Passagen Verlag
Refine
Year of publication
Document Type
- Article (464)
- Part of Periodical (18)
- Periodical (1)
Language
- German (483)
Is part of the Bibliography
- no (483)
Keywords
- Literatur (53)
- Ästhetik (38)
- Rezeption (30)
- Literaturwissenschaft (23)
- Literaturtheorie (22)
- Erzähltechnik (21)
- Kultur (21)
- Deutsch (20)
- Kulturwissenschaften (20)
- Kulturphilosophie (18)
Im Folgenden möchte ich dem Zusammenhang des Vielen als einer sozialen Frage nachgehen. Mit dem sozialhistorischen Wandel im 18. Jahrhundert, der langfristig auf eine bürgerliche Gesellschaft hinausläuft, ändern sich auch die zwischenmenschlichen Verbindlichkeitsformen. Die Literatur um 1800 verhandelt diese Veränderungen intensiv - exemplarisch und hervorgehoben gilt dies für die Frühromantik. Ich begreife die Frühromantik zugleich als eine literaturhistorische wie auch als eine soziale und soziologische Erscheinung. Letzteres ernst zu nehmen heißt, sie einerseits als ein "Phänomen gesellschaftlicher Gruppenbildung" in einer sozialhistorischen Umbruchsphase zu verorten, andererseits ihren Beitrag zu einer modernen Theorie des Sozialen herauszustellen. Hieran schließt mein Befund an, dass die Frühromantik gleichzeitig ein modernes literarisches und ein soziales Formenwissen ausbildet. In der Frühromantik, so lautet die These, sind Poetik und Sozialität untrennbar verschränkt - eine Verschränkung, für die ich den Begriff der Soziopoetik vorschlage. These und Begriff werden am Zusammenspiel von Fragment und Geselligkeit entfaltet. Es geht um die Vergleichbarkeit der Strukturen von Fragmentpoetik und sozialer Assoziation, nämlich um Formen des Bündelns und der Bezugnahme auf andere/s. Im Fall von Fragmenten kann man gattungspoetologisch mit Blick auf die organisierende Kraft und Bindekunst der Text-Vielheiten, die im Zeichen der experimentellen Sozialität steht, von einer poetischen Vergesellschaftung von kurzen Einzeltexten sprechen: von geselligen Texten. Während Kurzgattungen um 1800, insbesondere der Aphorismus, bislang im Rahmen einer "explorative[n] Wissenspoetik" gelesen wurden, wird hier vorgeschlagen, den Experimentcharakter der Gattungen epistemologisch und sozial zu verstehen. Ausgehend von der Beziehung zwischen Fragment und frühromantischer Geselligkeit widmet sich der Beitrag der poetischen Verfasstheit von Sozialität. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht Friedrich Schleiermachers "Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" (1799). Schleiermachers Geselligkeitsanalyse interessiert als Modelltext, der ein doppeltes soziopoetisches Wissen entfaltet: Wichtigkeit der Äußerungsform zum einen, Gemachtheit sozialer Ordnung zum anderen. Leitend ist die Problemstellung, wie (soziale) Vielheit um 1800 organisiert ist. Diese Frage wird entlang dreier Parameter verfolgt: Ein- und Ausschluss, interne Organisation, Kunstwerkcharakter und Zeitlichkeit sozialer Ordnungen. Zunächst wird in einem begrifflichen und historischen Vorlauf die 'Assoziation' als ein Schlüsselphänomen der Epoche und die Frühromantik als soziales Versuchslabor beschrieben.
Wenn augenblicklich Kunst, so die These, vom ehemals hehren Podest im Idealfall origineller, zumindest aber per Gesetz unter der Vorstellung der Urheberschaft verankerter und daher sakrosankter individueller Eigenleistung zum jederzeit und von jedermann bearbeitbaren Allgemeingut wird, passiert etwas, was es so wohl noch nicht gab, und auf das wiederum Kunst selbst reagiert oder nämlich allein schon aus Gründen der Selbsterhaltung zu reagieren hat. Kunst ist, wenn man so will, gleichsam demokratisiertes Allgemeingut, wird also nicht mehr als autark vorliegendes Artefakt erkannt, welches kompromisslos für sich steht und notwendigerweise, um Kunst zu sein, für sich stehen muss. Daran gekoppelt ist eine neue Selbstverständlichkeit, mit welcher gewisse, noch zu diskutierende Ansprüche an kulturelle Erzeugnisse gestellt, gar rigoros gefordert und diese Forderungen zudem von Seiten des vormals schweigenden Publikums selbst durchgesetzt werden. Beides, die Aktionen des vordem nur rezipierenden Publikums und jetzigen (Teil-)Akteurs einerseits, die Reaktion der Kunstschaffenden andererseits, wird an dieser Stelle nachvollzogen, analysiert und eingeordnet.
Neben dem hervorgehobenen Profil einer Epoche, das nicht zuletzt anhand öffentlicher Gedenkfiguren und regelmäßig gefeierter Geistesheroen entsteht, gibt es so etwas wie einen Negativabdruck: All dasjenige, was ein Zeitalter nicht bereit ist, im Gedächtnis zu behalten, was es an sich selbst vergisst. Als mir vor einiger Zeit der Begriff Krausismus begegnete, in einer Zeitschrift mit kleiner Auflage, hatte ich sofort das Gefühl, eine solche verlorene Spur berührt zu haben. Nicht nur war mir der Begriff ungeläufig, noch mehr überraschte mich meine Ignoranz, nachdem mir durch Nachforschen zunehmend klar wurde, was mir bis zu diesem Tag entgangen war. Ich fragte mich, wie das jemandem passieren konnte, der sich, neben Literatur und Medien, seit Jahrzehnten intensiv mit Philosophen und ihren verschiedenartigen Denkweisen beschäftigte? Was war Krausismus? Eine philosophische Schule wie der Hegelianismus, eine ideologische Richtung ähnlich dem Marxismus, eine politische Bewegung wie der Leninismus? Karl Christian Friedrich Krause, auf ihn ging die Bezeichnung Krausismus zurück, und offenbar war er Teil einer Nicht-Erinnerung geworden, die vermutlich nicht bloß bis zu mir reichte.
In seinen während des Ersten Weltkriegs entstandenen "Betrachtungen eines Unpolitischen" widmet sich Thomas Mann im letzten Kapitel der Ironie, die er als dem Radikalismus diametral entgegengesetzte Haltung versteht (seltsamerweise erwähnt er die soeben stattgefundene Oktoberrevolution kein einziges Mal). Diese Ausführungen, die keine klare Definition des Phänomens bieten, sowie spätere Äußerungen, in denen er sich als Erzähler zur Ironie bekennt, haben erheblich darauf gewirkt, dass der sechs Jahre nach den Betrachtungen veröffentlichte, aber schon vor diesen erstmals konzipierte "Zauberberg" in der Rezeption als stark ironiehaltiges Werk betrachtet wurde und wird. Auch Musils "Mann ohne Eigenschaften" wird häufig mit Ironie in Verbindung gebracht, und eine vorurteilslose Lektüre des Romans kann diese Verbindung nur bestätigen, auch wenn Musil in seinen Schriften den Begriff selten erwähnt. Sind die beiden Spitzenromane der Zwischenkriegszeit durch ihren Ironiegehalt vereint - oder eher, weil dieser sich unterschiedlich darbietet, getrennt?
In seinen Schriften, insbesondere seinen späten des letzten Lebensjahrzehnts, prägte Stéphane Mosès die Begriffe der normativen und der kritischen Moderne innerhalb der jüdischen Tradition. Er erklärt, wie diese beiden Tendenzen im jüdischen Denken des 20. Jahrhunderts fast zeitgleich entstehen, nämlich in und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, und wie zwei parallele Stränge nebeneinander bestehen. [...] Der Dialog von Benjamin und Scholem über Kafka gehört zu den bedeutenden Briefwechseln der Literaturgeschichte, vergleichbar demjenigen von Lessing und Mendelssohn über das Trauerspiel, der erst im 20. Jahrhundert, lange nach seinem Entstehen, wirklich bekannt und rezipiert wurde. Es ist ein großes Verdienst von Stéphane Mosès, diesen Briefwechsel von Benjamin und Scholem kommentiert und uns die Positionen der beiden Denker lebendig vor Augen geführt zu haben. Ich habe meinerseits versucht, im Sog dieses Briefwechsels das Wesentliche hervorzuheben, um Benjamin in die jüdische Moderne einzubetten. Dabei scheinen mir die Gedanken des "Zerfallsprodukts der Weisheit" und des "Gerüchts von den wahren Dingen" sowie auch der einer "theologischen Flüsterzeitung, in der es um Verrufenes und Obsoletes geht" die Diagnose vom Traditionszerfall in der jüdischen und nicht jüdischen Moderne äußerst prägnant zu begleiten.
Paul Gilroy verweist in seinem "The Black Atlantic" auf Walter Benjamin, dessen Konzept der "Urgeschichte" der Moderne ihm insbesondere wegen aus der jüdischen Mystik übernommener Elemente für die Konstruktion einer Alternative zur Siegergeschichte geeignet erscheint. [...] Wie lässt sich ein notwendig diskretes mystisches Eingedenken gegen das unausweichlich dröhnende Triumphgeschrei der Sieger diskursiv umsetzen? So klar auch sein mag, dass die konstitutive Voraussetzung für die Konstruktion und das Schreiben der Geschichte der Unterdrückten nur darin liegen kann, den Namenlosen zuzuhören, bleibt gleichwohl die Frage nach der Möglichkeit der Darstellung einer Geschichte der Namenlosen. Lässt sich Geschichte überhaupt jenseits einer vermeintlich unentrinnbaren Dialektik von Siegern und Verlierern, mithin anders darstellen als in der Sprache und aus der Warte der Sieger? Um Missverständnissen vorzubeugen: Im Folgenden soll nicht Walter Benjamin zum Vordenker des Post-Kolonialismus stilisiert oder in aktuelle de-kolonialistische Debatten hineingezwängt werden. Stattdessen dient Gilroys intuitive Hinwendung zu Benjamin als Ausgangspunkt für die Suche nach einer Alternative zu der in Europa bis heute bestimmenden Geschichtsschreibung aus der Warte der Sieger.
Ausgehend von David Wellberys Befund, dass wir es im Bereich der Literatur seit der Transformation des Formenverständnisses ab 1800 mit einem endogenen Formenbegriff zu tun haben, möchte ich den Effekten nachspüren, die die Integration des Kraft-Begriffs in den des Lebens im Bereich der Literatur hat. Denn insofern sich ab 1800 davon sprechen lässt, dass die Formen der Literatur - insbesondere die des Romans - eine Theorie von Formung allgemein und damit eine Theorie von Leben im Besonderen verhandelt, gehe ich davon aus, dass mit der Erweiterung des Lebensbegriffs um den der Kraft, der auch in der Literatur statthat, eine Erweiterung des endogenen zu einem emergenten Formenverständnisses in Betracht gezogen werden muss. Und zwar deshalb, weil Literatur im Gegensatz zur Physiologie Formungsprozesse darstellen und reflektieren kann. Kurzum: Weil die Literatur Kraft in ihr Leben aufnimmt und in das Leben zurückgibt, erweitert sich auch der Funktionsumfang ihrer Formen, sie werden emergent. Ausgemacht wurde diese Funktion indes nicht erst in der Literatur, auch wenn sie erst dort zur Anschauung kommen kann - und genau deshalb zur Lebenskraft des Lebens werden konnte.
Der Titel von Volker Wehdekings 1971 publizierter Studie zur deutschsprachigen Nachkriegsliteratur verdichtet eine bedenkenswerte Herkunftsfiktion: "Der Nullpunkt. Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945–1948) in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern". Zusammengesetzt aus einer der Metaphern historischer Rede nach 1945 und einem den Gegenstand bestimmenden Untertitel gibt er der Monografie die Abbreviatur einer komplexen literarhistorischen Narration als Leitthese vor. Die so entworfene Gründungserzählung einer Selbst(er)findung und Selbstgründung in den Lagern der Kriegsgefangenschaft verbindet sich in der Nachkriegskultur mit einer Erhebung des Lagers zu "einem allgemeinen Paradigma der Moderne". Die Gleichsetzung unvergleichlicher Lagererfahrungen aus prononciert deutscher Perspektive läuft so auf eine existentialistisch getönte Rede vom Lager als allgemeinem Symbol der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts zu, in der die Erfahrung des einen Lagers die Erfahrung aller anderen vertreten kann. Diese Traditionslinie literarischen Erinnerns, die der rezenten Vergangenheit des Weltkrieges und der Shoah mit den Denkfiguren der Überblendung, Wiederholung und Verschiebung begegnet, diskutiert der folgende Aufsatz. Im Mittelpunkt stehen die erzählten Lager in Hans Werner Richters Romanen "Die Geschlagenen" und "Sie fielen aus Gottes Hand".
