800 Literatur und Rhetorik
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Caroline Sauter beschäftigt sich am Beispiel der Theorie und Praxis des Kommentierens bei Walter Benjamin damit, wie traditionelle religiöse Kommentarformen in Kommentare zu moderner Literatur übertragen werden und vice versa. Dabei wird die strikte Grenzziehung zwischen Theologie und Säkularisierung unterlaufen, die gerade in der Benjaminforschung gerne bemüht und auf die Formel einer vermeintlichen Alternative von "Messianismus vs. Materialismus" gebracht wird. So zeigen zwei konkrete Beispiele aus Benjamins Einbahnstraße (1928) und seinen Brecht-Kommentaren (1938), dass Theologie und Philologie - laut Benjamin die beiden "Grundwissenschaften" des Kommentars - in seinem Kommentarwerk ineinander übergehen. Die Alternative von 'Theologie' einerseits und 'Säkularisierung' andererseits ist also für Benjamin nicht ohne weitere Differenzierung haltbar; vielmehr durchdringen die beiden Dimensionen einander gerade in seinem Umgang mit der Gattung des Kommentars, der ein kritisches Verständnis der Theologie selber anschaulich macht.
Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Kyung-Ho Cha widmet sich in seinem Beitrag Benjamins Reaktion auf die Entdeckung der Kernspaltung im Jahre 1938. Den Ausgangspunkt des Aufsatzes bildet der Vergleich zwischen der Methode, die seiner Arbeit am Passagen-Werk zugrunde liegt, und der "Methode der Atomzertrümmerung", womit er sich auf die Kernspaltung bezieht. Im Aufsatz wird gezeigt, wie Benjamin mit dem Begriff aus der Kernphysik die in der Geschichte verborgenen und unsichtbaren Energien zu erfassen versucht.
Ist es möglich das Konzept des Ritornells in eine Philosophie des Spiels einzubinden und mit Benjamins Philosophie der Zweiten Technik, in deren Zentrum bekanntermaßen das Spiel steht, so zu verbinden, dass das Spiel als Teil der Technik erscheint und die Ästhetik ihrerseits als Teil dieses Spiels? Dieser Frage geht Astrid Deuber-Mankowsky in ihrem Beitrag in Form eines spielerischen Versuchs nach. Elemente dieses Versuchs sind die Texte von Deleuze und von Deleuze und Guattari zum Konzept des Ritornells und der dazugehörigen Philosophie der Wiederholung, Benjamins verstreute Ansätze zu einer Philosophie der Technik und der Videofilm "Seeing Red" der US-amerikanischen Experimentalfilmemacherin Su Friedrich. "Seeing Red" spielt mit dem Genre des Diary Films in der sich ausbreitenden Vlog-Kultur. Der Film ist jedoch, wie Deuber-Mankowsky zu zeigen unternimmt, mehr als ein Spiel mit Genres: Su Friedrich betreibt das Filmen selbst als ein Spiel im Sinne des Ringelreihen-Spiels von Deleuze und Guattari: als eine Passage und als eine Bewegung der Intensivierung, als ein Spiel mit Wiederholungen und ein Abschreiten von Variationen. Dies lässt sich freilich nur dann mit dem Begriff der Technik verbinden, wenn Technik nicht instrumentell - und das heißt, auch nicht anthropozentrisch - gedacht wird, sondern, wie Benjamin vorschlägt, in der Nähe zum Spiel, das, wie er schreibt, als "Wehmutter jeder Gewohnheit" auftritt. So ist es von der kleinen Variation nur ein Schritt bis zur unermüdlichen Wiederholung der Versuchsanordnung, welche das Experiment auszeichnet.
Indem Benjamin die "Umkehr" als zentrales Element herausgreift – also das Verwandeln von Leben in Schrift und nicht von Schrift in Leben -, löst er Kafka aus einer nur auf das Judentum beschränkten Bedeutung und zeigt dessen Relevanz für das Verständnis von Geschichte überhaupt. Die Form des Kafka’schen Werks enthalte "Hinweise auf einen Weltzustand". Insofern tut sich in der Auseinandersetzung zwischen Benjamin und Scholem bezüglich der Frage von Heiligkeit und Schrift etwas Neues auf: Wie wahre Hoffnung nur für die Hoffnungslosen ist, so erscheint das Verständnis echter Heiligkeit als rein theologischer Kategorie durch die Erkenntnis der nicht mehr heiligen Schrift bedingt.
In seinem Aufsatz rekonstruiert der Literatur- und Medienwissenschaftler Nicolas Pethes die Verwendung des Experimentbegriffs in Benjamins Schriften und verfolgt seine Entwicklung von dessen frühen Untersuchung "Über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" bis zum "Passagen-Werk". Dabei soll nicht nur die Bedeutung der Idee des Experiments, sondern auch der experimentelle Charakter von Benjamins eigener Schreibweise herausgearbeitet werden. Das Experiment, das eng verwandt ist mit Test und Spiel, ist Teil einer Darstellungsstrategie, mit der Benjamin die Diskontinuität der Kunst- und Gesellschaftsgeschichte beschreiben will.
