800 Literatur und Rhetorik
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Heike Schlie untersucht Formen vormoderner religiöser Zeugenschaft, die sich in komplexen medialen Konstellationen ereignet. Die hagiographische Zeugenschaft, die in einer Reliquiensammlung gespeichert ist und in der rituellen Zeigung der Reliquien aktiviert wird, wird auf weitere Medien übertragen, in sie ausgelagert und in ihnen erweitert, sodass ein 'Netz aus zeugenden Gesten' und 'Zeugenschaftspraktiken' entsteht. Ergänzt bzw. eingeleitet werden diese Beobachtungen durch eine Untersuchung der historischen Zeugenschaftsbegriffe und ihrem Konnex zu religiöser Zeugenschaft. Ein besonderes Augenmerk gilt hier der Analyse einer vormodernen Konstellation, in der Reliquien als 'Akteure' betrachtet werden müssen, was im jüngsten "forensic turn" eine Art Nachfolge kennt. Zum anderen werden im Kontext der Bildmedien die Spezifitäten christlicher Zeugenschaftsformen fassbar, die im Fall der apostolischen 'Zeugenkette' und des 'Bekenntnisses' des Märtyrers oder des Eremiten eine Reihe von epistemischen und medialen Besonderheiten aufweisen und auch in Bildern wie Dürers "Marter der Zehntausend" diskursiviert bzw. reflektiert werden - ein Phänomen, das Schlie anhand der Kategorie des "métatémoignage" von Derrida analysiert. So wird das Bild selbst zum "Erkenntnismittel", das heißt ein "Medium zum 'Über-Zeugen' des Unglaubens".
Ich werde zu zeigen versuchen, dass der Begriff 'Überleben' bei Foucault zwar nicht besonders auffallend ist, aber doch immerhin in einer signifikanten Weise verwendet wird, und ich werde argumentieren, dass die von Charles Darwin populär gemachte Spencersche Wendung 'survival of the fittest', die das Leben und Überleben-Wollen im Register der Biologie und damit im kalten Licht eines genealogisch-evolutionären Denkens bezeichnet - ich werde sie kurz diskutieren -, auch Foucaults Begriffsverwendung formatierte: Als ein kleiner, ambivalenter Index am Rand seiner Texte, der zum einen auf Theorien verweist, die Foucault als "Bio-Politik" kritisierte, der zum anderen aber die "kalte" Systematik der Diskursanalyse und ihre stille Verwandtschaft mit Theorien der Lebenswissenschaften anzeigt. In jedem Fall aber bezog Foucaults Begriffsverwendung sich auf einen Denkhorizont, der von Darwins schillerndem 'catchword' eröffnet wurde.
Stefan Barton behandelt die Bedeutung des Zeugenbeweises im Strafverfahren. Im Zentrum steht die für den juridischen Kontext so wichtige Regelhaftigkeit zur Autorisierung des Zeugnisses, sowohl im Sinne eines Szenariums als auch bezüglich seiner Choreographie. Es gibt nicht nur einen festen Korpus an möglichen Beweisen ("Urkunden-, Augenscheins-, Sachverständigen- oder eben Zeugenbeweis"); vielmehr unterliegt jede Beweisart einem Regelwerk, so auch das Zeugnis. Dort, wo an anderen Stellen ein Faktor wie ein 'Zeugenhelfer' hinzutreten muss, um aus dem Zeugnis Gewissheit entstehen zu lassen, kann es eine Glaubwürdigkeitsprüfung sein, beispielsweise in einer psychologischen Glaubhaftigkeitsbeurteilung: Auch vor Gericht wird das Zeugnis evaluiert. Und auch hier gilt, dass ein schwer fassbarer Überzeugungsfaktor am Ende Ausschlag gibt für die Evaluierung bzw. Relevanz des Zeugnisses: Für das Urteil entscheidend ist die Überzeugung des Richters bezüglich des verhandelten Sachverhalts.