Niklas Luhmann hat die europäische Moderne als einen Ausdifferenzierungsprozess beschrieben, der am Ausgang des sogenannten Mittelalters begann und alle gesellschaftlichen Bereiche erfasste. Das betrifft auch und insbesondere 'die Technik'. Deren herausragende Vertreter sind die Ingenieure, die man als Gewinner des Modernisierungsprozesses bezeichnen kann, erlebte dieser Berufsstand doch vor allem seit der Aufklärung eine Erfolgsgeschichte, die nicht mehr nur die Erweiterung und Ausdifferenzierung des eigenen Berufsbilds umfasste, sondern auch in die Gesellschaft hineinwirkte und diese wesentlich veränderte. [...] Insbesondere die Sozial- sowie die Technikgeschichtsforschung haben jedoch herausarbeiten können, dass sich eine Kluft auftat zwischen der Selbstwahrnehmung 'der Ingenieure' als "Intellektuelle[] der Technik" und der aus ihrer Sicht noch immer nicht angemessenen Fremdwahrnehmung durch eine doch maßgeblich durch Technik bestimmte und von ihr profitierenden Gesellschaft. Dieser häufig beklagten Verteilungsungerechtigkeit symbolischen Kapitals in Form von Sozialprestige liegen allerdings realgesellschaftliche Defizite zugrunde, insbesondere die Unterrepräsentation in politischen Gremien oder, wie der Hochofentechniker Joseph Schlink schon 1879 aufzählte, in Sachen "Besitz, Macht und Einfluss, Mitgliedschaft von parlamentarischen, kommunalen und sonstigen Körperschaften, Titel und Orden, Hoffähigkeit und Adel u. dergl.". Auf beide Problembereiche reagierten 'die Ingenieure' mit diskursiven, pragmatischen und institutionsorientierten Strategien. Aus 'der Technik' als dem schlechthin Anderen der Kultur wurde eine technische Kultur als harmonische Verbindung, sie wurde also als Anpassung beider Sphären konzeptualisiert. Den Autobiographien deutscher Ingenieure kommt insofern eine herausragende Rolle in diesem Prozess zu, als sie die persönlichen Erfahrungen der Autoren mit einem gruppenbezogenen Anspruch an die Gesamtgesellschaft verknüpfen. In diesem Sinne nutzten die Ingenieure gezielt die nach Peter Sloterdijk zentrale Gattungsfunktion für ihre Zwecke: "Lebensgeschichtliches Erzählen ist eine Form sozialen Handelns - eine Praxis, in der individuelle Geschichten mit kollektiven Interessen, Werten, Phantasien und Leidenschaften zusammengewoben werden". Das Ziel dieses sozialen Handelns war die Sichtbarmachung, Anerkennung und Etablierung des auf technischem Gebiet genial-tatkräftigen Individuums, des 'großen Mannes'. So konnten 'die Ingenieure' ihren Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe erheben und sich selbst aus der als demütigend empfundenen Anonymität herausführen. Mittels ihrer oft mit Vorbild- und Appellfunktionen versehenen Autobiographien gelang es ihnen, aktiv eine neue, technische Kultur zu gestalten.
Im Folgenden werde ich dem Konnex zwischen Blogging und Blogger (als Machtausübung bzw. als Machtinstanz) und den von der Staatsmacht unterstützten Narrativen und Deutungsmodellen anhand jener Weblogs nachgehen, die sich mit dem im Frühjahr 2014 begonnenen Krieg im Donbass befassen. Die Verschiebung des Fokus auf die Nachmaidan-Ukraine ist durch zwei Überlegungen bedingt. [...] Aus dem (eigentlich recht übersichtlichen) Korpus einschlägiger "creative workers' blogs" habe ich zwei Weblogs zur Analyse gewählt, die 2014 entstanden. Wie viele andere dieser Art wurden auch sie in Buchform veröffentlicht, was insofern günstig ist, als die für die Printveröffentlichung unerlässlichen Transformationen des Onlineoriginals die Einmischung des Machtdiskurses, insbesondere in Form der (Selbst-)Zensur, sichtbar machen. Konkret geht es um Olena Stepovas Weblog und Buch "Alles wird die Ukraine sein oder Die Geschichten aus der ATO-Zone" ("Vse budet Ukraina! Ili Istorii iz zony ATO", 2014) sowie um das Weblog Boris Chersonskijs und dessen Buchversion "Das offene Tagebuch" ("Otkrytyj dnevnik", 2015). [...] Durch den Vergleich dieser zwei so unterschiedlichen Blogkonvolute werde ich in zwei nachfolgenden Kapiteln die Darstellungen des Donbass bzw. der Südukraine als eines innerukrainischen 'Orients' und die damit verbundenen identifikatorischen Selbstverortungen der jeweiligen Blogger:innen vergleichend analysieren. Fokussieren werde ich mich einerseits auf die Abweichungen von den Mainstreamnarrativen, die eine mögliche subversive Dimension des Kriegsbloggings abstecken, andererseits auf die normativen Interpretationsmuster, die sich beide Blogger:innen im Zuge des Krieges zu eigen machen und die die anfängliche'Abweichung' eliminieren oder relativieren. Diese Anpassung an die vorgegebenen Deutungsmodelle werde ich dann im letzten Abschnitt als eine ambivalente Haltung untersuchen, die eine Wahrnehmung des Krieges als einer inneren Kolonisierung impliziert und diese mit Verhaltensweisen der Selbstkolonisierung zu neutralisieren versucht. Anschließend werde ich auf die innere Verbindung dieser doppelten Subalternität mit dem veränderten Status des Bloggings in der Ukraine nach 2013/14 eingehen. Es wird hierbei die These aufgestellt, dass die Selbstwahrnehmung des Landes als einer Postkolonie in der Krisensituation tendenziell eine innere Polarisierung hervorruft und dadurch die Blogger entweder zu einer defensiven oder zu einer offensiven Haltung zwingt, die jeden grundsätzlichen Dissens ausschließt.
"Und jetzt ich" : Gegen-Ästhetik und algorithmische Autorschaft in Jan Brandts "Tod in Turin" (2015)
(2021)
Als "Buchpreisverarbeitungsbuch" (TiT, 290) mit einer Erzählinstanz, die sich explizit als der empirische Autor zu erkennen gibt und geradezu leitmotivisch ihren beruflichen Status offenlegt - "'[i]ch bin Schriftsteller'" (TiT, 18 u.ö.) -, ist "Tod in Turin" Metaliteratur, Literatur über Literatur und vor allem über deren Produktions-, Rezeptions- und Verwertungsbedingungen. Metatextuell im Sinne Gérard Genettes, das heißt: Prätexte nicht nur referierend, sondern 'kommentierend', ist "Tod in Turin" aber schon qua Titel und Thema. "Die reiche, Jahrhunderte umspannende deutsche Italienliteratur" füllt längst eine schon wieder überholte Bibliographie von monographischer Dimension. In diese Tradition schreibt sich Jan Brandt ein und betreibt mit ihr ein "postmoderne[s] Spiel" (TiT, 291), dessen Telos, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, über die Subversion oder Persiflage bestehender literarischer Italienbilder hinausreicht. Es besteht vielmehr in einer neuartigen, nämlich 'algorithmischen' Fruchtbarmachung des überwältigenden Prätext-Kanons.
Autofiktion ist en vogue. Karl Ove Knausgårds sechsbändiges Werk "Mein Kampf", Annie Ernaux' "Die Jahre" oder "Der Platz", Rachel Cusks Trilogie "Outline", "Transit" und "Kudos", Ben Lerners "Die Topeka-Schule" - all das sind Werke, die der "Autofiktion" zugerechnet werden. Autobiographie, das war seit Augustinus' "Confessiones" und Rousseaus "Confessions" die Schilderung eines Lebens mit Bekenntnischarakter und einem Anspruch auf Wahrheit, also dem Ziel, "Dichtung und Wahrheit" so weit als möglich zur Deckung zu bringen und so größtmögliche Authentizität zu erzielen. Im Gegensatz dazu ist "Autofiktion" eine Erzähltechnik, in der sowohl die Grenzen zwischen Autobiographie, Essay und Roman als auch zwischen Fakt und Fiktion aufgehoben und autobiographische Elemente mit fiktionalen Handlungselementen verwoben werden. Daraus ergibt sich eine Art "Versteckspiel", das Lesepublikum, Autoren und Kritiker fasziniert: Autofiktion hat die traditionelle Autobiographie (scheinbar) abgelöst und beherrscht derzeit Buchmarkt und Feuilletons, Literatur, Literaturbetrieb und Literaturwissenschaft gleichermaßen. Worauf gründet diese Faszination? Und wie lässt sie sich erklären?
Es ist wohl dem bedauerlichen Abgrund zwischen literaturwissenschaftlicher Textanalyse und theaterwissenschaftlicher Performanztheorie zu verdanken, dass es bisher kaum wissenschaftliche Arbeiten zu Lotz' Texten gibt. Wolfram Lotz hat sich bisher stets um eine zeitnahe Publikation seiner Stücke und Monologe bemüht, so auch im Fall der "Politiker", die noch im Jahr 2019 bei Spector Books in Leipzig erschienen. Das hat Gründe, handelt es sich doch nicht nur um flexibel handhabbare Spielvorlagen, sondern zugleich um streng organisierte Wortkunstwerke. Im Folgenden soll gezeigt werden, mit welchen poetischen Verfahren "Die Politiker" das große Thema der politischen Gegenwart traktiert: das Ressentiment, also die affektive Lage und Ohnmacht jener vielen Konsumenten von Politik, die derselben erst ihre Autorität und Wirksamkeit verleihen. Das Politische der "Politiker" nämlich, das heißt "[d]as wirkliche Soziale [...] in der Literatur ist: ihre Form".
"Die ganze Philosophie nur eine Meditation Shakespeares" : Emmanuel Lévinas über die Tragödie
(2021)
"[I]l me semble parfois", schreibt Emmanuel Lévinas in "Le temps et l'autre" (1948), "que toute la philosophie n'est qu'une méditation de Shakespeare"; ["es scheint mir manchmal, daß die ganze Philosophie nur eine Meditation zu Shakespeare ist"]. Tatsächlich sind Bezugnahmen auf Shakespeare in Lévinas' Œuvre insgesamt keine Seltenheit, besonders häufig finden sie sich aber in seinem Frühwerk und nirgendwo in größerer Zahl als in "Le temps et l'autre" (dt. "Die Zeit und der Andere"). Von diesem Befund ausgehend möchte ich untersuchen, inwieweit man - wo nicht von der Philosophie überhaupt - zumindest von Lévinas' eigener Philosophie sagen kann, dass sie eine Meditation Shakespeares darstellt; und das im doppelten Sinne des Genitiv ('une méditation de Shakespeare'), den die deutsche Übersetzung von Ludwig Wenzler ('eine Meditation zu Shakespeare') leider unterschlägt: (1) Im genitivus objectivus wäre die Philosophie als eine Meditation über Shakespeare zu verstehen. Lévinas setzt sich in "Le temps et l'autre" kritisch mit im Grunde allen kontinentalphilosophischen Strömungen seiner Gegenwart auseinander: vom deutschen Idealismus über die marxistische Sozialphilosophie, die Lebensphilosophie Bergsons und die Phänomenologie Husserls bis zum Existenzialismus von Sartre und Camus und natürlich der Fundamentalontologie Heideggers. Lévinas' kritische Distanzierung insbesondere vom Idealismus und der Existenzphilosophie lässt sich dabei als ein Streit über die Interpretation des Tragischen verstehen. Lévinas' Verständnis des Tragischen aber gewinnt in seiner Auseinandersetzung mit Shakespeare Gestalt. (2) Im genitivus subjectivus würde der Satz "toute la philosophie n'est qu'une méditation de Shakespeare" noch mehr besagen: Die ganze Philosophie wäre so verstanden eine Meditation von Shakespeare, sozusagen eine Meditation des Dichters selbst. In welchem Sinne sich auch dies zumindest für "Le temps et l'autre" behaupten lässt, darum wird es im zweiten Teil dieses Aufsatzes gehen.
Im akademischen Forschungsbetrieb ist es ein kaum bestrittener Gemeinplatz, dass es im Œuvre Federico Fellinis eine "markante Zäsur" gebe, die man um 1960 ansetzt, je nach diskursiver Strategie kurz vor "Otto e mezzo" (1963) oder auf den Spuren Kracauers vor "La dolce vita" (1960), wobei es in der Regel um einen "Bruch mit dem neorealistischen Mainstream" zugunsten einer eher "traumaffinen Schaffensperiode" gehen soll. Die folgenden Überlegungen wollen zeigen, dass es sich hierbei um eine Einteilung handelt, die eher machtgestützten Klassifikations- und Verwaltungsbedürfnissen entgegenkommt, als dass sie der Sache selbst: dem filmästhetischen Werk Fellinis, gerecht würde. Dabei sollte deutlich werden, dass diesem Werk ein mehr oder weniger unbewusstes mythopoetisches System zugrunde liegt, das die formal und narrativ unbestreitbar verschiedenen Filmwerke zu einem in sich schlüssigen Zusammenhang fügt.