Ausgehend von Benjamins Texten erörtert die Wissenschaftsphilosophin Christine Blättler das in den Science Studies diskutierte Verhältnis von Genesis und Geltung und die damit verbundene Frage hinsichtlich der angemessenen Darstellungsweise von Erfahrung unter epistemologischen und sozialphilosophischen Gesichtspunkten. Sie geht dabei vom New Experimentalism aus, welcher sich gegen den in der Wissenschaftstheorie lange Zeit vorherrschenden Primat der Theorie wendet. Dem Experiment wird dabei eine autonome und objektive Funktion in der Wissensgenerierung zugesprochen. Diese Hinwendung zum Experiment steht zugleich für eine Abwendung vom Subjekt und für eine verstärkte Zuwendung zu dem, was sich als eine aperspektivische Objektivität bezeichnen ließe. Blättler setzt an diesem Punkt an, um mithilfe von Benjamins Begriff der Konstellation und seinen Überlegungen zum Erfahrungs- und Wahrnehmungswandel zu einer flexibleren Auffassung bezüglich des Verhältnisses von Objekt, Technik und Subjekt zu gelangen, die es erlaubt, den Gegensatz von Genesis und Geltung zu überwinden.
Ausgehend von Benjamins Analogie von Nervenbahn und elektrischer Leitung konzentriert sich der Beitrag auf eine der wichtigen Fragen, die im "Passagen-Werk" behandelt werden, nämlich ob mit der modernen Technik eine Verbindung von organischer und technischer Sphäre vorliegt oder ob die Technik vielmehr als eine denaturierte Natur anzusehen ist. Um diesem Aspekt nachzugehen und die Besonderheit von Benjamins technikphilosophischen Reflexionen herauszustellen, vergleicht Wolfsteiner sie mit Hannah Arendts Handlungstheorie und Max Benses Entwurf einer informationstheoretischen Ästhetik. Die Aktualität von Benjamins Techniktheorie wird abschließend anhand der Science and Technology Studies (STS) in der Nachfolge Bruno Latours und der technikphilosophischen Schriften Gilbert Simondons erörtert.
Maschinen begreifen : Benjamin, Poesie und Positivismus in der Zweiten industriellen Revolution
(2017)
Der Beitrag legt eine Lektüre des Aufsatzes "Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker" vor. Voskuhl widmet sich dem von Benjamin dargestellten Zusammenhang von industrieller Technik, Poesie und ästhetischer Theorie. Im Zentrum ihrer Analyse stehen seine philosophischen und literaturwissenschaftlichen Reflexionen über den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess, der zu einer bis dahin beispiellosen Verbreitung und Integration technischer Systeme ins Alltagsleben führt. Anhand eines Vergleichs des Eduard-Fuchs-Aufsatzes mit den wissenschafts- und technikhistorischen Arbeiten des Elektroingenieur Charles Steinmetz stellt sie die Besonderheiten von Benjamins technikhistorischer Darstellungsweise heraus. Seine Überlegungen deutet Voskuhl als den Versuch, die neuen naturwissenschaftlich-technologischen Errungenschaften mit älteren metaphysischen und ästhetischen Auffassungen zu vereinbaren.
Some errors are simply annoying, others are productive. Errors are productive when they function as triggers for processes that let the mistake appear as a chance to discover new perspectives or approaches to a solution. Productive errors suggest that the criteria for judging what seems right or wrong themselves should and have to be understood as mutable, since cultural processes of development cannot be thought in any other way. The article investigates what the productivity of errors can imply in the field of literature. Both literary examples discussed (Benjamin, Guggenmos) make recourse to the idea of a childhood of language: What might appear as an error to adults can indicate the beginning of a productive, linguistically sensitive engagement with the world for children (or for adults who can carry their minds back to that condition).
Walter Benjamin fordert, die "undialektische Trennung zu überprüfen, die man zwischen Natur- und Geisteswissenschaft zu etablieren suchte". Damit beabsichtigt er, die Geisteswissenschaften zu modernisieren, deren wahre Bestimmung er in der Auseinandersetzung mit den aktuellen Phänomenen der Gegenwart sieht. Im Aufsatz wird gezeigt, dass Benjamin die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft mithilfe der dialektischen Methode, die er dem historischen Materialismus entlehnt, zu überwinden beabsichtigt. Anstatt eines unversöhnlichen Gegensatzes geht er von einer Dialektik von Natur- und Geisteswissenschaften aus.