Rombach Verlag
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Dichter stellen seit der Antike selbst einen beliebten Gegenstand von Dichtung vor. Einen Höhepunkt erreichte das literarische Interesse an der Künstler- und Dichterpersönlichkeit bekanntlich in der Literatur der Romantik, die das Faszinosum individueller künstlerischer Schaffenskraft selbstreflexiv ins Zentrum der künstlerischen Gestaltung rückte. Nimmt man die deutsche Literatur insgesamt in den Blick, so lassen sich die Dichtergedichte, Dichterdramen, Dichtererzählungen und -romane in ihrer Vielzahl kaum übersehen. Unter ihnen finden sich einige der bekanntesten Werke der deutschen Literatur wie Goethes Drama "Torquato Tasso", Novalis' Künstlerroman "Heinrich von Ofterdingen" und Büchners Erzählung "Lenz". Kein zweiter Schriftsteller aber hat andere Dichter so häufig zum Gegenstand seines Schreibens gemacht wie Robert Walser, dem die Auseinandersetzung mit fremden Autoren zur Grundlage des eigenen literarischen Schaffens wurde.
"Von allen Musikern, die heute schaffen - und manche von ihnen sind mir wahrhaft wert - , hat keiner mir mehr gegeben als Gustav Mahler, - Freude und Ergriffenheit, wie ich sie nur den Größten verdanke". Nein, dieser Satz aus der Mahler-Festschrift zu seinem 50. Geburtstag, 1910, stammt nicht von Hugo von Hofmannsthal, wiewohl auch er einen knappen Artikel beisteuerte. Hofmannsthal hat sich keineswegs enthusiastisch über Mahler geäußert, seine Wahrnehmung hat sich hauptsächlich auf Mahlers Tätigkeit als Direktor der Wiener Hofoper (1897-1907) bezogen, mit dem Komponisten Mahler konnte Hofmannsthal nichts anfangen.
Um dieses Nicht-Verhältnis zwischen Mahler und Hofmannsthal genauer zu perspektivieren, bedarf es wohl einer Kontextuierung, einer Rekonstruktion gemeinsamer Horizonte, zumindest ansatzweise. Und dies im Wissen um die sehr ernst zu nehmende Position von Jens Malte Fischer, der in seiner bedeutenden Mahler-Biographie von 2003 erklärt, "die Situationen Hofmannsthals und des erheblich älteren Mahler sind lebensgeschichtlich und individualpsychologisch grundverschieden", um dann aber doch einzuräumen, "die Sensitivität für Krisenerscheinungen der Zeit und der personalen Existenz" sei "vergleichbar".
Nach Hofmannsthals Konzeption sind einzig die Künste (und im besonderen die nonverbalen) geeignet, das kostbare kulturelle Potential sinnlicher Erfahrung zu stiften oder zu bezeugen. Wahrnehmungen und Gefühle lassen sich im System der Begriffssprache weder festhalten noch kommunizieren, sie lassen sich auch nicht einfach, wie es noch die von protokollierenden 'Registrierapparaten' träumenden Naturalisten glaubten, beschreiben.
Wo es um Musiktheater geht – und Musiktheater ist die ursprünglichste Erscheinungsweise von Theater! –, da geht es immer auch um das unterschiedliche Gewicht der tragenden Elemente: Sprachkunst, Musik, Szene. Im Laufe der Kulturgeschichte hat sich dabei eine fundamentale Umorientierung ergeben, die von dem anfangs herrschenden Vorrang der Sprachkunst zu einem Vorrang der Musik führte. Das verdeutlicht auch August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen "Über dramatische Kunst und Literatur":
In der [griechischen] Tragödie war die Poesie die Hauptsache: alles übrige war nur dazu da, ihr, und zwar in der strengsten Unterordnung zu dienen. In der Oper hingegen ist die Poesie nur Nebensache, Mittel das übrige anzuknüpfen; sie wird unter ihrer Umgebung fast ertränkt, […] Auch schadet es nicht, daß die Oper in einer meist nicht verstandenen Sprache vorgetragen wird: der Text geht ja ohnehin in solcher Musik verloren, […].
