RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse
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Hamilton vergleicht Freuds Flirt-Kritik mit der platonischen Auffassung von Mimesis. Ihr zufolge kann die Nachahmung nur abgeleitete, mildernde Darstellungen des Todes hervorbringen und so den Glauben an die eigene Unsterblichkeit stützen. Mit Rückgriff auf Roger Caillois' Schriften zur Mimikry lässt sich Mimesis jedoch auch als eine Praxis der Selbst-Verausgabung beschreiben: Wie im Flirt, so setzen wir uns auch in der Mimesis einer Verschwendung aus, in welcher Selbst-Verlust zu einer anderen Form der Gemeinschaft führen kann.
Ist der Flirt dem Krieg und dem Tod zeitgemäß? Zumindest als Marginalie, als brüsk negierter Vergleichspunkt, findet er den Weg in Freuds "Zeitgemäßes über Krieg und Tod". Diese Marginalie führt im Modus der Negation ein Zeitkonzept in Freuds Text ein, das dem Stand, den Freud psychoanalytisch im Text gegen die Erschütterungen des Krieges findet, den Boden zu entziehen droht. Das Zeitgemäße der psychologischen Wahrheit - die Freud im A-temporalen des Unbewussten vor jeglichem Zeiteinfluss schirmt - findet im Flirt sein Unzeitgemäßes. Über das vehemente Verwerfen des Flirts flüstert Freuds stiller Dialog mit Nietzsches "Unzeitgemäßen Betrachtungen", der sich im Titel ankündigt, vielleicht am lautesten.
Der Beitrag untersucht die Poetik des anonymen um 1929 erschienenen pornografischen Lyrikbandes "Die braune Blume". Der Text wird im obszönen und pornografischen literarischen Diskurs kontextualisiert. Seine Poetik ist, wie die Analyse zeigt, von einer restriktiven ökonomischen Regel geleitet und von einer einzigen Metapher bestimmt. Im Rückgriff auf Slavoj Žižeks Identifizierung des MacGuffin von Hitchcock mit Lacans Objekt klein a wird die Metapher der braunen Blume als poetisches Floralobjekt gelesen
Der Beitrag nimmt die Videoarbeit "Who's listening? 5" (2003–2004) des taiwanischen Künstlers Tseng Yu-Chin zum Anlass, um ausgehend von den so verstandenen körperlichen "Übergriffen" im Bild auch das Übergreifen der künstlerischen Arbeit auf das hiesige Publikum zu diskutieren. Durch die ästhetische Form, wird, so die These, eine Verführungsphantasie nicht nur gezeigt, sondern auch agiert.
In "The Birds" zeigt Hitchcock, wie der "oberflächliche" amerikanische Flirt ganz anders als bei Freud verstanden werden kann: nämlich als Erkundungsgang in einem Jenseits des Lustprinzips, bei dem Tod, Trauer und Begehren zusammentreffen. Der metonymische Zusammenhang zwischen den beiden 'love birds' Melanie und Mitch und dem Krieg der Vögel zeigt nicht die Angst vor Freuds "ernsten Konsequenzen", sondern, im Flirt und seiner Oberfläche, die Angst vor dem Tod als der Angst vor dem Leben.
Wir Melancholiker
(2019)
Der Beitrag, Protokoll einer (auto-)poetologischen Lektüre, exponiert in Freuds Bezugnahme auf den "amerikanischen Flirt" zwei gegen- läufige Bewegungen. Einerseits ist sein Text Vollzug dessen, worüber er spricht: ein Flirt (mit dem amerikanischen Englischen). Andererseits darf "Flirt" nicht "Flirt" selbst bleiben, sondern hat "von vornherein" auf anderes zu verweisen: Zwang zu einer Hermeneutik, die aus dem Flirt exakt das herausschält, was sich an Freuds Sätzen von selbst versteht: "nichts".