'Die Zukunft kommt von selbst - der Fortschritt nur mit uns' war das Motto eines SPD-Parteitages im Jahr 1988 in Münster. Dieses Motto verrät nicht nur etwas darüber, wie der Begriff des Fortschritts interpretiert wurde (dass Fortschritt nämlich im Unterschied zur Zukunft nicht automatisch eintritt, sondern politisch 'gemacht' werden muss und dass er, im Gegensatz zur unbestimmten Zukunft, kommen 'soll'), sondern zeigt vor allem, dass gerade dieser Begriff und der mit ihm verbundene politische Gestaltungsanspruch als wesentliches Distinktionsmerkmal zum politischen Gegner herausgestellt wurde. Die Beschlüsse, die 2016 auf dem Parteikonvent der SPD gefasst wurden, standen unter dem Motto 'Fortschritt und Gerechtigkeit'. Dieses Begriffspaar, so erklärte der Bundesvorsitzende Sigmar Gabriel, sei die "Seele der Partei". Die Selbstbeschreibung als Partei des Fortschritts vereinfacht aber die Sache. Wie gezeigt werden soll, hat die Rede über Fortschritt in der Sozialdemokratie eine wechselvolle und ambivalente Geschichte, angesichts derer der heutige, recht ungebrochene Bezug auf das Schlagwort Fortschritt doch ein wenig überrascht. Der Geschichte des Fortschrittsbegriffs in der deutschen Sozialdemokratie soll im Folgenden in einigen wichtigen Momenten durch eine Untersuchung der Programmtexte nachgegangen werden. Dazu wurde auch auf die Methoden der digitalen Korpusanalyse zurückgegriffen. Der Schwerpunkt liegt in diesem Beitrag auf der Herausbildung und der Erosion der 'klassischen' Prägung des Fortschrittsbegriffs in der SPD in der Bundesrepublik. Er wurde nach der Neuausrichtung der SPD beim Parteitag in Bad Godesberg 1959 in besonderer Weise mit benachbarten Kategorien gekoppelt und hat so die grundlegende politische Zielsetzung und das Selbstbild der Partei nachhaltig geprägt.
Welche Konsequenzen hat Storfers Konzept einer antihistoristischen Schreibweise, sein Postulat der "Erschütterung der bequemen chronologischen Erklärungsweise", wie er schreibt, für seine Geschichte der Wörter? Welches sind die Voraussetzungen und Prinzipien seines Projekts einer "Wortforschung" als "Kulturgeschichtsforschung"? Storfer nähert sich seinem Gegenstand von zwei Seiten her. Zum einen unterstreicht er die Sprachlichkeit des Quellenmaterials, auf das sich, so betont er, "jede Geschichtsforschung" stützt. Zum anderen fragt er danach, in welchem Sinn sich Geschichte in der Sprache ablagert.
In recent years, critics and art historians have pointed to an 'educational turn', a rise in participatory pedagogical art projects and artist-led experimental schools. This essay considers artist-led projects and museum programmes that restage or reenact educational experiments from the past, analysing their limits and possibilities in the study and presentation of modern art history. Much like performance art, pedagogy is ephemeral and contingent, and yet it differs in that it does not establish a fixed spectatorial role. To be understood it must be participated in, for, as Josef Albers described his teaching, 'we are gathering experience'.
Annette von Droste-Hülshoff hat neben ihren zu Lebzeiten erschienenen literarischen Hauptwerken keine explizit poetologischen Schriften hinterlassen. Dieser Befund überrascht bei einer Autorin, deren Gedichte und Prosatexte in hohem Maße selbstreflexiv sind. Eine mögliche Begründung dafür, dass diese konzeptionelle Energie nicht in eine individuelle Poetik mündete, kann sich auf kulturhistorische und biographische Argumente stützen. [...] Sich auf dem Literaturmarkt mit programmatischen Schriften oder literaturkritischen Zeitschriftenbeiträgen zu positionieren, wäre für Annette von Droste-Hülshoff undenkbar gewesen. Dem Verbot zum Trotz ließ sie sich allerdings nicht davon abhalten, alle verfügbaren Journale zu lesen und sich akribisch in Diskurs und Regularien zeitgemäßer Kritik einzuarbeiten. Daraus folgten verschiedene Strategien der Camouflage und des Versteckspiels, um die gewonnenen Fertigkeiten insgeheim und in gleichsam unverdächtigen Medien zu erproben: Poetologische Reflexionen liegen subkutan in Gedichten verborgen, die oberflächlich gelesen von der westfälischen Landschaft oder einer fragilen weiblichen Identität handeln, Spurenelemente verbotener Literaturkritik finden sich in den Briefen an Schücking und Elise Rüdiger. Wenn sich die Autorin nämlich, selten genug, in Briefen und Gedichten explizit über Poesie äußert, dann überrascht sie mit denkbar schlichten