Gegenstand des Aufsatzes ist Hugo von Hofmannsthals Komödie "Der Unbestechliche", 1923 in Wien aufgeführt, aber (vom ersten Akt einmal abgesehen) erst 1956 nach der Spielfassung publiziert; ein Stück, das ein (z. B. im "Märchen der 672. Nacht"; ED 1895) bisher lediglich latent mitgeführtes Thema zum ersten Mal manifest macht und in den Vordergrund stellt: die Inversion des Herr/Diener-Verhältnisses. Der eigentliche Herr im Unbestechlichen ist nicht Baron Jaromir, sondern sein (bzw. seiner Mutter) Diener Theodor. Diese Umkehrung der Machtpositionen wird nicht zuletzt deutlich an der Verwendung der im Stück häufig thematisierten neueren Medien wie Telegrafie, Telefon und vor allem - das wird im Zentrum dieses Aufsatzes stehen - Fotografie.
Das unaufhaltsame Vergehen verleiht der Gegenwart noch nicht erhöhten Glanz, vielmehr übersteigt es alles Sinnhaltige, wirkt lähmend und mündet in das Wortlose. Im Entstehungsjahr der Terzinen verzeichnet das Tagebuch am 26. November 1894: "Heute war […] Schnee, dann taute es und war Kot und ein Wind, wie im März. 'Mein Frühling', sagte ich vor mich hin und hatte fast bis zum Weinen das Bewusstsein der Vergänglichkeit des Lebens." Ohne Lebensgeschichtliches ungebührlich hineinzuziehen oder gar für die Dichtung selbst zu überfordern, verdient berücksichtigt zu werden, dass Hofmannsthal wenige Wochen vor Niederschrift dieser Terzinen menschliches Vergehen in überaus persönlicher und angreifender Nähe wahrnehmen musste, den Tod der hochverehrten Josephine von Wertheimstein; diese Erfahrung bestätigte sein beklommenes Ahnen, ließ ihn zutiefst erleiden, "wie viel unendliche Schönheit da für immer weggegangen […] Es war schon […] früher so grauenhaft, sie zu sehen; ihre edle, großartige Schönheit war in etwas Schattenhaftes, Verblichenes, Hilfloses verwandelt […]". Diese Erscheinung, schon zuvor "Symbol für unzählige Dinge", blickt auch aus den Terzinen hervor.
Im Nachlaß Arthur Schnitzlers befinden sich zahlreiche Briefe von verschiedensten Absendern, die mit Schnitzlers handschriftlichem Vermerk "n. b." versehen sind. Die Chiffre steht für: nicht beantworten (oder: nicht beantwortet) und signalisiert in den allermeisten Fällen die Weigerung des Autors, für Fragen zu seinem Werk oder Auskünfte über seine Biographie zur Verfügung zu stehen. Solche Zurückhaltung, solche Diskretion, solche Abschottung muten tatsächlich seltsam an, vergleicht man sie mit den heutigen Usancen des Marketings, der Interviews, Talkshows, home stories, die längst nicht mehr haltmachen vor schreibenden Künstlern.
Umso außergewöhnlicher ist Schnitzlers freundlich-höfliches Antwortschreiben, das hier mitgeteilt wird. Helmut Wiedenbrüg (1908-1988) hatte sich an den Autor gewandt, um von ihm Einzelheiten für seine geplante Doktorarbeit zu erfahren.
Die erste deutschsprachige Monolognovelle war zunächst vor allem ein Medienereignis im Zeitalter beginnender Massenkommunikation. Während, so Arthur Schnitzler rückblickend, die Lesung von "Lieutenant Gustl" Ende November 1900 in der Literarischen Vereinigung in Breslau unaufgeregt zur Kenntnis genommen worden war, wirkte ihr Druck am 25. Dezember in der Weihnachtsbeilage der "Neuen Freien Presse" explosiv. Ein Grund liegt in der besonderen Rolle, die die "Neue Freie Presse" in der Öffentlichkeit spielte. Ihr Feuilleton wie auch die Beilagen zu den hohen Festtagen waren ein Schauplatz öffentlicher Aufmerksamkeit. "In Wien gab es eigentlich nur ein einziges publizistisches Organ hohen Ranges, die 'Neue Freie Presse'", schreibt Stefan Zweig, "die Feiertagsnummern zu Weihnachten und Neujahr stellten mit ihren literarischen Beilagen ganze Bände mit den größten Namen der Zeit dar: Anatole France, Gerhart Hauptmann, Ibsen, Zola, Strindberg und Shaw fanden sich bei dieser Gelegenheit zusammen in diesem Blatte, das für die literarische Orientierung der ganzen Stadt, des ganzen Landes unermeßlich viel getan hat." Es waren also maßgeblich das besondere Datum und der exponierte Ort der bedeutendsten Zeitung der Monarchie, die dem "Lieutenant Gustl" zu einer Prominenz verhalfen, von der aus alles Weitere seinen Ausgang nahm.