Reize des Vorüber
(2019)
Der Flirt hat eine besondere Beziehung zum Tod. Die Todesbezogenheit reicht tiefer als der gegenwärtige Abgesang auf den Flirt, der wegen Online-Dating und #MeToo angeblich ausstirbt. Wenn der Flirt bei Sigmund Freud im Kontext von Krieg und Tod auftaucht, ist dies zwingender, als es zunächst scheint.
Rezension zu Gabriel Mages: Die Übertragung bei Jacques Lacan, Turia und Kant, 2017; Bruce Fink: Lacan on Love. An Exploration of Lacan's Seminar VIII, Transference, polity press, 2016; Achim Geisenhanslüke: Die Sprache der Liebe. Figurationen der Übertragung von Platon zu Lacan, Wilhelm Fink, 2016.
Klaus Heinrich im Gespräch mit Wolfram Ette und Volkmar Billig zur Frage, in welcher Weise gerade die Städte eine gattungsgeschichtliche Utopie zu formulieren in der Lage sein könnten, die alle Konflikte, Brüche und Unvereinbarkeiten, die das Leben der Menschen bestimmen, ausstellen? Sind Ruinen, Brachflächen und die in die Stadt einwachsende Natur ein Indiz für ökonomischen Niedergang und stadtplanerisches Versagen oder drückt sich daran, wenn auch vielleicht ungewollt, eine realistische Korrektur eines falschen stadtplanerischen Rationalismus aus? - Religionswissenschaft thematisiert, Klaus Heinrich zufolge, "das Verdrängte der Philosophie". Neben den Religionen hat sie daher auch die Künste zu Bundesgenossen - und eben die Psychoanalyse, die selbst einen Gegenentwurf zum Rationalismus der europäischen Aufklärung praktiziert.
Mit der Montage von vier szenischen Verdichtungen möchte der Beitrag zunächst nachzeichnen, wie sich Platons Unterscheidung von Himmlischer und Irdischer Liebe bei Thomasius, Kant, Forster und Hegel zur männlichen Affektökonomie eines Denkens der Ästhetik ausgeprägt hat. Es wird sich sodann die Frage stellen, ob selbst noch Freud in den problematischen Grenzen einer solchen Ästhetik gefangen bleibt, als er 1907 in Rom fasziniert vor Tizians Gemälde "Himmlische und Irdische Liebe" steht, ins "Phantasieren" kommt und beschließt, seine "Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens" zu verfassen.
Humorgebilde der Übertragung : die schöpferischen Akte des Symptoms, die Träume und das Lachen
(2018)
Weit entfernt von einer Klassifikation "psychischer Erkrankungen" mittels objektivierter Zeichen begreift die analytische Konzeption das Symptom als eine singuläre "Kompromissbildung", die für das Subjekt den Wert eines Rätsels hat. Diese Singularität sowie ein In-Perspektive-Setzen des Rätsels wecken die Kreativität des Symptoms in der analytischen Kur, sobald das Symptom hier auf einen "Traumapparat" trifft und es möglich wird, die fundamentalen Fragen des Subjekts in der Übertragung in Bewegung zu setzen. Daher kann der Vorwand des Symptoms die Realisierung aufkeimender Übertragungsbildungen auslösen, bis diese häufig ein lautes Lachen verursachen: Zeichen der Bewältigung innerer Konflikte und der Enthüllung der Wahrheit des Begehrens. Von der Klage zum Humor, vom Leiden zum Lachen - die fruchtbaren Bewegungen, die durch die Sprache des Symptoms initiiert werden, durchlaufen den komplexen und beweglichen Überschwang der Träume, die die interpretierbaren Beziehungen durch die sprachliche Modifikation des Körpers und der Affekte liefern. Wäre die subversive Kraft des durch die Deutung hervorgerufenen Lachens dann eine Art der Heilung der zuvor im Symptom eingekapselten Figuren?