und dem eigenen Modernitätsanspruch kaum angemessenen Formulierungen. [...] Das sind Ungereimtheiten, die ich in diesem Beitrag zu erklären versuche. Sowohl die erste Beobachtung, dass Droste poetologische Äußerungen versteckt, als auch die zweite, dass die bestens und aktuell informierte Autorin mitunter zu solch anachronistisch anmutenden Formeln wie den oben zitierten greift, möchte ich vor dem Hintergrund ihrer kritischen Zeitgenossenschaft diskutieren. Meine Hypothese ist, dass das Spannungsfeld in Drostes Texten kontextuellen Spannungsfeldern korreliert und zu ihnen in ein Abbild- und Reflexionsverhältnis tritt. So, nämlich kontextbezogen und als Verhältnisbestimmung gesehen, erscheinen mir Drostes Verlautbarungen über das Dichten nicht weniger politisch als die ihrer vormärzlichen Kolleg*innen. Ein solches Vorgehen erfordert einen nochmaligen Blick in die Geschichte des 19. Jahrhunderts, und zwar unter besonderer Berücksichtigung jener ungeheuren, für das Jahrhundert charakteristischen Veränderungsdynamik, die Jürgen Osterhammel im Titel seiner Studie "Die Verwandlung der Welt" zum Ausdruck bringt. Einige der Fragen, die mich während der Suche nach Annette von Droste-Hülshoffs 'ungeschriebener Poetik' in ihren Texten und Briefen beschäftigen werden, richten sich auf die besonderen, von der Autorin selbst analysierten Modernisierungserfahrungen in Westfalen.
Die im religiösen Kontext entstandenen Formen des Umgangs mit Heil und Erlösung bleiben bis in die Gegenwart prägend für den literarischen Diskurs. Die Bibel stellt dabei einen zentralen Prätext dar, wobei in der Moderne nicht selten gerade ihre ambivalenten Erzählungen und Figuren in den Blick genommen werden. Auch mehrere Texte von Joseph Roth befassen sich mit der Frage nach dem Heil und beziehen sich dabei in unterschiedlicher Weise auf religiöse Literatur. Mit dem Roman 'Hiob. Roman eines einfachen Mannes' und der Novelle 'Die Legende vom heiligen Trinker' stehen zwei dieser Texte im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen. Beide Texte greifen neben ihren expliziten Bezügen zur religiösen Literatur auf das Motiv der Wüstenwanderung und das damit verbundene Schema von Exil und Wiederkehr zurück, beziehen sich dabei aber auf je unterschiedliche religiöse Konzepte und Erzähltraditionen. Nicht zuletzt steht 'Hiob' in engem Bezug zur jüdischen Kultur Osteuropas, während die 'Legende' stärker an der christlichen Kultur orientiert ist.
In a 1949 letter, Cesare Pavese describes with great zeal the genesis of a new work - one he compares, albeit with a certain amount of irony, to Dante's Commedia. [...] This embryonic project would quickly become the novel "La luna e i falò", completed in less than two months and published shortly before Pavese's suicide in 1950. On the surface, there would seem little reason to take seriously the analogy drawn by the author between "La luna" and the "Commedia", for the novel in question contains no explicit references to the medieval poet. Tristan Kay argues in this essay, however, that the presence of Dante in "La luna" is both more pervasive and more significant than has previously been suggested. While critics have noted in passing several narrative and structural parallels between the two texts, which Kay details in Section II, no attempt has been made to consider their wider significance in our understanding of Pavese's novel. What follows is a reading of "La luna" which shows that the "Commedia" functions not simply as a formal model for Pavese, but, more importantly, as an ideological anti-model, in dialogue with which the author articulates his deeply pessimistic understanding of the human condition.
'Ultima mano' : Endretusche und Nachbearbeitung in der italienischen Kunsttheorie der Neuzeit
(2021)
Projektion als Entwurfs- und Übertragungsverfahren kann auch ein Kalkül mit offenem Ausgang sein. Diesem Problem widmet sich Laura Valterio in ihrem kunsttheoretischen Beitrag, in welchem das abschließende Moment der 'ultima mano' ins Zentrum gerückt wird. In den kunsttheoretischen Debatten der Frühen Neuzeit wird die 'letzte Hand' gleichermaßen zu einem symbolischen Moment der Vollendung, wie auch der technischen Meisterschaft des Malers. Valterio zeigt, wie die 'ultima mano' als Versprechen der Vollkommenheit stets entrückt bleibt, aufgeschoben wird und damit einen Projektionsraum etabliert, in welchem die Genauigkeit als Akt des Abschließens zur Disposition steht.