Hochmusikalisch, in seiner Jugend aus reinem, reichem Hobby ein Schüler Anton Bruckners, Vater des Schriftstellers Percy Eckstein und Gatte einer Schriftstellerin, die unter dem Pseudonym Sir Galahad bekannt wurde, seinerseits Autor einer leider verschollenen Bruckner-Monographie mit dem schönen Titel "Der Weltgeist an der Orgel", enorm belesen und enorm gebildet, stand der alte Eckstein im Ruf, einfach alles zu wissen. Es gab keine Frage, die er nicht unverzüglich beantworten konnte […] Man raunte sich zu, dass der große Brockhaus, wenn er etwas nicht wusste heimlich aufstand und im alten Eckstein nachsah.
Hofmannsthal war ein Meister darin, seine engsten Freunde seiner Zuneigung zu versichern. Immer von neuem drängte es ihn, ihre Einzigartigkeit, ihre Unersetzbarkeit, die Bedeutung ihrer Existenz für sein eigenes Leben zu beschwören. Eine besondere Stellung kam in dieser Hinsicht Carl J. Burckhardt zu. Der Briefwechsel zwischen den beiden wird von Hofmannsthals nie versiegendem Wunsch rhythmisiert, der Freundschaft eine schicksalhafte Dimension und Perspektive zu geben.
Burckhardts Wesen lässt sich für Hofmannsthal durchschreiten wie ein menschenleeres, lichtes Gebäude mit großer Vergangenheit, das den Wandelnden hegend umgibt, ohne ihn zu beengen, das ihm Ausblicke bietet, aber auch den Schutz starker, unverrückbarer Mauern, so dass er sich angstfrei und ganz nach seinem eigenen Belieben entfalten kann. Ein solcher Raum, ein solcher Mensch, der Zeit und Sorge in stillvergnügte Gegenwart zu überführen vermag, befreit von der Last des Alltags und stiftet gelassene Zufriedenheit.
Damit ist ziemlich genau die Erwartung umrissen, die Hofmannsthal an Burckhardt knüpfte. Eine freundliche, geschützte Umgebung sollte er ihm bieten durch die Stärke und Eigenart seiner Persönlichkeit, aber auch durch taktvolles Arrangement im Hintergrund.
Hofmannsthal 15/2007
(2007)
Von Illusionen und Ehebetten : Brechts Einakter "Die Hochzeit" und Mozarts "Die Hochzeit des Figaro"
(2008)
Es gibt indessen auch eine Anregung zur "Hochzeit", die bisher keine Beachtung fand, scheinbar nicht mit Brechts eigenem 'Dunstkreis' in Verbindung steht und - dies sei vorweggenommen - dennoch in ihn mündet: Mozarts Oper "Die Hochzeit des Figaro". In Kenntnis der Arbeitsweise Brechts hätten schon die verwandten Titel beider Werke Aufmerksamkeit erregen müssen. Zu ergänzen ist in diesem Zusammenhang, dass Brecht selbst während der zweiten Hälfte der 1920er Jahre dafür Sorge trug, dass die Parallele beider Titel noch markanter wurde: In einem Bühnenmanuskript korrigierte er den Titel der "Hochzeit" in "Die Kleinbürgerhochzeit". Dabei sollte es freilich nicht bleiben. Dennoch rücken durch diese Änderung, die parallele Genitiv-Konstruktion, "Die Kleinbürgerhochzeit" und "Figaros Hochzeit", wie die Mozart-Oper ja oft auch betitelt wird, noch enger aneinander. Es sind Parallelen, die gerade in dieser Schaffensperiode Brechts keine Seltenheit sind und stets auf Weiterführendes deuten.
