (Karge), sondern als einen literarisch-journalistischen Text und zeigt dabei auf, in welcher Weise der Autor die Kunst der Gegenwart von den Ideen Gotthold Ephraim Lessings und Johann Joachim Winckelmanns herleitet und somit eine Verbindungslinie vom Projekt der Aufklärung zum Hier und Jetzt entwickelt. Von Zeitgenossen war dies als eine deutliche Gegenposition zur St. Lukas-Brüderschaft, die ausschließlich eine christlich-religiös geprägte Inspiration gelten lassen wollte, zu identifizieren. Gleichfalls nimmt Giese in den Blick, wie der Autor Goethes Diktum, Poesie sei "weltliches Evangelium", auf die bildende Kunst überträgt und über Goethe hinaus Ansätze zu einem gesellschaftskritischen Blick antizipiert, der in den Folgejahren bei der Rezeption von Carl Friedrich Lessings "Hussitenbildern" zunehmend Bedeutung gewinnen wird.
Heines Naturästhetik
(2001)
1828 verkündet Heinrich Heine das Ende der Kunstperiode, die er durch Goethes Klassizismus formal und inhaltlich geprägt sieht. Die autonome Kunstauffassung des Weimarers schürt den von Heine erkannten Konflikt zwischen Kunst und Lebenswirklichkeit, der nur gelöst werden kann, wenn sich ein Dichter mit den politischen und sozialen Problemen seiner Gegenwart auseinandersetzt und sich einem harmonischen, ganzheitlichen Weltbild verweigert. Mit seiner Naturästhetik zielt er auf eine Überwindung der traditionellen ästhetischen Normen der Klassik und Romantik, die er als formalistischen Zwang empfindet, verlangt Anschaulichkeit und Natürlichkeit der Sprache, einer Sprache, die sich am Menschen orientiert und nicht an Poetiken, einer Sprache, die Subjektivität und Erfahrungen zuläßt und die auch im sozialen Interesse die Kunst dem Leben, der Wirklichkeit öffnet. Diese Natürlichkeitsideale tiefergehend zu untersuchen - so Heines Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie, seine kulturkritischen Reflexionen im Rahmen einer Kulturgeschichte der Natur und im Rahmen der Natürlichkeitsvorstellungen anderer Schriftsteller, z.B. die der Aufklärer wie Albrecht von Haller -, vielleicht kann dazu die vorliegende Skizze einladen.
Am "Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik", so Wolfgang Preisendanz, bilde sich bei Heine eine Kunstprosa aus, die Einspruch gegen Hegel erhebt und das Fortleben nicht mehr schöner Kunst in Gestalt moderner oder realistischer Kunst verbürgt. Ob Heine seiner Hegel-Bewunderung zum Trotz als Kronzeuge neuer, moderner Kunst gelten darf, sei dahingestellt. Eine Entscheidung darüber hinge nicht zuletzt von dem an ihn angelegten Modernebegriff ab. Der geläufige - mit Heine als Übergang - zeugt jedenfalls 'contre coeur' vom Rechtfertigungszwang, den Hegels Diktum zumindest auf Literarhistoriker immer noch ausübt. Doch nur bedingt kann Heine ihren Absichten dienlich sein. Dass er selbst, trotz gelegentlich ausgedrückter Hoffnungen, denen zufolge "die neue Zeit […] auch eine neue Kunst gebären […], sogar eine neue Technik" hervorbringen würde, doch eher pessimistisch in die Zukunft des "greisen Europa" sah und die Frage zu bejahen geneigt war, die er am Ende des Berichts über die Gemäldeausstellung von sich wies: "Oder hat es überhaupt mit der Kunst und mit der Welt selbst ein trübseliges Ende?", soll im Folgenden als ein Aspekt seiner Formel vom Ende der Kunstperiode erhellt werden.
In der Forschungsliteratur zu Büchners "Lenz" existiert eine klaffende Lücke. Diese wird vom Text selbst evoziert, insofern er sich auf zwei Terrains gleichzeitig bewegt - einem ästhetischen und einem medizinisch-psychiatrischen. Diese wird vom Text aber auch überbrückt, insofern er die Formulierung des Kunstprogramms in einen Krankheitsverlaufs einbettet, und zwar genau in die Phase, in der sich die "übermäßige Empfänglichkeit" des Melancholikers, wie dies auch die zeitgenössische Wissenschaft konstatiert, allmählich "nur für einen Gegenstand und auf einen Punkt concentrirt." Im Falle Lenzens bildet dieser 'eine Punkt' das Religiöse. [...] Mit dieser narrativen Rahmung wirft der Text eine Frage auf, die die Forschung in der Trennung von literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive nicht beantwortet hat: Wie hängen Lenz' Melancholie und das von ihm aufgestellte Kunstprogramm zusammen? Die folgende Analyse zielt dementsprechend auf keine Gesamtinterpretation des Textes. Es geht ihr auch nicht um die in der Forschung bereits mehrfach diskutierte Unterscheidung zwischen der Oberlinschen und der Büchnerschen bzw. der wissenschaftlichen und der literarischen Darstellung eines pathologischen Falles. Die Analyse ist auf das 'Kunstgespräch' fokussiert und erörtert, ohne neuerlich die viel fältigen wie differenten historischen Bezugnahmen der Ästhetik des Büchnerschen Lenz aufzuzeigen, die Frage, welche Implikationen es hat, dass ein Melancholiker über Kunst spricht - und zwar sowohl für die Melancholie als auch für die Kunst.
Heine artikuliert seine kunsttheoretischen Reflexionen in publizistischen Texten in Form von Korrespondenzartikeln und Briefen, Tagesberichten und Notizen. Diese Kleingattungen besitzen die typischen Kennzeichen des literarischen Genres der Moderne: Sie sind offen und temporär und damit Bewegungsliteratur per se. Die Negierung der traditionellen Gattungsgrenzen und die Favorisierung von literarisch-journalistischen Kleinformen, durch welche die Umbruchssituation der Epoche ihren formalen Niederschlag in der Literatur finden soll, verbindet Heine mit den anderen jungdeutschen Autoren. Der Aufschwung der prosaischen Textsorten beruht auf der von ihren Verfassern postulierten Eigenschaft, authentische Dokumente einer verschriftlichten Gegenwart zu sein. Mittelpunkt der revolutionären Gegenwart ist für viele engagierte Autoren die Revolutionsstadt Paris, deren Urbanität und charakteristische Atmosphäre der Beschleunigung eine große Faszination ausüben und den Diskurs über das Phänomen Großstadt definieren. Heine nimmt dabei die Wahrnehmungsperspektive des flanierenden Betrachters ein, der kaleidoskopartig die vielschichtigen Aspekte des großstädtischen Lebens erfasst und reflektiert, um darin die Signatur der Zeit zu entziffern. Diese vor allem visuelle Perzeption in einzelnen Partikeln und Fragmenten sowie die Diskontinuitt der wahrgenommenen Eindrücke determinieren die Kompositionsweise der publizistischen Schriften: Die Flanerie wird zum narrativen Prinzip. Eine solche kompositorische Struktur, in der Einzelelemente selbständige Bedeutung erlangen, lässt sich nicht mehr mit den Parametern der idealistischen Ästhetik und dem Prinzip der geschlossenen Ganzheit erfassen.