Adalbert Stifters im Jahr 1857 publizierter Roman "Der Nachsommer" ist oft als Bildungs- und Erziehungsroman, als humanistische Bildungsutopie oder als restaurative Sozialutopie gelesen worden. Im Gefolge dieser Gattungszuordnungen wurden vor allem Fragen der Bildung und Ästhetik, der Sozialgeschichte und Politik zu Deutungszugängen des Texts. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, den Roman aus einer ganz anders gerichteten Perspektive wahrzunehmen: in seiner Bezogenheit auf das Thema des Todes und der Endlichkeit. Bereits das Titelwort "Nachsommer" deutet auf Vergänglichkeit hin. Gelesen als Metapher für Lebensphasen verweist es sowohl auf eine erneut intensivierte Vitalität als auch auf den näher rückenden Tod. Die Jahreszeiten Herbst und Winter fungieren traditionell als Todesallegorien. Unter dem Vorzeichen dieser Allegorik entfalten viele der im Roman dargestellten Zeitphänomene auch eine eschatologische Bedeutungsdimension. [...] Eschatologische Aussagen können als Aussagen über ein Endschicksal der Welt, der Menschheit und / oder eines einzelnen Menschen aufgefasst werden. In der Epoche des österreichischen Spätbiedermeier, das heißt in den mentalitätsgeschichtlichen Milieus Stifters und seiner Leserschaft, steht angesichts dieses Aussagekomplexes nicht zuletzt die Glaubwürdigkeit einer in der Dogmatik der christlichen Religion und des katholischen Lehramts verankerten Glaubenshoffnung zur Diskussion. Können die Menschen auf ein zukünftiges Leben in der himmlischen Gemeinschaft mit Gott hoffen oder sind entsprechende Hoffnungen skeptisch zu verabschieden? Auch wenn konkrete kirchlich-theologische Positionen zum Themenkreis der 'letzten Dinge' in ihrer Komplexität hier nicht differenziert zu entfalten sind, so können sie dennoch als Bezugspunkt für ein Nachdenken über Stifters Pessimismus dienen. Werden die Glaubensinhalte der christlichen Eschatologie skeptisch verneint, so soll diese Negation als zentraler Aspekt des dem Stifter'schen Werk von Sebald attestierten Pessimismus verstanden werden. Sicherlich handelt es sich bei dieser Begriffsbestimmung um eine Hilfskonstruktion mit vorläufigem Charakter. Zumindest gibt sie aber eine erste Definition und vermeidet ein Sprechen in vagen Polysemen. Wie unscharf und wie wenig aussagekräftig die Termini Optimismus / Pessimismus zur Beschreibung des Romans von 1857 letztendlich sind, wird im weiteren Verlauf des Beitrags zu zeigen sein. Im Anschluss an die Lektüre zweier Textpassagen aus dem "Nachsommer" möchte ich hierzu den Blick auf ideengeschichtliche Kontexte des Romans richten. Dabei soll vor allem auf zwei Texte ausführlicher eingegangen werden: auf Bernard Bolzanos "Athanasia oder Gründe für die Unsterblichkeit der Seele" und Johann Gottfried Herders "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit".
Uwe Schütte hat ganz richtig bemerkt, dass W. G. Sebald ein Autor war, der "verstörende Leseerfahrungen [bietet], bei denen wir in Berührung kommen mit einem 'Anderen', das sich wissenschaftlicher Explikation sowie rationalisierender Begradigung entzieht", und hier beginnen die Analogien zu Kiefer. Eine vergleichende Gegenüberstellung der beiden ist bislang noch nirgendwo erfolgt, weder von Seiten der kaum mehr überblickbaren Sebald-Forschung noch in den zahlreichen Publikationen und Katalogen, die die Ausstellungen und Installationen von Anselm Kiefer begleitet haben. Die folgenden Betrachtungen sollen zeigen, dass es zwischen ihnen die verblüffendsten Bezüge und Gemeinsamkeiten gibt - und zwar sowohl inhaltlich, was die Wahl ihrer blutgetränkten, geschichtsbefrachteten Sujets betrifft, als auch formal, was ihre palimpsesthaften Verfahrensweisen anbelangt - und nicht zuletzt auch biographisch: mit Blick auf ihre Werdegänge.
In Jacques Derridas späteren Schriften gibt es eine interessante, bisher unbeachtet gebliebene Denkfigur, die an den Begriff und die Gattung des 'epitáphios', der Grabrede und deren Nähe zum Epitaph, der Grabinschrift, gekoppelt und am Übergang zwischen lebendigem Gesprächszusammenhang und nachträglicher Schriftlichkeit angesiedelt ist. [...] Mit dem 'epitáphios', so die These, die ich in den nachfolgenden Ausführungen entfalten möchte, liegt eine Denkfigur vor, an die sich eine Neubestimmung des poststrukturalistischen Subjekt-Begriffs anschließen lässt. Wenn im Zuge des Strukturalismus der 1960er Jahre der "Tod des Autors" proklamiert wurde, so schließt sich in Derridas Denken seit den 1990er Jahren an diese metaphorische Formel ein Nachdenken über den realen Tod des Autors an, das in einer neuen Relevanz des Subjekts im Text mündet. In unmittelbarem Zusammenhang damit steht zugleich eine Neukonzeption des Traditionsbegriffs. [...] Derrida, so die These, die ich im Folgenden anhand einiger Lektüren seiner späteren Schriften entfalten möchte, sucht gewissermaßen die etymologischen Wurzeln des Traditionsbegriffs auf, wonach die persönliche Interaktion und das Moment der Verpflichtung wesentlich sind, schreibt seinem Modell der Überlieferung dabei aber zugleich die stetige Umkehr, die revolutio mit ein. Die Frage lautet angesichts dieser Beobachtung nicht, inwiefern die Dekonstruktion als Reflex eines postmodernen Traditionsverlusts zu begreifen ist, sondern es soll vielmehr aufgezeigt werden, dass sie angesichts beschleunigter postmoderner Prozesse sozialen Wandels einen Traditionsbegriff entwirft, der tragfähig bleibt und ein neues Denken des Subjekts integriert.
Auch einige Autoren, die der interkulturellen Literatur zugerechnet werden, haben sich in den letzten Jahren verstärkt den Figurationen des Ökonomischen, nämlich den Mechanismen des Geldes und den geldorientierten Konstellationen und Verhaltensweisen im modernen Wirtschaftsleben gewidmet. Vor allem bei dem deutsch-irakischen Schriftsteller Abbas Khider und bei der deutsch-ungarischen Schriftstellerin Terézia Mora finden sich wesentliche Funktionen und Transaktionen des Geldes im globalen Finanzkapital sowie das Ineinandergreifen von wirtschaftlichen, politischen und soziologischen Faktoren. Es geht hierbei "nicht nur um die finanziellen Transaktionen von Individuen, Firmen oder Staaten, sondern auch um die tieferen Fragen, wie Lebensenergie eingesetzt wird, wie die Menschen miteinander leben". Bei der Auseinandersetzung mit diesen Aspekten, konzentriert sich der vorliegende Aufsatz exemplarisch auf zwei Texte, nämlich auf Abbas Khiders Roman "Brief in die Auberginenrepublik" (2013) sowie auf den Roman "Der einzige Mann auf dem Kontinent" (2009) von Terézia Mora. Zum Ausgangspunkt hat der Vergleich zwischen beiden Texten die Verortung des Geldmotivs zum einen in einer von vormodernen Traditionen geprägten und deformierten Geldwirtschaft, zum anderen auf einem autonomisierten, globalisierten und tendenziell digitalisierten Kapitalmarkt. Die hieraus abgeleitete Problemstellung betrifft vor allem die existentiellen Konsequenzen für die Handlungs- und Lebensmöglichkeiten des einzelnen, nämlich die Zwänge und die Freiheiten, die Überforderungen und Widerstände, die daraus erwachsen.
Ingeborg Bachmanns Text "Undine geht" wird mitunter als Verhandlung einer existentiellen "Sprach- und Wahrnehmungskrise" verstanden. Hier verabschiedet sich die mythisch-märchenhafte Protagonistin aus der Kommunikation mit ihrem menschlichen Gegenüber Hans. Die Sprache, so die Ausgangsthese der folgenden Überlegungen, ist jedoch noch auf einer weiteren Ebene von Relevanz: Undine geht wurde zuerst im Radio gesendet und steht somit in der Nähe des Hörspiels. Auch wenn Undine geht nicht als Hörspielfassung publiziert ist, wurde der Text 1961 doch zunächst als solche mit Bachmann als Sprecherin produziert und gesendet. Erst im Anschluss erfolgte die Publikation in einer Zeitung und in Prosaform. Um dieser Textgenese gerecht zu werden, bedarf es in der Analyse einer nicht rein literaturwissenschaftlichen Perspektive, sondern auch der Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen. Für Undine geht sind Stimmlichkeit und Sprachvollzug wesentlich. In der durch Mündlichkeit und Performanz geprägten Ersterscheinung ist die Sprache nicht nur literarisch, sondern auch als Klangkörper von Gewicht. In der Auseinandersetzung mit diesen formalen Momenten des Textes, die in einem transmedialen Verständnis als theatral gelten können, soll deutlich werden, wie Undines Rede durch und für eine mündliche Darbietung generiert wurde. Dabei besteht Bachmanns Text keineswegs nur aus Undines Ansprache an Hans, sondern aus einer mindestens dreistelligen Konstellation [...] In einem ersten Schritt soll Bachmanns Zugriff auf das Märchen im Vergleich mit früheren Bearbeitungen des Stoffes betrachtet werden. Insbesondere in der Gegenüberstellung mit der Bühnenfassung lassen sich Veränderungen und Zuspitzungen feststellen, die den Hörspiel-Charakter des Textes hervortreten lassen. In einem zweiten Schritt stehen die einander sehr ähnlichen Fassungen des Hörspielmanuskripts, der Radio-Aufnahme und des Buchabdrucks von Undine geht im Vordergrund. Hierbei werden die verschiedenen medialen Erscheinungsformen und die Bedeutung des originär Akustischen von Bachmanns Textversionen verhandelt.
"Liebe Deinen Nächsten" von Remarque war als Fortsetzungstext für das US-Magazin "Collier's Weekly" gedacht und wurde 1941 zuerst in der englischen Übersetzung von Denver Lindley aufgelegt. Der Roman, dessen deutsche Fassung im selben Jahr in einem Stockholmer Verlagshaus erschien, nimmt sich eines Themenfeldes an, das auch heutzutage hochaktuell ist: des Problems der Emigration, des Heimatverlustes, der Heimatsuche und der (abhanden gekommenen) Humanität in Zeiten einer moral-menschlichen Krise, in denen Hass und Hetze gegen den Nachbarn hoch auf der Agenda stehen und toleriert werden. Remarque, der nach 1933 vor den Nationalsozialisten ins Ausland fliehen musste, brachte seinen Roman zunächst im österreichischen, später auch im französischen und Schweizer Exil zu Papier, nachdem ihm die Geschichte von einem deutschen politisch verfolgten Flüchtling zu Ohren gekommen war, der, um seine in Berlin gebliebene und im Sterbebett liegende Ehefrau zum letzten Mal zu sehen, in die Hauptstadt fährt und von seinem Widersacher verhaftet wird. Das Ziel der folgenden sich an Film und Literatur orientierenden Untersuchung besteht darin, Remarques Roman "Liebe Deinen Nächsten" aus dem Blickwinkel eines räumlichen Filmerzählens zu beleuchten, um somit auf die metamedialen Korrespondenzen aufmerksam zu machen. Ausgearbeitet werden einige narrative Aspekte, anhand deren man den literarischen Text auf sein Filmpotential hin abfragen kann.