Depuis 2012, le programme doctoral CUS/CRUS (désormais Swissuniversities) de littérature générale et comparée s'efforce d'offrir un lieu et un réseau d'échanges et de pensée aux jeunes chercheurs de la littérature comparée et des différentes langues et littératures étudiées dans les universités suisses. L'orientation de ce programme le place doublement en position de transgression. D'une part, la littérature comparée est par essence une science du dépassement; la comparaison, la mise en réseau et l'éclairage croisé des langues et des littératures vont de pair avec l' "au-delà" d'un sujet préalablement circonscrit; comparer suppose la mesure d'un espace, l'expérience de ses limites et leur franchissement. D'autre part, l'invention d'un cadre réunissant à la fois des doctorants, des chercheurs plus confirmés et des professeurs, où puissent se discuter aussi bien des questions théoriques que les problèmes concrets auxquels la recherche expose les uns et les autres, invitait à ne pas se priver d'un questionnement croisant plusieurs approches. Nous avons donc imaginé un programme ouvert autant aux questions esthétiques et littéraires (les représentations des frontières et de leur transgression, la forme que ces représentations pouvaient adopter) qu'aux sujets engageant une métaréflexion sur les limites de nos outils de recherche et les conditions réelles d'une transdisciplinarité qui serait plus que programmatique (une théorie et une pratique de la transgression des limites).
State security archives in Eastern Europe are shedding new light on the operative practices of the secret services and their interaction with performance art. Surveillance, tracking, undermining, disruption, writing of reports, and measure plans were different operative methods to be carried out in continuous repetitive processes. This paper argues that, through these repetitive working processes, state security agencies were permanently engaged in different forms of reenactments: of orders, legends, report writing, and inventing measure plans. With this operative reenactment, state security agencies not only tried to track down facts but also created 'fake facts' serving their agenda. These 'fake-facts' were then again repeated and reenacted by informants endlessly to be 'effective' in the surveillance and elimination of performance art.
What is an exilic law? The Talmud was itself located 'in exile' without ever being considered 'exilic': the self-representation of the Talmud is consistent with the idea that Jewish law might be redacted in diaspora but is still centred on the Temple of Jerusalem. Yet the Zohar offers a unique representation of Jewish law as a central legal product and a metaphysically exiled reality. Hence, Jewish law has not only been born 'in exile' but also has an 'exilic' nature. An exilic law, then, is a tenebrous 'path' that inverts the 'moral ways' of Jewish law, as it departs from the 'exilic centre' of Babylon and installs a 'non-exilic centre' on Mount Moria, where Isaac was almost sacrificed and the Temple of Jerusalem was erected. When Scripture is brought out in an 'exodus', it departs from the solid terrain of an 'exilic law' and radicalizes the event of Abraham's being called to sacrifice his own son by producing a notable inversion of the notion of 'literal sense'. And yet this 'literal sense' that has always been there had almost been neglected, just like a 'purloined letter' - in every sense of the expression.
Am 6. Juli 1916 notierte Ludwig Wittgenstein in seinem Tagebuch: "Und insofern hat wohl auch Dostojewskij recht, wenn er sagt, dass der, welcher glücklich ist, den Zweck des Daseins erfüllt." Diese Aussage ist eingebettet in Überlegungen zur Beziehung von Ethik und Ästhetik in seinem Tagebuch, die später in den 'Tractatus logicophilosophicus' einfliessen (ab Satz 6.42). Die Figur Dostojewskijs, die am explizitesten solche Sätze aussprach, wie den oben zitierten, ist der Starez Sosima aus den 'Brüdern Karamasow'. Wittgenstein hat diesen Roman so oft gelesen, dass er ihn nahezu auswendig konnte, insbesondere die Reden des Starez Sosima. Obwohl Wittgenstein darauf bestand, dass Ethik "unaussprechbar" ist, deutet er an, dass Literatur das gute Leben "zeigen" kann. Somit überschreitet er die Grenzen der frühen analytischen Philosophie, die sich an mathematischen Wissenschaften orientierte und sich möglichst von der Kunst abzugrenzen suchte.