Extrakt
(2018)
Mit Nietzsches Rede von der "Wahrheit als Weib" verabschiedet sich die fröhliche Wissenschaft von jeder idealistischen Philosophie, die dem Phantasma der durch einen männlichen Akt epistemologischer Gewalt entschleierbaren 'nuda veritas' aufsitzt. Wenn man Nietzsches Bezug auf die mythologische Baubo und deren Geste der Selbstentblößung nachverfolgt, wird Nietzsches Praxis als Überwindung des Willens zum Wissen deutlich erkennbar. Denn jene Geste der Baubo, die sich jeder ultimativen Deutung entzieht, bleibt dennoch äußerst wirkmächtig, und das nicht nur für Nietzsche selbst: Der Text schlägt vor, Georges Batailles Mobilisierung der Figur des 'Acéphale' in den 1930er Jahren als Variation der Baubo zu lesen - dies auch, jedoch nicht nur aufgrund ikonografischer Affinitäten. Gleiches gilt für Jacques Lacans theatralische Inszenierung von Gustave Courbets Gemälde "L'origine du monde", einer wichtigen Quelle für dessen "Seminar III: Die Psychosen". Diese Filiationen der Baubo eröffnen ein Denken der Unmöglichkeit eines Wissens vom eigenen Ursprung, das kastrierend-bedrohlich, in seiner Rätselhaftigkeit fetischistisch reizend oder fröhlich-affirmativ besetzt werden kann. Ob die apotropäische Geste der Baubo als obszön, (unheil)schwanger, tröstend oder belustigend empfunden wird, an ihr stellt sich unvermeidlich die Frage nach der sexuellen Differenz und den Möglichkeiten der Symbolisierung des Weiblichen im männlichen Diskurs.
Der Beitrag besteht aus Cassins Zitatsammlung, die ihrem Versuch zugrunde liegt, die Psychoanalyse, ausgehend von der antiken, von Aristoteles und Platon gleichermaßen bekämpften Sophistik, zu denken. Dabei werden vor allem die Spuren herausgearbeitet, die die Sophistik im Werk Jacques Lacans hinterlassen hat. In spielerischer Weise wird die Sophistik aus dem Schatten der aristotelischen Metaphysik hervorgeholt und die Psychoanalyse, insbesondere diejenige Lacan'scher Prägung, als radikale Setzung auf die Wirkung des Buchstabens in neuem Licht dargestellt.
Der Beitrag erkundet die besondere Zeitlichkeit der Psychoanalyse ausgehend von Muße und Müßiggang, Konzepten, die in Nietzsches "Fröhlicher Wissenschaft" eine wichtige Rolle spielen, in Freuds Werk, in dem bekanntlich zahlreiche Arbeitsbegriffe dominieren, jedoch kaum vorkommen. Dennoch lässt sich im Briefwechsel zwischen Freud und Arnold Zweig eine wichtige Spur des Müßiggangs für Freuds eigenes Schreiben aufzeigen. Freud spricht in einer signifikanten Passage, in der es um die existenzielle Bedrohung durch den Nationalsozialismus geht, von einem "Überschuss an Muße". Aus dieser Suspension heraus entsteht sein letztes großes Schreibprojekt: "Der Mann Moses". Muße erweist sich zunehmend als ein Begriff, in dem sich eine andere Zeitlichkeit eröffnet, die etwas mit der Arbeit des Unbewussten in der Psychoanalyse zu tun hat. Der Beitrag schließt, indem die Autorin ihre persönliche Erfahrung dieser anderen Zeitlichkeit schildert. Dabei gerät der Warteraum des Psychoanalytikers als Schwellenraum zwischen der alltäglichen Arbeit und der Arbeit in der Psychoanalyse in den Blick.
Der Begriff und das Thema einer "Fröhlichen Wissenschaft" sind bei Nietzsche paradox, kämpft der Philosoph doch in vielen seiner Texte gegen die Wissenschaft. Denn dem Begehren nach Wissen haftet etwas Reaktives und somit Trauriges an. Wie wird nun eine Leserin Freuds diese Ambiguität verstehen, wenn sie sie ins Verhältnis mit der doppelseitigen und komplexen Verbindung von Todestrieb und sexuellem Trieb setzt?