Kein anderer seiner Romane bereitete Hermann Broch größere Mühe als die niemals abgeschlossene, in drei Fassungen vorliegende "Verzauberung". Zu Beginn der dreißiger Jahre konzipiert, war dieser "Bergroman" (so Brochs inoffizielle Bezeichnung) als literarische Analyse der Massenwirkung Hitlers geplant, die zugleich eine Vielzahl mythen- und religionsgeschichtlicher Bezugnahmen integrieren sollte. [...] Was bis zum Ende im Status "unentschiedener Entscheidung" verblieb, spaltet auch die Leserschaft seit je. Allerdings betreffen die Probleme weniger das Unzugängliche dieser sicherlich sperrigen literarischen Hinterlassenschaft des 20. Jahrhunderts. Der wichtigste Streitpunkt ist vielmehr eine häufig gespürte, unheimliche Nähe der Broch'schen Faschismusanalyse zu ihrem Sujet selbst. [...] Auf der anderen Seite hat man schon früh versucht, den "Bergroman" als Vorläufer der Anti-Heimatliteratur zu retten; auch jüngst sind bedenkenswerte Aufsätze erschienen, die ihn als Versuch würdigen, 'gefährliche' Diskurse umzuschreiben: zeitübliche Tiefensemantiken etwa oder eben Tendenzen der Remythisierung. Auch der vorliegende Essay steht nicht auf der Seite derer, die Brochs Romanversuch als Rückzug in "extreme geistige Provinz" abtun. Stattdessen lässt er sich von den Fragen leiten, woran Broch hier eigentlich arbeitete und was von seiner unabgeschlossenen, vielleicht sogar unabschließbaren Auseinandersetzung mit dem Massenphänomen Hitler noch oder gerade heute zu lernen wäre. Speziell drei zusammenhängende Motive Brochs sollen in diesem Sinn neu beleuchtet werden: Erstens seine spezifische Arbeit am Thema des Opfers, zweitens sein Rekurs auf die (Vor-)Geschichte der griechischen Tragödie; und drittens soll ein bestimmter technikphilosophischer Einsatz Brochs betrachtet werden, der sich von heute aus als Reaktion auf den epochalen Aufstieg einer "environmentalen Macht" erweist. In allen drei Punkten wird sich zeigen, dass Broch durchaus wegweisend Fragen aufwarf, die Theoriebildung und philosophische Diskurse auch der jüngeren und jüngsten Zeit bewegt haben, wie zeitgebunden auch immer manche seiner Instrumentarien waren.
Seit seiner ersten Beschäftigung mit dem Märchen in den 1920er Jahren charakterisiert Benjamin dieses als eine kollektive, populäre und profane Form, die fähig ist, den Mythos aufzulösen. Noch in seinem "Erzähler"-Essay (1936) fasst Benjamin das Märchen als die älteste Erzählform, die immer in der Lage war, Menschen Rat zu geben und sie zu lehren, wie man sich mit "List und Übermut" vom "Alptraum des Mythos" bzw. aus den "Gewalten der mythischen Welt" befreien kann. Dem Märchen gelingt dies, indem es von einer Beziehung zwischen Mensch und Natur ausgeht, die nicht auf Angst und Beherrschung, sondern auf "Komplizität" beruht. Im Licht dieser Begriffskonstellation, die Benjamins historisch-anthropologischem Materialismus eigen ist, möchte der vorliegende Beitrag einige Stücke des Buches "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" (1933–1938) wie "Tiergarten", "Steglitzer Ecke Genthiner", "Das Karussell" neu deuten. Dabei soll gezeigt und begrifflich entfaltet werden, wie Benjamin in der literarischen Aufarbeitung seiner eigenen, von einem bestimmten Ort ihren Ausgang nehmenden Kindheitserinnerungen jenes kritische Potenzial des Märchens mobilisiert und damit eine Zäsur schafft, die die bedrückende Gegenwart der 1930er Jahre unterbricht.
Ein 'seriöser' bürgerlicher Spitzenpolitiker sagte auf einem ersten Höhepunkt der Corona-Pandemie, diese sei "schließlich keine Wirtschaftskrise oder Naturkatastrophe". Eine verstörende, aber interessante Aussage. Offenbar sind Techniken, Strategien, Mechanismen der modernen Bio-Macht bereits derart verinnerlicht, dass bei einer solchen Herausforderung jegliche Referenz auf ein womögliches 'Schicksal' sich von vornherein verbietet (selbst wenn das digitalpopulistischen Legendenbauern auf ihrer wahnhaften Suche nach heimlichen Drahtziehern Nahrung gibt). Grund genug, sich zu fragen: Verschwindet in der spätmodernen Welt im Zeichen planetarischer Naturzerstörung und Kapitalverwertung, scheinbar grenzenloser Machbarkeit und globaler Vernetzung das Schicksal? Tritt es möglicherweise inkognito auf? Oder gewinnt 'Schicksal' angesichts des Legitimationsverlustes monotheistischer Religionen und der stetig anwachsenden Rechtfertigungs- und Tribunalisierungszwänge gerade wieder an Bedeutung? Welche Rolle spielen der Zufall, das Erleben natürlicher und gesellschaftlicher Kontingenz? Was prägt eigentlich unsere Vorstellungen von 'Schicksal' im Spektrum zwischen klassischen Tragödien auf der einen, und trivialästhetischer Konfektion (Kolportageroman, TV-Soaps, Heimat-, Bergfilme) auf der anderen Seite? Fragen über Fragen, denen im Folgenden nachgegangen werden soll - unter anderem in chaos- und triebtheoretischen Perspektiven.
Weimarer Beiträge 67/2021
(2021)
Die Weimarer Beiträge sind eine Zeitschrift für Literaturwissenschaft, aktuelle ästhetische Theorie und Kulturwissenschaft. Zu Ihren Schwerpunkten gehören moderne Literatur im Rahmen anderer Künste und Medien, die Wechselbeziehungen von Literatur, philosophischer und ästhetischer Reflexion sowie die kritische Analyse der Gegenwartskultur.
Zu Hegel nicht ohne Fichte
(2020)
Geht man die Philosophiegeschichte treu durch wie der Zeiger das Ziffernblatt an der Wanduhr, so weiß man bald nicht mehr, wo man ist. Das kommt den Hegel-Leser an, erinnert er sich noch, was bei Fichte stand, und lässt sich nicht täuschen von der brausenden Kant- und Fichte-Polemik des jungen Privatdozenten, als der sich selbst noch suchte. Bald wusste er besser, was ihn auf seinen Weg gebracht. Es gibt Polemiken in der Philosophie, wie von Leidenschaft getrieben, und am heftigsten gegen den im Denken Nächsten. Hegels Anfänge waren Kant- und Fichte-Abfertigungen gewesen. Kant und Fichte, eben 20 Jahre nach ihren epochemachenden Schriften wurden sie schon für Zurückgebliebene erklärt. Nicht Weltblick für den schöpferischen Geist der Zeit werde geöffnet von der transzendentalen Logik und deren von Fichte daraus gebildeten idealistischen Handlungstheorie. Nur schmale 'Reflexionsphilosophie der Subjektivität' komme hier mit ewig unbefriedigtem Sollen, statt auf das Weitertreibende in der Sache Geschichte selbst zu sehen. Die beiden jungen Schwaben, nach Jena, ins Zentrum des die Schulmetaphysik zurücklassenden Kantianismus gekommen, sie schrieben Philosophie wie Eroberer, die ihre geistige Herrschaft antreten wollen. Das hohe Sendungsbewusstsein für die eröffnete neue Lehre gehörte zur an sich altaufklärerischen Überzeugung, dass Philosophie - nicht mehr Religion - uns eine menschheitsführende Weltsicht öffne. Die Frage blieb, am schärfsten zwischen Hegel und Fichte, ob Philosophie vorangehe und den Weg weise, so dass auch real nach deren Programm gehandelt werden solle, oder doch nur den je geschehenen Schritt begreife und ihn anzuerkennen lehre. Aber in seinen philosophiehistorischen Vorlesungen der 20er Jahre schilderte Hegel dann die Logik des Konstruktionsprinzips 'Arbeit' in der Fichte'schen Wissenschaftslehre detailliert; noch immer kritisch, aber als die ernste Sache bei einem, der etwas gefunden habe, das mit uns fortgehe. Im Schlusskapitel der "Phänomenologie des Geistes" (1807) hatte er schon die Parallel-Wege der (europäischen) Menschheit von Ideal- und Realgeschichte ganz im Duktus des Fichte'schen Praxisbegriffes konstruiert, bis hin zum Ich-Kennwort. Das Gerüst der Hegel'schen Geistphilosophie steht überhaupt auf dem Fundament des Fichte'schen Handlungs- und Vergegenständlichungsgedankens.
Die Differenz zwischen der durch Jürgen Habermas am Institut für Sozialforschung begründeten Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie lässt sich darin pointieren, dass jene eine Gruppe von Wissenschaftlern ist, während diese eine Assoziation von Individuen war, die auf sich selbst nie nur als Rollenträger reflektierten. So wie Habermas in seinen frühen Schriften an das Gesellschafts- und Subjektverständnis der Linkssozialisten der Zwischenkriegszeit anknüpfte, erstand, seit die Kritische Theorie zur Frankfurter Schule wurde, der von jeder Einsicht in die Nichtidentität von Subjekt und Gesellschaft bereinigte Wissenschaftsbegriff der Sozialwissenschaften wie ein Phönix aus der Asche wieder auf. Was Horkheimer zunehmend als Abfallprodukt dessen ansah, worum es dem Institut eigentlich gehen sollte trat erneut in den Mittelpunkt: empirische Erhebungen, Auftragsarbeiten für Institutionen, sozialkritisch gewendete Sozialtechnologie. Adornos Hinwendung zur philosophischen Ästhetik seit den frühen Sechzigern kann verstanden werden als Versuch, am anderen Gegenstand dasjenige festzuhalten, was an der Gesellschaft selbst nicht mehr entfaltet werden konnte: Ästhetische Theorie als einzig noch mögliche Sozialphilosophie, die genau deshalb keine Kunstsoziologie sein durfte. Der Begriff der Nuance, der nicht nur in der Ästhetischen Theorie bei Adorno Index dessen ist, worin sich die ästhetische Form von der Gesellschaft, die sie hervorbrachte, unterscheidet, kann auch auf jene Züge der Kritischen Theorie bezogen werden, in der sie den Disziplinen, Instituten, Rollen, in denen sie sich konkretisierte, widersprach. Dass die Ästhetische Theorie seither in der Kultur-, Literatur- und Theaterwissenschaft im Glauben, sie auszubauen und zu vertiefen, um das gebracht wurde, worauf sie zielte: um das Verständnis des Ganzen, ist dabei konsequent. Haben sich doch die Einzeldisziplinen längst von einer Arbeitsteilung verabschiedet, die die Teilung mit Blick auf das Ganze, die Erkenntnis unteilbarer Wahrheit, begründen muss. Weil dieses Ganze weggefallen ist, wird es dem Betrieb heute unter dem Vorzeichen von Inter- und Transdisziplinarität injiziert, von Begriffen also, die etwas bezeichnen, was die Kritische Theorie stets gewesen ist, ohne es so zu nennen. Die 'Zwischenzeit' aber, die Horkheimer als Grund dafür angibt, dass 1951 von Kritischer Theorie nicht mehr in den Begriffen von 1931 gesprochen werden kann, bezeichnet jene Erfahrung, die ihn, Adorno und Pollock nicht nur von Habermas, sondern von allen trennt, die ihm folgten.
"Der Meridian", Celans Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises am 22. Oktober 1960 in Darmstadt, ist ein Fest der Poesie. Dem Vortrag eignet eine Dichte und Dunkelheit, die oft auch Celans Gedichten zugesprochen wird; so attestieren die zahlreichen Besprechungen ihm denn auch meist, wie Helmut Müller-Sievers kritisiert, drei Elemente: "First, that the speech must be understood as an auto-poetological statement; second, that Celan is the best, or at least the most authentic, interpreter of his own poetry; third, that there exists a theoretical discourse that can seamlessly connect Celan's poetology to his poetic practice". Dieser Kritik wird insofern wider- oder entsprochen, als ich hier den ersten wie auch den dritten Aspekt bestätige, allerdings anders als von Müller-Sievers gesehen: Die Rede bildet meines Erachtens nicht so sehr eine Theorie Celans zu seinen eigenen Gedichten, sondern stellt vielmehr bereits die Ausführung einer Poetologie dar - operiert mithin also performativ. Das gleiche Argument, das Müller-Sievers nutzt, um dagegen zu argumentieren, dass es sich bei der Rede um eine Poetologie handelt, ist für diesen Ansatz eher ein Argument dafür. [...] Die von Müller-Sievers genannten Eigenschaften erachte ich dabei nicht nur für Celans Poesie als relevant, sondern im gleichen Maße für den "Meridian". So lässt sich auch das Verhältnis zwischen 'universaler Theorie' und 'konkreter Dichtung' zwar nicht als nahtlose Verbindung, aber doch als ein direktes Verhältnis erkennen; damit stellt sich die Frage jedoch umso mehr, inwieweit Theorie sich auf Dichtung beziehen lässt. Oft geschieht dabei, wie auch Müller-Sievers anmerkt, die Zuordnung der von ihm genannten Elemente wie in einer Black Box. Das Argument ist meist: Es handelt sich um Dichtung / Literatur, also kann dem Werk 'mehr' oder zumindest etwas anderes zuerkannt werden als 'anderen' Texten. Diese blinde Übertragung, irgendwo zwischen Ästhetik und Epistemologie verortet, gilt oft als absolut selbstverständlich - insofern muss in der Tat die Legitimität dieser Zuordnungen stets erneut hinterfragt werden. Ich versuche daher in diesem Aufsatz der Frage nachzugehen, was im Text geschieht, das diese Zugriffe legitim macht - oder zu machen scheint. Es geht dabei nicht (so sehr) darum, eine spezifische Theorie zu bevorzugen, als um eine Untersuchung der Funktionsweise dieses theoretisch-poetischen Textes - und um die Frage, ob die darin entwickelten Aussagen auf Dichtung und Kunst im Allgemeinen übertragen werden können, und wenn ja, wie. Dieses spezifische Verfahren mitsamt seinen mannigfaltigen Ebenen wird hier im Hinblick auf seine spezifische Materialität gelesen und als eine 'wegweisende' Art verstanden; in der Rede kehrt der Meridian als Trope wieder - als Ort wie als Bild - und der Weg zu und auf dem Meridian kann als die Aufgabe betrachtet werden, die Celan sich darin stellt.