Der literarische Expressionismus entwickelte vielfältige Formen biographischer Darstellungen. Innerhalb dieses speziellen Gattungsbereichs ist die Vielzahl von Texten über den Berliner Frühexpressionisten Georg Heym besonders auffällig. Seine Freunde, vor allem aus dem Umkreis des "Neuen Clubs", erzählten - auch mehrere Jahrzehnte nach seinem Tod im Januar 1912 - immer wieder von ihm. Beweist dies jene dämonische Anziehungskraft eines Genies, die etwa Friedrich Schulze-Maizier in seinem Heym-Essay beschwor? Eine andere Deutung scheint mir möglich zu sein: Wie einige neuere literatursoziologisch fundierte Studien beleuchtet haben, brauchte der Expressionismus als eine subkulturelle Bewegung eine "alternative Absicherung in Anschluss an Organisationen oder individuelle Leitbilder", um sich vom herkömmlichen, repräsentativen Kunstsystem abzugrenzen. Die emsige und nachhaltige Erzähltätigkeit der Autoren des "Neuen Clubs" in Bezug auf Heym erscheint vor diesem Hintergrund als Bemühung um ein 'Leitbild', auf das diese Künstlergruppe ihre kollektive Identität begründen kann. Folglich ist die aus jenem frühexpressionistischen Literaturkreis überlieferte Figur von Heym in hohem Maß eine symbolische bzw. programmatisch inszenierte.
Als Eduard von Keyserling am 28. September 1918 stirbt, zeitgleich mit dem Zusammenbruch des Wilhelminischen Reiches und dem Untergang der deutschen Adelshäuser im Baltikum, seiner eigentlichen Erzählwelt, hinterlässt er ein literarisches Werk von etwas über einem Duzend an prominenter Stelle veröffentlichten Erzählungen und kürzeren Romanen, fünf Dramen und eine immer noch nicht genau bestimmte Zahl von schmaleren Gelegenheitsarbeiten. Auf Anfrage der "Frankfurter Zeitung" widmet Thomas Mann dem kurländischen Grafen einen rühmenden, doch schlecht informierten Nachruf. Auf der einen Seite grenzt er seinen Mitautor im S. Fischer Verlag vom "flimmernden Impressionismus" eines Herman Bang ab, der mehr "Artist und Exzentrik" sei. Auf der anderen Seite stellt er den Verstorbenen in eine Reihe mit Theodor Fontane und Iwan Turgenjew, dem Vorläufer und dem Vollender des Impressionismus. Mit der Nähe zum Mark-Brandenburger Fontane und zum Russen Turgenjew, die beide zu Manns literarischen Leitfiguren zählen, sowie dem Abstand zum Dänen Bang weist er Keyserling eine Schlüsselstellung unter den Impressionisten des Ostseeraums zu, an der sich nicht zuletzt die "Europäisierung der deutschen Prosa seit 1900" ablesen lasse.
"Und so geht er langsam aus seinem Garten, in die Nacht: ein Besiegter. Einer, der zu früh gekommen ist, viel zu früh" (81/452). So endet Rilkes 1903 in einer Sammlung von Novellen erstmals veröffentlichte, bis heute nur selten eingehender gewürdigte Erzählung "Der Totengräber". Aufmerksamkeit verdient zunächst schon ihr Erscheinungsort, das auf zwei Bände angelegte, im "Verlag der k.u.k. Hof-Buchdruckerei und Hof-Verlags-Buchhandlung Carl Fromme" herausgebrachte "Österreichische Novellenbuch".
Die Bezüge Mahlers zu Schubert scheinen auch ohne genaue Prüfung sinnfällig zu sein: Eine Fülle von Beispielen könnte, dies die wohl zuverlässige Annahme, Nähen und auch direkte Bezugnahmen sowie Filiationen belegen. Auf der Suche nach Nachweisen stößt man bald auf den "Lindenbaum", der in der "Winterreise" Müllers und Schuberts einem der wohl vollendetsten Lieder seinen Namen gegeben hat und an eben diesen Lindenbaum, den Gustav Mahler in seinem 4. Gesellenlied "Die zwei blauen Augen" an exponierter Stelle beruft. Die forschungsgestützte Suche nach konkreten Belegen für die Bezugnahme Mahlers auf Schubert führt zu - so scheint es zumindest - reichen Ergebnissen: Das Scherzo der 1. Symphonie erinnert sicherlich an Schubert, aber auch an Bruckner: Darauf hat Jens Malte Fischer ebenso hingewiesen wie auf die generelle Nähe der Mahlerschen Gesellenlieder zu den beiden großen Liederzyklen Schuberts und Wilhelm Müllers, ja noch im letzten Kindertotenlied Mahlers nimmt Jens Malte Fischer die Vorbildhaftigkeit des abschließenden Liedes aus der "Schönen Müllerin" "Des Baches Wiegenlied" wahr.