Ann Cotten gilt dem Feuilleton als das aktuelle "Wunderkind der deutschen Literatur" und als die "klügste und schwierigste Dichterin in deutscher Sprache". [...] Ann Cotten nervt. [...] Doch was hat es mit dem Nerven auf sich? Ist das, was hier als Pose an- und vermeintlich vorgeführt wird, nicht etwas ganz anderes? Bereits diese ersten Hinweise zeigen, dass Cottens Spiel mit den Stillagen zwischen Virtuosität und Kalauer aufgeht: Es entlarvt die Kritik - sowohl in ihrem positiven als auch in ihrem negativen Urteil als Mansplaining, das mit Formeln wie 'Wunderkind', 'talentierte Autorin', Dekonstruktion etc. genau das einhegt, was mit dieser Literatur in Frage steht. Das Nerven, so manieriert es auch daherkommen mag, stellt eine intensiv reflektierte poetologische Dimension von Cottens Literaturauffassung und ihres Schreibens dar - ja man könnte von einer Poetik des Nervens sprechen. [...] Wenn Cotten, wie zu sehen sein wird, die Kategorie des Existenziellen wieder einführt, die vom (Post)Strukturalismus in Abhebung unter anderen von Sartre verabschiedet wurde, dann liebäugelt sie auch mit Autoren, die von ganz anderer Warte aus nerven. Zu ihnen zählt auch der in der Poetikvorlesung mehrfach genannte Peter Handke. Peter Handke nervt Ann Cotten, aber sie liest ihn auch und kann etwas mit ihm anfangen - inwiefern, wird zu sehen sein. Mit Handke steht ein weiteres ehemaliges 'Wunderkind' des Literaturbetriebs zur Debatte, bei dem jedoch seit ein paar Jahrzehnten eine Abwendung von den avantgardistisch-sprachkritischen Anfängen und eine Hinwendung zu einer mystischen Weltanschauung kritisch diagnostiziert wird. Die Empörung bei der Vergabe des Literaturnobelpreises an Handke im Herbst 2019 betraf vor allem seine proserbische Haltung sowie sein 'Frauenbild' und steigerte sich auch bis zum 'Durchdrehen'. Ist man bei Cotten über die dekonstruktivistische Pose genervt, so enerviert man sich bei Handke poetologisch gesehen darüber, dass er deren Einsichten zumindest in seinen jüngeren Werken trotzig negiere. [...] Seit der Tetralogie rund um die "Langsame Heimkehr" (1979) zeichnet sich bei Handke ein neuer Weltzugang und damit verbunden eine epische Erzählweise ab, denen Peter Hamm, knapp vier Monate nach dem Massaker von Srebrenica, in seiner Laudatio bei der Verleihung des Schillerpreises an Handke Folgendes attestiert: "Peter Handke hat das Schwierigste und Höchste gewagt, was ein Schriftsteller nach Kafka überhaupt wagen konnte, nämlich erzählend wieder für Weltvertrauen zu werben und Weltvertrauen zu schaffen". Man kann darin freilich auch einen gefährlichen Eskapismus sehen - ob man Handke als schwierig erachtet, oder ihm attestiert, Schwieriges zu leisten, ist auch eine Frage der Perspektive. Oder aber man kann die Vermutung formulieren, dass solche Zuschreibungen den Blick auf die Sache, wie auch bei Cotten, eher verstellen, und so drängen sich verschiedene Fragen auf: Wieso arbeitet sich Cotten an einem Autor mit solchem Ruf ab? Weshalb liest sie ihn? Was hat sein Nerven mit ihrem Nerven zu tun? Und was ist das eigentlich, 'nerven'? Zeit also für eine Rekonstruktion von Cottens Handke-Lektüre.
Kluges Schreiben ist tief in der Zeitgeschichte verankert, in den großen Erzählungen des 20. Jahrhunderts, die aber heute neu bilanziert werden müssten, sowohl objektiv wie subjektiv, wobei das Subjektive, das wissen wir als Leser Kluges, nicht nur das Was, sondern auch das Wie des Erzählens betrifft. Denn die spezifische Irrealität der Gefühle erlaubt es Kluge, jene Romane umzuerzählen, Geschichte nicht einfach wiederzugeben, sondern sie zu variieren, Fakt und Fiktion, Reales und Irreales zu mischen. Allerdings, und das ist bemerkenswert, verbindet Kluge diesen Materialismus der Gefühle mit der Form der Chronik, die doch zunächst eine objektive Form zu sein scheint. Aber weiß man denn eigentlich wirklich, was eine Chronik ist? Kluge scheint hier verschiedenes zu meinen: das Moment der Gleichzeitigkeit, das Moment der Aufzählung, der Serie der Jahre, die variierende Reichweite (das Jahr der Gleichzeitigkeit, die eigene Lebenszeit, die 2000 Jahre). Welche poetologischen Implikationen haben diese Eigenschaften, welche darstellerischen Potentiale, welche Autor- oder Chronistenfiguren gehen mit ihnen einher? Wie erlaubt es diese Form, historisches und persönliches Leben zu vermitteln, also gewissermaßen 'kollektive Autobiographie' zu schreiben? Um diese Fragen zu erörtern, stelle ich Kluge einen Autor und eine Autorin zur Seite, die sich auf den ersten Blick deutlich von ihm wie auch voneinander unterscheiden: Rainald Goetz und Annie Ernaux.
"Berührungsfurcht" : soziale Imaginationen der Unterklassigen in der Kanon-Literatur der Moderne
(2020)
Die gutbürgerliche Literatur verwahrt sich mit allem, was ihr eigen ist - Sprache, Aisthesis, Kreativität, Imagination, Wissen und Bildung - gegen den Übergriff des Anderen und Fremden in Gestalt des sozial Niederen und Subalternen im eigenen Erfahrungsbereich, durchsetzt mit Empathie und Aggression. Aus der Sicht der noblen Literatur fällt der Blick auf die schäbigen Volkssänger, von denen sich Gustav Aschenbach, Thomas Manns Identifikationsfigur im "Tod in Venedig", auf der Hotelempore des Lido bedrängt fühlt, auf die elenden "Schalen von Menschen" in den Straßen und Krankenanstalten von Paris in Rilkes "Malte Laurids Brigge", auf die im Gerede sprachlosen Scheusale von Haushälterin und Hausbesorger in Canettis "Blendung", auf die im 'Jargon' agierende chassidische Schauspieler-Bagage, die Kafka so vehement gegen den Prager Kulturzionismus verteidigt. Die kulturelle Hybris gegenüber den Subalternen und Deklassierten folgt der Spur eines elitären Gestus, auch im politischen Handeln: Verachtung, Abscheu, Angst und Erschrecken angesichts der 'Deplorables', des bedauernswerten Elends der sozial Deklassierten und minder Kultivierten. [...] Das entsprechende Bildrepertoire an einsinnigen Klischees begegnet, ästhetisch nuanciert, in der literarischen Zeitgenossenschaft um 1900 bei Autoren unterschiedlichster Weltanschauung und Schreibweise. Und seitdem, was im Folgenden aufzuzeigen ist, in fast jedem uns vertrauten Text moderner, als bürgerlich verbürgter deutscher Literatur, der sich dem sozial Anderen außerhalb des eigenen Lebens- und Erfahrungsbereichs zuwendet, mehr oder weniger emphatisch oder verdrossen. Bei diesem kleinen Streifzug durch einige Kanon-Texte der Moderne kann es nicht um ihre sozialpsychologische und sozialhistorische Erklärbarkeit gehen. Vielmehr interessieren, als kleiner Nachtrag zur Lektüre der uns wohl bekannten Werke, gewisse Wege und Abwege der sozialen Imagination: der moralisch und ästhetisch oft verquere Umgang mit einem Fremden, das nicht nur in anderen Ländern und Kulturen zu suchen, sondern daheim, hier und jetzt, zu entdecken ist. In der Ferne so nah, voller "Berührungsfurcht", wenn nicht panischem Erschrecken vor dem Anderen.
An einer bisher nicht gesehenen 'Wahlverwandtschaft' zwischen Bertold Brechts "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" und Fritz Langs "Metropolis" soll hier gezeigt werden, dass sich das Verhältnis zwischen Lang als international bekanntem Schöpfer monumentaler Filmepen und Brecht nicht nur mit Vokabeln wie Abgrenzung und Differenz beschreiben lässt. Der Film "Metropolis" und das Stück "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" sind in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe entstanden, vor allem aber gibt es einige thematische und strukturelle Korrespondenzen, die man dahingehend interpretieren könnte, Brecht habe mit seiner kapitalismus- und religionskritischen modernen Tragödie eine Kontrafaktur zu Fritz Langs filmischer Sozial- und Liebesutopie geliefert. Statt es bei einer kontrastierenden Gegenüberstellung zu belassen, kann man aber auch eine unterschwellige Affinität zwischen Brecht und Lang herausarbeiten. Diese Affinität lässt sich im Kern daran festmachen, dass bei Brecht wie bei Lang am Ende ein falsches Opferritual vollzogen wird, um den ob der himmelschreienden sozialen Ungerechtigkeit drohenden Gewaltexzess zu bannen. Bei Brecht ist die Opferung und anschließende Heiligsprechung Johannas als parodistische Replik auf die pathetische Schlussszene von Schillers "Die Jungfrau von Orleans" gelesen worden. So wie die Kanonisierung Johannas als Heilige der Schlachthöfe für das Publikum offensichtlich das Ergebnis einer zynischen Manipulation durch den Großkapitalisten Mauler ist, so ist auch das happy end bei Fritz Lang, die Versöhnung zwischen Kapital und Arbeiterschaft im Schatten der Kathedrale, falsch, weil das Ritual, durch das der Gewaltexzess kanalisiert und die Versöhnung vorbereitet wird, ungültig ist. Verbrannt wird in Metropolis ein Opfer, das, folgt man der Argumentation René Girards, nicht opferfähig ist: eine Automatenfrau, die als solche nicht Teil der Gesellschaft ist, der weder etwas Heiliges noch Unheiliges anhaftet, sondern die, mit Walter Benjamin gesprochen, die Wahrnehmungs- und Erkenntniskrise des neuen Medienzeitalters - die mediale Verfasstheit einer entauratisierten Welt - repräsentiert.
Gilles Deleuze ist zwar oft als Philosophiehistoriker hervorgetreten, hat aber offensichtlich keine Heidegger-Monografie verfasst. Ebenso wenig weist sein Werk allzu viele direkte Bezugnahmen auf Heidegger auf. Vielleicht ist diese Einschätzung aber zu oberflächlich. Erst vor wenigen Jahren hat die Philosophin Janae Sholtz in ihrem bemerkenswerten Buch "The Invention of a People" eine erste ausführliche Gegenüberstellung des Denkens von Deleuze und Heidegger unternommen. [..] Das ändert zwar nichts daran, dass kein 'Heidegger und die Philosophie' aus Deleuze' Schreibmaschine vorliegt: Es motiviert aber dazu, nach weiteren Spuren des deutschen Philosophen in Deleuze' Schriften zu suchen. Das letzte mit Félix Guattari zusammen verfasste Buch, "Was ist Philosophie?" (1991), bietet hier reichlich Anhaltspunkte. Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie darin eine dezidierte Erwiderung und Fortsetzung in Differenz von Gedanken Heideggers stattfindet: Vor allem betrifft das den Streit zwischen Welt und Erde aus dem Aufsatz "Der Ursprung des Kunstwerks" (1936; 1950). Die Kapitel vier und sieben aus "Was ist Philosophie?", obwohl sie auf den ersten Blick bezugslos erscheinen mögen, entwerfen zusammengelesen eine Erwiderung auf Heideggers so berühmten wie problematischen Anspruch an die Dichter, einem geschichtlichen Volk seine Welt zu eröffnen. Nach einer kurzen Wiedervergegenwärtigung der Grundlagen von Heideggers Überlegungen zur Kunst (II) und Deleuze' oft beiläufigen, aber in ihrer Kritik systematischen Bezugnahmen darauf (III) wird zu sehen sein, wie Deleuze und Guattari in ihrer Philosophie der (De-)Territorialisierung dabei nicht nur die Begriffe Welt und Erde verschieben: Die unerhörte evolutionäre Vordatierung eines Anfangs der Kunst beim Tier etwa entzieht Heideggers Kunstwerk-Aufsatz gezielt seine Basis; den Menschen, der dank seiner Sprache privilegiert im 'Offenen' steht und allein Welt besitzen soll (IV). Über die konkreten Konsequenzen und die manifeste Bedeutung dieser Substitution soll zum Ende nachgedacht werden (V).
Am 23. April 1967 hält Theodor W. Adorno im Deutschlandfunk einen Radiovortrag über Stefan George. Es ist nicht das erste Mal, dass Adorno sein ambivalentes Verhältnis zu dessen Dichtung thematisiert: Nachdem er unter dem Einfluss der Zweiten Wiener Schule zwischen 1925 und 1928 einige von Georges Gedichten vertont hatte, 1939/40 den Briefwechsel zwischen George und Hugo von Hofmannsthal besprochen hatte, 1957 auch in "Lyrik und Gesellschaft" ausführlich auf George zu sprechen kam, stellt Adorno in diesen bilanzierenden Überlegungen noch einmal die Frage, was an George überhaupt zu 'retten' sei. Er greift damit eine Problematik auf, die auch Walter Benjamin Zeit seines Lebens beschäftigt hat. [...] Insbesondere in Georges Baudelaire-Übersetzungen löse sich das ein, was wiederum Benjamin von einer gelungenen Übersetzung "forderte" - die rücksichtslose, fast gewalttätige Erweiterung der (eigenen) Sprache, ihr ephemerer Charakter, die beinahe "wörtliche Versenkung in die andere Sprache". Auch wenn Adornos Eloge auf Georges Übersetzungen deren Qualität sicherlich gerecht wird, befremdet doch die Nähe, in die an dieser Stelle Georges Veränderung der deutschen Sprache und Benjamins Reflexionen zur Übersetzung gerückt werden. Adorno übergeht in seiner Überblendung von Georges Praxis und Benjamins Übersetzungstheorie einen zentralen Punkt, dem sich die folgenden Überlegungen widmen wollen: Benjamins (Neu-)Übersetzung Baudelaires samt ihrem Vorwort "Die Aufgabe des Übersetzers" gewinnt aus der polemischen Distanzierung von George und seinem Kreis überhaupt erst Gestalt, sein übersetzerischer Anspruch ist in radikaler Abgrenzung zu George konzipiert. Um Georges antagonistische Rolle in Benjamins Theorie und Praxis der Übersetzung zu verdeutlichen, sollen vor allem der literaturbetriebliche Kontext von Benjamins "Die Aufgabe des Übersetzers", die Akteure, gegen die er sich wendet, sowie die Metaphern und Bilder, in die Benjamin seine Theorie der Übersetzung kleidet, in den Blick gerückt werden. Zunächst gilt es dafür, das komplexe Verhältnis Benjamins zu dem Übersetzervorbild und -antipoden George sowie dessen Kreis zu skizzieren. Ich möchte mich dann insbesondere auf das Bild vom "inneren Bergwald der Sprache selbst" konzentrieren, das Benjamin an zentraler Stelle als subtile Spitze gegen George und dessen Dante-Übersetzung verwendet. An diesem Bild erhellt sich zugleich das von Benjamin herausgestellte distanzierte Verhältnis des Übersetzers zu seinem Material, die sogenannte 'Aufgabe des Übersetzers'.
Archäologie des Arbeiter- und Bastlerstaats : Marc Schweskas Roman "Zur letzten Instanz" (2011)
(2020)
Mit seinem Roman "Zur letzten Instanz" hat der Berliner Autor Marc Schweska 2011 einen lesenswerten und vor allem ungewöhnlichen Roman veröffentlicht. Das liegt nicht daran, dass dieser Roman über die Ostberliner Subkultur der 1980er Jahre letztlich auch ein Berlinroman ist, wie es sie bereits in Überfülle gibt, und auch nicht daran, dass "Zur letzten Instanz" sich immer wieder der Mittel des Schelmenromans bedient. Ungewöhnlich ist Schweskas Roman vor allem, weil er zuallererst ein Bastlerroman ist und sich sowohl inhaltlich als auch formal mit dem Basteln auseinandersetzt. [...] Als Schlüsselfigur im Prozess der Theoretisierung des Bastelns kann Claude Lévi-Strauss gelten. Nachdem der französische Anthropologe in seiner 1962 publizierten Monographie "Das wilde Denken" seine berühmten Ausführungen zur 'bricolage' veröffentlicht hatte, in denen er das Basteln als Ausdruck eines der künstlerischen Tätigkeit nahestehenden 'konkreten Denkens' und den Bastler als Gegenspieler des Ingenieurs bestimmte, avancierte das Basteln zu einem zentralen Konzept strukturalistischer und poststrukturalistischer Theorie und Theoriebildung und wurde im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend als eine maßgebliche Kulturtechnik und als ein zentrales Kulturmodell einer (wie auch immer verstandenen) Postmoderne aufgefasst. "Die Postmoderne", so erklärt etwa Thomas Reinhard, könne deshalb nicht nur als "Periode des Zitats", sondern vor allem auch als "Epoche des Bastlers" charakterisiert werden. In seinem Roman schließt Schweska nun an diesen Diskurs an und zeigt sich mit den strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorien des Bastelns vertraut. Besonders ist "Zur letzten Instanz" aber vor allem, weil Schweska diese Theorien hier auf die DDR bezieht, der - wie allen unter den Bedingungen des Mangels wirtschaftenden Staaten des 'Ostblocks' - eine besondere Affinität zum Basteln nachgesagt wird. Dadurch wendet sich der Autor nicht nur einer bislang unzureichend beleuchteten Episode der Geschichte des Bastelns zu; vielmehr eröffnet er auch eine ungewohnte Perspektive auf die Geschichte der DDR, indem er diese am Beispiel des Bastelns zu erkunden versucht und sich dafür selbst der Mittel des Bastelns bedient.
Der vorliegende Aufsatz geht davon aus, dass es die vermeintlich unspektakuläre, zugewandte 'Volksnähe' des Heiligen sowie seine Fähigkeiten als Prediger sind, die Michael Köhlmeier an Antonius von Padua faszinieren. Jedenfalls zeugen sowohl Köhlmeiers literarische Texte als auch seine Auftritte als Mythen- und Sagenerzähler von einem besonderen Interesse an Formen des kollektiven Erzählens sowie an der Beziehung zwischen Publikum und Redner. Vor diesem Hintergrund verfolgt der Beitrag zum einen die These, dass Köhlmeiers Erzählung sich als literarische Untersuchung zur Tradition der Antonius-Legenden lesen lässt, deren inhärenten Spannungen sie nachgeht und deren Produktionsmechanismen sie offenzulegen versucht. Es gehört zu den gattungskonstitutiven produktiven Problemen der Legende, dass sie ihren Gegenstand sowohl voraussetzen als auch performativ durch das eigene Erzählen herstellen muss: Die Heiligkeit der Person, von der die Rede ist, bildet zugleich Anlass und Ziel des Erzählens. In diesem zirkulären Projekt muss die Legende zum einen das Verhältnis zwischen individueller Handlungsmacht und göttlicher Vorsehung austarieren - der oder die Heilige muss als Person exzeptionell sein oder es erst werden, wobei ihm oder ihr diese Exzeptionalität als transzendente Auszeichnung zugeschrieben wird. Zum anderen verhandelt die Legende das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv - der oder die Heilige muss sich zwar vom Kollektiv absetzen und abgrenzen, ist aber dennoch angewiesen auf die Anerkennung und Beglaubigung durch eine Gemeinschaft. Während die mittelalterliche Antonius-Biographik dieses triadische Gefüge ausbalancieren, heterogene Überlieferungen harmonisieren und widerständige Elemente tilgen muss, um die Lebensgeschichte des Heiligen zur wirkungsvollen Legende zu modellieren, unternimmt es Köhlmeiers Novelle, die plurale Vielstimmigkeit und immanente Widersprüchlichkeit der Überlieferung wieder zu entfalten. Dieses quasi-archäologische, quellenkritische Verfahren erfolgt allerdings nicht um seiner selbst willen, sondern dient, so unsere zweite These, der Etablierung einer eigenen, alternativen Version der Antonius-Legende. Über die produktive Umschreibung der Prätexte und die imaginative Füllung ihrer Lücken findet Köhlmeiers Novelle auf die alte Frage, wie sich Heiligkeit konstituiert, eine neue, durchaus überraschende Antwort: Die Macht zur Heiligung kommt hier nicht der göttlich inspirierten Rede zu, sondern dem Kollektiv.
In dem vorliegenden Beitrag möchte ich mich anhand der ersten Theorie des deutschsprachigen Bildungsromans, Karl Morgensterns "Ueber das Wesen des Bildungsromans" (1819/20), dem Gegenstand 'Geschlecht' als einem elementaren Bestandteil solcher Theorien annähern, der darin dreierlei vollbringt: er wird erstens zur Produktion des Primärobjekts (Roman) poetologisch angestrengt; zweitens wird er zugleich durch die Verfahrensweise der Texte mitproduziert; und schließlich zersetzt er drittens diese Theorien paradoxerweise von innen. Die Ausgangshypothese ist dabei die folgende: Entgegen ihrem Vermögen ('faculty') (als Theorien), den Formverläufen von Literatur nur noch folgen, sie aber nicht mehr (wie noch Poetiken) vorhersagen zu können, sind Romantheorien vielmehr daran interessiert, deskriptiv und damit präskriptiv zu verfahren, und hilfreich bei dieser Beschreibungsarbeit ist die Vergeschlechtlichung ihres Gegenstandes - wenn nicht immer dezidiert auf der Textoberfläche, so zumindest doch auf der Ebene ihrer Verfahrensweisen. Insofern der Roman und seine Form an sich selbst Formgenese verhandeln und diese Verhandlung ab 1800 zu einer wird, die auch die Formen des Lebens und deren Formung beschreibt, kommt den Theorien, die diese Formen von außen regelgeleitet einhegen wollen, eine Sonderrolle zu. Die Romantheorien tragen in die dem Roman korrespondierende Form des Lebens ein spezifisches Verständnis von Geschlecht ein, womit beide Formen - Geschlecht und Roman - in ein Wechselverhältnis zueinander treten. [...] Und im Falle des Bildungsromans lautet das als Arbeitshypothese: Der Bildungs-Begriff wird operativ dort, wo er zur Theorie wird, und zwar zu einer von ästhetischer Erziehung sowie von literarischer Form, Geschlechter-Form und Lebens-Form. Beginnen möchte ich mit einer historischen und ideengeschichtlichen Verortung Morgensterns; mit Blick auf seine Vorlesungen von 1810 gilt es dabei auch, sein Verständnis von Männlichkeit näher in den Blick zu rücken. Nach einführenden Bemerkungen zu der im Fokus stehenden Theorie des Bildungsromans ziele ich auf die Erläuterung seines Gestalt- und Formenverständnisses ab, um nach der Analyse der Geschlechter-Imagines der Theorie (insbesondere ihrer Verfahrensweisen) abschließend auf diejenigen Stellen des Textes näher einzugehen, in denen sich die Theorie selbst untergräbt.