Ein Ballett zu schreiben sei etwas vom Schwierigsten, das man sich vorstellen könne, erklärt Theophile Gautier in einem Artikel für die Zeitung "La Presse" vom 4. Februar 1839, und er präzisiert: "Il n'est pas aisé d'écrire pour les jambes". Trotzdem geglückt ist offenbar das romantische Handlungsballett "Giselle", zu dem der Dichter und Feuilletonist gemeinsam mit Vernoy de Saint-Georges und Jean Coralli das Libretto verfaßt hat. Das zweiaktige Tanzstück ist jedenfalls seit seiner erfolgreichen Uraufführung 1841 bis heute nicht aus dem Repertoire der klassischen Kompanien verschwunden und hat zahlreiche Reinszenierungen erfahren.
Daß sich auch Hugo von Hofmannsthal für die (französische) Ballettwelt zu Zeiten Gautiers interessiert hat, belegt unter anderem der Text "Prima Ballerina. Ein Tag aus dem Leben einer Tänzerin" von 1917. Die Handlung dieser Tanzdichtung ist um etwa 1860 anzusiedeln. Im Gegensatz zu Gautiers Texten für und vor allem über das Ballett, die dieses maßgeblich (mit-)geprägt hatten, kommt Hofmannsthals Schriften zur bewegt-theatralen Kunstform in zweifacher Weise ein Randstatus zu. Erstens bilden in seinem OEuvre die Ballettexte eher einen marginalen Bereich, zweitens bewegt sich Hofmannsthal mit seinen Versuchen in diesem Genre als Autor am Rand des literarischen Kanons.
Aus Zeitgründen kommt es im Vorspiel zu Hofmannsthals "Ariadne auf Naxos" zu einer drastischen Maßnahme. In der Garderobe des Theaters, bei den Vorbereitungen zu einer festlichen Soiree im Haus des reichsten Mannes von Wien, haben sich die anwesenden Künstler einer unerwarteten Anordnung des Gastgebers zu fügen. Das Abendprogramm, bestehend aus der Opera seria "Ariadne" und der italienischen Buffo-Posse "Die ungetreue Zerbinetta und ihre Liebhaber" muß gekürzt, d.h. seine Abwickelung beschleunigt werden, ohne daß der Veranstalter auf einen der beiden Programmpunkte verzichten müßte. Auf seinen Wunsch hin werden die zwei musikalischen Darbietungen nicht hintereinander, sondern gleichzeitig aufgeführt:
"[…] es ist nun einmal der Wille meines gnädigen Herrn, die beiden Stücke, das lustige und das traurige, mit allen Personen und der richtigen Musik, so wie er sie bestellt und bezahlt hat, gleichzeitig auf seiner Bühne serviert zu bekommen."
Die Komödie wie die Tragödie haben sich in den gemeinsamen Raum einer, wie es mehrfach heißt, "wüste[n] Insel" und in dieselbe Zeit zu finden. Dieser Gleichzeitigkeitsbefehl ist mehr als nur die Willkür eines ungebildeten Kaufmanns, er bedeutet den Kollaps traditioneller Gattungsordnungen. Die hier nun folgenden Überlegungen möchten die experimentellen Bedingungen aufzeigen, die ihn fällig und möglich machen und zugleich die Folgen benennen, die aus der dekretorischen Aufhebung gattungspoetologischer Unterschiede resultieren.
Ein Brief Heinrich Zimmers über den Zustand Europas und das Exil / mitgeteilt von Martin Stern
(2008)
Heinrich Zimmer, Professor für Indologie an der Universität Heidelberg und seit 1928 Schwiegersohn Hugo von Hofmannsthals, verlor im Zuge der "Arisierung" 1938 seinen Lehrstuhl und emigrierte zusammen mit seiner Gattin Christiane, seinen Kindern und der Witwe Hofmannsthals zunächst nach England, wo er 1939/40 am Balliol College der Oxford University unterrichtete, bevor die Familie 1942 nach New York übersiedelte. Von den Erlebnissen im Exil und den damit verbundenen geschichtsphilosophischen und persönlichen Überlegungen berichtet der folgende Brief. Er ist an Professor Edgar Salin gerichtet, der von 1927 bis 1962 an der Universität Basel Sozial- und Staatswissenschaften lehrte und mit Heinrich Zimmer befreundet war.