In den letzten Jahren geriet das Themenfeld 'Literatur und Religion' wieder vermehrt in den Fokus der Forschung. Obgleich im Zuge dessen die Relevanz konfessioneller Identitäten für die im 18. Jahrhundert vorgenommene Umgestaltung des Verhältnisses von Sinn und Sinnlichem zum Thema wurde, lässt sich doch ein Forschungsdesiderat konstatieren: Die katholische Konfession ist erstaunlich selten Gegenstand der dem 18. Jahrhundert gewidmeten ästhetikgeschichtlichen Untersuchungen, obwohl die Forschung ihre Bedeutung für die Formulierung der frühromantischen Kunstreligion allgemein anerkannt hat. [...] Erst in jüngster Zeit hat Jonathan Blake Fine in einem Aufsatz auf dieses Forschungsdesiderat hingewiesen. [...] Fine verbindet Lavaters Werk explizit mit der frühromantischen Ästhetik, allerdings wird in seinem Aufsatz die konkrete ästhetische Erscheinungsweise des Katholischen, die ja Ausgangspunkt für die romantische Kunstreligion sein soll, nicht analysiert. Mein Beitrag nimmt Fines überzeugenden Hinweis auf und will einen Beitrag dazu leisten, die Umrisse der protestantisch-spätaufklärerischen Wahrnehmung katholischer Praktiken - und damit die Konstruktion einer 'katholischen Ästhetik' aus protestantischer Perspektive - exakter zu fassen. Dazu setze ich einerseits bei Lavaters "Wenn nur Christus verkündigt wird! oder Empfindungen eines Protestanten in einer katholischen Kirche" an, andererseits bei den polemischen Reaktionen, die dieses provozierte. Das 1781 erstmals gedruckte Gedicht schildert, wie der Titel ankündigt, eine katholische Messe und die diese begleitenden Empfindungen des lyrischen Subjekts. Im Zusammenhang mit der Nicolai-Lavater-Polemik wurde das Gedicht den (Berliner) Spätaufklärern zum Beleg für die 'kryptokatholischen' Tendenzen Lavaters. In meinem Aufsatz geht es mir nicht um die ausführlich aufgearbeitete 'Jesuitenriecherei' Nicolais, sondern um das katholisch-ästhetische Programm, welches Lavater in seiner lyrischen Messeschilderung darstellt und das den protestantischen Spätaufklärern zum Ärgernis wurde. [...] Lavaters Gedicht und die drei derb-polemisch kommentierten Nachdrucke gewähren einen Einblick in die protestantisch-spätaufklärerische Konstruktion eines katholischen Verständnisses von Sinn und Sinnlichkeit. Mit anderen Worten: Die zweifache reformatorische Perspektivierung - einerseits die poetisierte Darstellung der katholischen Messe durch den Zürcher Theologen Lavater, andererseits die Rezeption seiner Gedicht gewordenen Schilderung durch die Spätaufklärer - macht es möglich, die Besonderheit einer als katholisch markierten (und damit eben dezidiert nicht-aufklärerischen, nichtprotestantischen) Ästhetik wahrzunehmen und zu analysieren. Davon ausgehend kann die von Fine konstatierte Faszination, die frühromantisch-kunstreligiöse Entwürfe für den Katholizismus empfanden, genauer an als katholisch markierten Praktiken und Sinnlichkeitsvorstellungen festgemacht werden. Dazu will ich im Folgenden in drei Schritten vorgehen. Den ersten Schritt stellt die Analyse von Lavaters Gedicht "Wenn nur Christus verkündigt wird" dar, insbesondere in Hinblick auf die dort thematisierten Besonderheiten katholischer Sinnlichkeit und ihrer Wirkung auf das lyrische Subjekt. Der zeitgenössischen Kritik dieser Besonderheiten widme ich mich im zweiten Schritt: Anhand von Nicolais 1787 publiziertem Gedichtkommentar und der anonym erschienenen Ausgabe aus demselben Jahr will ich analysieren, was an Lavaters Schilderung dem protestantischen Blick zum Ärgernis gereichte und wie sich eine spätaufklärerische Ästhetik implizit gegen ein als katholisch konstruiertes Sinnlichkeitsverständnis konturierte. Abschließend und zusammenfassend werde ich skizzieren, wie sich das durch die protestantische Polemik sichtbar gewordene katholische Sinnlichkeitsverständnis zu den Ästhetik-Entwürfen des 18. Jahrhunderts verhält.
In ihrem Buch "Verzeichnis einiger Verluste" (2018) experimentiert die 1980 in Greifswald geborene Autorin und Buchgestalterin Judith Schalansky mit einer Reihe unterschiedlicher Schreibweisen und Textsorten, darunter auch, in dem Kapitel "Hafen von Greifswald", mit dem sogenannten Nature Writing, das heißt der nichtfiktionalen, literarisch anspruchsvollen Repräsentation von Natur. Da Schalansky das Verfahren in ihrem Prosastück gleichsam in Reinform vorführt, möchte ich ihren Text zum Anlass nehmen und als Bezugspunkt verwenden, um einige Aspekte des Nature Writings aufzuzeigen und zu diskutieren. Diese betreffen sowohl die formale Bestimmung wie die historische Kontextualisierung naturmimetischer Literatur nach der Romantik. Im ersten Abschnitt werde ich zunächst, noch ohne Bezug auf Schalansky, in groben Zügen die Vorgeschichte des Nature Writings, und zwar mit Blick auf das ästhetische Konzept von Landschaft, skizzieren. Im zweiten Abschnitt beschreibe ich anhand des Beispieltextes zentrale Schreiboperationen, Stilmittel und Vertextungsmuster, die in einem Nature-Writing-Text Naturpräsenz suggerieren. Im dritten Abschnitt möchte ich zeigen, wie sich das initiale Motiv des Nature Writings in Schalanskys Text darin abbildet und verdichtet, dass sich die Verfasserin auf eine bestimmte Weise an die Tradition der romantischen Landschaftsmalerei, verkörpert durch das Werk Caspar David Friedrichs, anschließt und zugleich von dieser abgrenzt. Hierbei rekurriere ich auf den, allerdings mehrdeutigen Begriff der Ekphrasis. Abschließend möchte ich noch kurz auf Einwände eingehen, die gegen das Nature Writing erhoben werden, und Hoffnungen ansprechen, die an das Genre anknüpfen.
Soziologische Theorien weisen von Anfang an, seit Auguste Comte und Max Weber, eine Schlagseite in ihrer Theoriebildung auf und bleiben in ihrer Medienkonzeption beschränkt, wie wir heute wieder in Entwürfen einer Theorie der digitalen Gesellschaft beobachten können. Diese Schlagseite im soziologischen Medienbegriff resultiert nicht nur aus ihrem modernen Blick auf die Gesellschaft, sondern ebenso aus einer medialen Abstraktion; trotz ihrer Empirie sind soziologische Theorien häufig mit einer blinden Stelle in ihrem 'Medienbegriff' behaftet. Zu erinnern sei hier nur an Max Webers Begriff der Rationalität, der höchst abstrakt vom konkreten Lauf der Gesellschaft abgezogen wurde; einer angeblich entzauberten Welt der Moderne, die jedoch in ihrer 'oikonomia' in Wahrheit erst recht vollständig verzaubert auftreten sollte. So blieb und bleibt ihre Modernität, die sie gegenüber der spekulativen, transzendentalen und metaphysischen Philosophie angeblich auszeichnet, ein höchst abstraktes Produkt, das sie freilich in den modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften als etwas höchst Konkretes und Objektives präsentieren oder, aktueller und spezifischer formuliert, statistisch, probabilistisch, stochastisch und algorithmisch errechnen wollen. In diesem medialen Reduktionismus sind heute auch neue soziologische Modelle befangen, die nunmehr die digitale Gesellschaft in einem theoretischen Rahmen unterbringen wollen, dabei aber die letzte verbliebene gesellschaftliche Bodenhaftung verlieren und vollends in einen digital-informatischen Rationalismus abdriften, gegen den dann kein Widerstand mehr möglich ist.
Fast zweieinhalbtausend Jahre nach dem Entstehen der sophokleischen Tragödie greift Max Frisch diesen Stoff in seinem Roman "Homo faber" (1957) auf: Nicht nur werden "Oedipus und die Sphinx" explizit genannt, auch erbt der Roman, der als Ich-Erzählung gestaltet ist, die Motive Inzest, Blindheit und Hybris und spielt in Form ausführlicher Rückblenden die analytische Struktur an, durch die sich die Mythenverarbeitung der antiken Tragödie auszeichnet. Diese Bezüge auf den Ödipusstoff wurden in der Forschung breit gewürdigt. Im vorliegenden Beitrag widme ich mich in diesem Rahmen besonders dem Gattungswechsel von der Tragödie zur Ich-Erzählung. Wie zu zeigen ist, erteilt Frisch der tragischen Notwendigkeit durch ihre Transformation in die Ich-Erzählung eine Absage, indem er jeglichen Bezug auf eine tragische Notwendigkeit dem Kalkül seines Erzählers zurechnet. Zwar inszeniert sich Walter Faber, Hauptfigur und Ich-Erzähler des Romans, beständig selbst als mythologischer Analphabet; doch setzt er das tragische Verkennen des unschuldig-schuldigen Helden als Deutungsmuster seiner eigenen Biographie ein. Verdeckt wird dadurch, so zeigt die kritische Lektüre der Selbststilisierung des Erzählers, zum einen die eigene Schuld am Inzest mit der Tochter und an ihrem Tod, zum anderen die einstige Ablehnung des noch ungeborenen Kindes, die den späteren Inzest erst ermöglicht. Mit der beabsichtigten, jedoch nur vermeintlich vollzogenen Abtreibung spielt Frisch, so meine ich, auf die Vorgeschichte im Ödipusmythos an - auf den versuchten Mord am eigenen Kind durch Laios. Ursächlich dafür, dass Ödipus als ein Fremder nach Theben zurückkehrt, ist nämlich, dass er als Kind von seinen Eltern ausgesetzt wurde und wider Erwarten überlebt. Wollte Laios mit dieser Tat eigentlich der Prophezeiung, sein Sohn werde ihn töten, entgegenwirken, so sorgt er gerade dafür, dass sich der Orakelspruch erfüllt. Auch in Frischs Roman ist es die Ablehnung des Kindes, die dafür verantwortlich ist, dass sich Vater und Kind unerkannt wiederbegegnen. Das tragische Nichtwissen, das der Ich-Erzähler beständig für sich in Anspruch nimmt, ist lediglich deren Folge. In "Homo faber", so meine These, gibt sich 'Laios' für 'Ödipus' aus. Diese Strategie zur Distanzierung von Schuld im biographischen Erzählen steht in Zusammenhang mit dem subtilen, doch wesentlichen Zeitbezug des Nachkriegsromans. Frischs "Homo faber" setzt sich zum einen mit der Verdrängung der Erinnerung an die nationalsozialistische Terrorherrschaft auseinander, zum anderen reflektiert er als ein Technik-Roman den Zusammenhang von Rationalität - die in der Angst vor dem Tod wurzelt sowie in den Glauben an die technische Beherrschbarkeit der Natur mündet - und Lebensfeindlichkeit als Geringschätzung des nachkommenden Lebens. Es ist diese Disposition, die in der Figur Faber Gestalt gewinnt und daher zunächst herauszuarbeiten ist.
Adornos Verhältnis zu Kunst und Ökonomie ist ebenso bekannt wie kompliziert. Die spätkapitalistische Gesellschaft und ihre Subjekt- und Lebensformen leiden nach Adorno unter einer problematischen Vorherrschaft der Ökonomie, die Adorno und Horkheimer "totale Kapitalmacht" nennen. Die "ökonomische Durchorganisation" der Gesellschaft zeigt sich danach auch in der Kultur, wo sie unter dem Stichwort 'Kulturindustrie' firmiert. [...] Im scharfen Kontrast zur Kulturindustrie sollen in autonomen Kunstwerken hingegen keine ökonomischen Werte von Belang sein. Ihre Negativität gründet vielmehr in der autonomen "Geltungssphäre" der Kunst "sui generis", der kritischen Abkehr von der "empirische[n] Realität" samt ihrer kapitalistischen Werteordnung und der Überschreitung "vorgefundene[r] ästhetische[r] Normativität", wie Albrecht Wellmer zusammenfasst. Dennoch drängt sich der Verdacht auf, dass auch die Losgelöstheit von Marktprinzipien eine spezifische Ökonomie voraussetzt, eine poietische Ökonomie des Kunstwerks, das seine Darstellungselemente derart anordnen muss, dass es sich der eingängigen Konsumierung und Verwertung verweigert. Es ist diese Ökonomie der Kunst - so die These -, die zum einen das 'Befremden' angesichts der kapitalistischen Lebensformen zu Bewusstsein bringt und zum anderen darüber hinausverweisen soll. Ziel des Aufsatzes ist es daher, das Verhältnis sowohl der kulturindustriellen Produkte als auch der autonomen Kunst zu den ökonomischen Bedingungen zu beschreiben, unter denen nach Adorno ja beide entstehen, um vor diesem Hintergrund ihre je eigene poietische Ökonomie genauer in den Blick zu nehmen.
Die Auseinandersetzung mit Stefan George war für Theodor W. Adornos philosophischen Werdegang entscheidend. Dieser Befund wird durch eine einfach quantitative Analyse bestätigt: Georges Name erscheint in Adornos "Gesammelten Schriften" 468 Mal. Zum Vergleich: Kafka wird 302 Mal, Goethe 298 Mal genannt. Gleichwohl hat die Forschung, trotz einiger Einzelstudien zur George-Rezeption Adornos, die Systematik und Struktur seiner George-Lektüre bislang nicht hinreichend herausgestellt. Adornos oft konstatierte Ambivalenz, die Georges philosophische 'Rettung' motiviert, erklärt sich aus seiner Doppelposition als Angehöriger der linken Frankfurter Intelligenz auf der einen, als Komponist der Zweiten Wiener Schule auf der anderen Seite - eine sozialgeschichtliche Konstellation, vor deren Hintergrund sich das Zusammenspiel dreier Problemfelder vollzieht: Erstens handelt es sich bei Adornos George-Lektüre um die Übertragung der materialistisch-dialektischen Methode auf die Kunstbetrachtung; diese hängt zweitens mit dem Problem des 'Klassischen' zusammen; drittens mit Adornos musikalischer Beschäftigung mit George. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Versuch, die Verflechtung dieser Problemfelder darzustellen und damit die Logik von Adornos komplexem Verhältnis zu George zu erhellen.
Die Zeitspanne, während der Georg Trakl lebte und dichtete (also das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert), war, eingebettet in die Hochphase des europäischen Kolonialismus und des bürgerlichen Heroenkultes, geprägt durch eine Hochkonjunktur des Magischen, Mythischen, Okkulten, wie entsprechende mentalitätsgeschichtliche Studien eindrucksvoll belegen. [...] Gegenüber der 'poésie pur' der Symbolisten, welche jenes Aufleuchten der Worte in ein hermetisches Spiegelkabinett sperrten, zeichnet Trakls Dichtung eine besondere Eigentümlichkeit aus: Mit ihren magischen Zeichen webt sie ein imaginatives Panorama jener 'mythischen Lebenswelt', macht sie diese in ihren wesentlichen Strukturen sinnlich nachfühlbar. Damit gibt sie der Sprache Augenblicke einer gleichsam körperlichen Schwere und Tiefe zurück. [...] Die folgende Reise in die Zeichenlandschaft von Trakls Dichtung, die semiologisch wie ein "einzige[s] Gedicht" zu betrachten ist, sollte nicht zuletzt zeigen, dass das Thema 'immanente Magie' dichterischer Sprache es verdient, sowohl vor einem ausgrenzenden, hybriden Rationalismus als auch vor seiner Vereinnahmung durch okkultistische Esoterik bewahrt zu werden.
Am Fall Husserl soll aufgezeigt werden, wie das wiederholte Von-vorn-Beginnen unweigerlich in eine bestimmte Form des Philosophierens mündet. Dies zu verfolgen erfordert aber weniger eine philosophische als eine poietologische Perspektive. Die konstante Beschäftigung mit dem Anfang führt zu besonderen Schreibformen und entwirft ganze Lebensentwürfe. Dem entspricht ein Lektüremodus, der besonderen Wert auf diejenigen "höchst artistische[n] Volten und Manöver" legt, die im Umgang mit Anfangs- und Ursprungsszenarien zu beobachten sind, und der die daraus erwachsenden praxeologischen Bestimmungen und poetologischen Entwürfe als notwendiger Bestandteil dieser Bemühungen versteht. Es geht also weder darum, die philosophischen Aporien rund um den richtigen Anfang zu lösen, noch darum, ein Theoriemodell des Anfangens zu entwerfen, das in der Literaturwissenschaft aufzunehmen und anzuwenden wäre. Im Fokus stehen soll vielmehr das Zusammenspiel von Epistemologie und Po(i)etologie, das sich über das Anfangsproblem präsentiert und für das sich die "unendliche Aufgabe" von Husserls Phänomenologie, aufgrund der Ernsthaftigkeit ihres Rückfragens und der daraus resultierenden Denk- und Schreibpraxis, besonders eignet. Um die textuellen Konsequenzen der Anfangsaufgabe herausarbeiten zu können, soll in einem zweiten, sich von Husserl lösenden Schritt auf einen Autor zurückgegangen werden, der in der literaturwissenschaftlichen Forschung bereits vielfach als ein ständig neu beginnender und nie zum Schluss kommender beschrieben wurde: Franz Kafka. [...] Im Folgenden sollen also diese beiden Sachverhalte untersucht werden: Zum einen: Welche poetologischen Perspektiven auf das Anfangsproblem schlagen sich in Husserls vielfältigen Fragestellungen und Reflexionsfiguren nieder (III)? Zum anderen: Inwiefern kann Kafkas Form des ständigen Neubeginnens als konsequente Fortführung der Husserl'schen Problemstellung verstanden werden (IV)?
Die Habsburgermonarchie lässt sich von heute aus betrachtet als transnationales Projekt begreifen, das mit seinen Vorzügen, aber auch mit seinen Problemen vielfach an die EU erinnert. Im "Mann ohne Eigenschaften", der am Vorabend des Habsburgerreiches spielt, genauer: im zweiten Teil des Romans, "Seinesgleichen geschieht", wird die letztlich gescheiterte Suche nach einer verbindenden transnationalen Idee - jenseits der Akzeptanz eines gemeinsamen Monarchen - geschildert. Unter anderem hieran knüpft Menasse in seinem Roman an und transponiert damit - so die These der vorliegenden Untersuchung - Musils Roman auf die Ebene der EU, so dass sich Menasses Roman als 'Mann ohne Eigenschaften 2.0' apostrophieren lässt. Dies scheinen auf den ersten Blick auch die deutlichen Verweise auf den "Mann ohne Eigenschaften" in der "Hauptstadt" besagen zu wollen: So wird nicht nur das Werk mehrmals ausdrücklich genannt, sondern auch dessen berühmte Eröffnungspassage parodiert. Das allzu Offensichtliche des Bezuges wie auch die Komik, die mit im Spiel ist, suggerieren dem Leser leicht fehlende Tiefe. Diese Spur soll hier jedoch ernstgenommen werden; im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Bezüge auf Musils Hauptwerk bei Menasse in ihrer Tiefe auszuloten. Zunächst werden die Parallelen zwischen der musilschen "Parallelaktion" und dem "Jubilee Project" in der "Hauptstadt" untersucht. Danach soll den Spuren von Musils Unterscheidung zwischen "Wirklichkeitssinn" und "Möglichkeitssinn" und damit dem Utopischen als einer den Zeitgeist transzendierenden Kraft in der "Hauptstadt" nachgegangen werden. Abschließend treten Prolog und Epilog in den Fokus der Untersuchung und es wird versucht zu klären, was es mit dem rätselhaften Schwein dort auf sich hat.
Kaum ein Text von Johannes R. Becher hat in der Weimarer Republik für so viel Furore gesorgt wie sein zweiter Roman "(CHCl=CH)3As (Levisite) oder Der einzig gerechte Krieg (1926)", stand er doch im Mittelpunkt des gegen den Autor eingeleiteten Hochverratsprozesses, der den öffentlichen Protest verschiedener Schriftsteller gegen die Unterdrückung freier Meinungsäußerung zur Folge hatte. Als Levisite 1926 erschien, ermittelten die Behörden bereits einige Zeit gegen den Kommunisten Johannes R. Becher. [...] Da die Forschungsarbeiten zu Becher schwerpunktmäßig aus der DDR-Germanistik stammen, kritisieren die vorliegenden Studien oftmals die Form, in der die ideologische Botschaft artikuliert wird. Geprägt von der Skepsis gegenüber experimenteller Sprachgestaltung, wie sie in der Formalismusdebatte am deutlichen zum Ausdruck kommt, bemerken sie im Buch einen "krasse[n] Widerspruch zwischen dem sprachexperimentellen Charakter der Dichtung und den politischen Intentionen des Dichters", der die Arbeiterklasse als Leserschaft daher eher abschrecke. Dabei ist der Roman aus dieser Perspektive nur sehr schwer zu fassen. Hierfür ist ein Ansatz vonnöten, der in der Lage ist, die ästhetische Form und den Inhalt zusammenzudenken, und der das Werk zudem im Kontext des Hochverratsprozesses gegen Becher beleuchtet. Denn "Levisite" ist als bewusster Skandalroman angelegt und in dieser Weise als performativ-politisches Statement, das im fiktionalisierten Rückbezug auf den Autor dessen Entscheidung für den Kommunismus legitimiert. Das Problem, wie man Kunst und Leben zusammenbringen soll, beschäftigt die Frühe Moderne seit den naturalistischen Manifesten. Becher selbst vertritt Zeit seines Lebens ein Konzept, nach dem beide Dimensionen unmittelbar ineinander übergehen oder sich gegenseitig befruchten. Bechers Werk wird also nur verständlich, wenn man die Selbstinszenierungsstrategien seines Autors mit in den Blick nimmt. Dies gilt auch für die einer solchen Egozentrik scheinbar eher abträgliche politisch-engagierte Literatur der 1920er Jahre, wie sich am Beispiel von "Levisite" besonders gut zeigen lässt. Im Gegensatz zum konventionellen Bild der proletarisch-revolutionären Literatur, das vom Sozialistischen Realismus und der Arbeiterliteratur geprägt ist, erinnert der Roman den heutigen Leser daran, dass es eine kommunistische Avantgarde auch außerhalb der Theaterexperimente eines Erwin Piscator oder Bertolt Brecht gab. Er zeigt eine kommunistische Bewegung, die noch auf der Suche nach dem idealen Weg ist, um die politischen Machtstrukturen durch Kunst verändern zu können. Bechers Antwort auf diese Frage hat viel mit ihm selbst zu tun, weil sich die intendierte Wirkung des Buchs nicht unbedingt dadurch entfaltet, dass sich der Leser die Protagonisten zum Vorbild nimmt. Der Roman ist vielmehr das wichtigste Instrument Bechers, die Wahrnehmung seiner eigenen Person in der Weimarer Republik zu beeinflussen und sich selbst als Exempel des politisch verfolgten Schriftstellers zu inszenieren, womit der Inhalt der Romanhandlung in der Realität Bestätigung findet.
Kafkas Romanfragment "Das Schloß" wird üblicherweise nicht mit einem persönlichen Handlungsspielraum oder Emanzipation in Verbindung gebracht. Und doch lohnt es sich, den Roman neu zu betrachten und die Frage zu stellen, ob man sich K. nicht auch als einen glücklichen Menschen vorstellen kann, dem sich durchaus ein Raum für Agency öffnet. Zwar ist die Schlosslandschaft, in der K. sich bewegt, alles andere als frei, und doch wird der Roman durch zahlreiche Ereignisse bestimmt, in denen K. auf eigentümliche Weise frei wirkt. [...] K.s Agency zeigt sich demnach vor allem dann, wenn man sich nicht so sehr auf seine absurde Unfreiheit, sondern eher auf seine absurde Freiheit konzentriert. Dieser Perspektivwechsel soll mit Hilfe des Konzepts des Institutionenromans vorgenommen werden. Es eignet sich nicht nur dazu, K.s Gefangensein auf dem Schlossterritorium zu analysieren, sondern ebenso, seinen geschickten Befreiungskampf in den Blick zu bekommen, indem man das Zusammenspiel von Arbeit und Müßiggang in unterschiedliche institutionelle Kontexte einordnet. K.s Freiheit taucht so in unübersichtlichen Schichtungen und Zusammenhängen auf und K. versteht sie zu nutzen, indem er sich, wie Kant es fordert, mit Entschlossenheit und Mut seines eigenen Verstandes bedient. Aufgrund der Gegenmacht des Schlosses kommt es aber auch zu 'Bedienungsfehlern' des Verstandes. Deshalb erzählt der Roman neben K.s Erfolgen auch von den Widerständen und Rückschlägen beim optimistischen Gebrauch der Kant'schen Aufklärungsformel. Den theoretischen Rahmen meiner Untersuchung bilden Konzepte, welche die Unterdrückung (Campe), Aushebelung (Vogl) und Förderung subjektiver Agency (Rancière) zum Thema haben.
Thomas Mann dachte arbeitsökonomisch. Seine Vorhaben verwirklichte er meist zügig und beharrlich, und gute Einfälle und Ideen verschenkte er selten. Was er ausarbeitete, publizierte er umgehend. Nur wenige seiner Texte hatten ein umwegiges oder marginalisierendes Schicksal. Seine drei frühen Novellen-Sammlungen entwickelten eine Typologie und Phänomenologie der Möglichkeiten scheiternden und gelingenden Lebens. Mann arbeitete sich dabei in einer aufsteigenden Linie von "Der kleine Herr Friedemann" über die "Tristan"-Sammlung von 1903 bis zum "Wunderkind"-Bändchen zu Glücksgestalten hinauf. Zwei frühe Texte, "Der Tod" und "Der Wille zum Glück", fanden zwar Eingang in "Der kleine Herr Friedemann", fehlen später jedoch in den Novellenbänden der Berliner und der Stockholmer Ausgabe. [...] Mann selektierte und organisierte seine Texte jedenfalls nicht nur nach formalen oder artistischen Gesichtspunkten, sondern auch material und teleologisch; er betrachtete seine Dichtung als pädagogischen Versuch der "Rettung und Rechtfertigung" des eigenen Lebens und wollte durch paradigmatische Gestaltungen erkunden, ob ein gelingendes, subjektiv beglückendes und sozial verantwortliches Leben in Deutschland möglich sei. Erklärt das die Marginalisierung der Novelle in Manns Selbsteditionen? Bis heute wird sie von der Forschung vernachlässigt. [...] Der Erzählstil der Novelle muss nicht von den späteren Mann-Texten her negativ gewertet werden und als motivischer Vorgriff wäre allererst auf die Frage nach dem "Glück" und die frühe Verknüpfung von Künstlertum und Überlebenskunst mit dem "Willen zum Glück" zu verweisen. Die Frage nach dem Glück gibt später auch einer anderen Novelle den Titel: "Ein Glück" erzählt von Liebesleid, weiblicher Solidarität und Mitleid. Dieses episodische Glück eines solidarischen Moments kontrastiert geradezu die starke Erzählung vom Lebensglück, von einem erfüllten und also gelingenden Leben, die die frühe Novelle 1896 bietet. Mit "Felix Krull" entwirft Mann später auch eine weitere Glücksgestalt, bevor er mit Castorp seine Kette von "Verfallsmenschen" um ein weiteres "Sorgenkind des Lebens" erweitert. Die frühe Verknüpfung von Künstlertum mit "Glück" sollte bereits dazu ermahnen, die Novelle "Der Wille zum Glück" nicht zu leicht zu nehmen.