Inzwischen mag es fast in Vergessenheit geraten sein, wie Facebook seine Hauptspielwiese bis zum Herbst 2011 genannt und organisiert hatte: Im Zentrum der Anwendung befand sich eine hellgraue Wand oder Mauer, an die man Informationen in zahlreichen Formaten und Varianten heften konnte. Was zuvor als flächig organisiertes, statisches, mit einem begrenzten Raum ausgestattetes, ältere Einträge automatisch verdrängendes Format diente, wird nun im Herbst 2011 ersetzt durch eine Organisationsform, die man - nicht ohne zahlreiche Implikationen - 'Timeline' zu nennen beliebt. Im Gegensatz zur vorherigen bietet diese neue Struktur ein dynamisches, spaltenartiges, nach oben in die offene Zukunft organisiertes Format, mit einem lediglich nach unten begrenzten Ursprung, ein Arrangement also, das ältere Einträge für den Besucher allesamt unmittelbar sicht- und abrufbar vorhält. Warum, so könnte man fragen, nimmt Facebook diese Änderung vor? Worin bestehen die Gründe, dass eine weitestgehend statische Fläche ersetzt wird durch eine verschiebbare, dynamische Zeitleiste? [...] Es läge nahe zu vermuten, dass einem solchen Medienwechsel vor allem ästhetische oder modische Überlegungen vorausgingen. [...] Ich möchte nun im Folgenden gegen diese allzu leichtgewichtige Vermutung einer rein ästhetischen, aufmerksamkeitsheischenden oder gänzlich arbiträren Umstellung seitens der Firma argumentieren, um einige strukturelle Gründe dafür anzuführen, warum sich dieser Wechsel dennoch und vor allem für die Firma Facebook als ratsam und nicht nur werbetechnisch als profitabel erwiesen hat. Eine solche Begründung findet sich allerdings weder in der Keynote von Zuckerberg vom September 2011 erwähnt noch im Kleingedruckten der Facebook-Statuten. Um die wahren Beweggründe für einen solchen, als durchaus tiefgreifend zu charakterisierenden Eingriff zu ermessen, erweist sich eine medienhistorische und auch medientheoretische Perspektive als außerordentlich hilfreich. Dazu sei zunächst etwas weiter ausgeholt, und zwar meinerseits mit Hilfe einer Zeitleiste, und zwar einer Zeitleiste zur Geschichte der Zeitleiste, die zeigt, was eine Zeitleiste eigentlich leistet.
Jósef Tarnawa, ein Überlebender von Auschwitz, in Großaufnahme in einem Sessel. Er zeigt seine verblasste, eintätowierte Häftlingsnummer: Es ist die Nummer 80064. Er berichtet von deren Entstehung. '80064': so auch heißt dieses Video, 2004 gedreht von dem international renommierten wie auch umstrittenen polnischen Künstler Artur Zmijewski. Mit der Großaufnahme des Überlebenden ruft der Film fast schon vertraute Bilder videographierter Augenzeugenschaft auf, denken wir nur an die gefilmten Interviews der Yale Archives for Holocaust Testimonies oder Claude Lanzmanns Film 'Shoah'. Doch dann weitet sich die filmische Einstellung und wir werden gewahr: Der Überlebende sitzt in einem Tätowierstudio. Der Filmemacher Artur Zmijewski kommt nun selbst ins Bild; er redet auf den Überlebenden ein, will ihn bewegen, seine Häftlingsnummer hier im Studio zu erneuern, sozusagen: 'nachgravieren' zu lassen. Joséf Tarnawa sträubt sich, doch Zmijewski lässt nicht locker. Es folgt ein quälendes Streitgespräch kreisend um die Erneuerung der Nummer; es endet damit, dass der Überlebende seinen Widerstand aufgibt. Die Nummer wird nachtätowiert.
The principles of ERRANS are introduced by considering two radically different contexts: Within academic publishing, the literary form of the edited collection is as common as it is denigrated and rarely reflected upon. The account being offered (within an edited collection) seeks to not only reinterpret the status of the genre, but argues in favor of a curatorial errancy within scholarly communication. Yet errancy has also become a crucial touchstone in management and leadership studies, whether as 'disruptive innovation' or 'VUCA (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) worlds', inviting a different consideration of the relationship between capitalism and its political and artistic critiques than the one offered by Luc Boltanski and Ève Chiapello - one which does not consider itself untouched by the errant logics it discerns in its 'subjects'.
The representation of music in literature is often conceived in terms of a 'paragone', a debate over which of the arts ranks highest. In this context, literature is commonly spoken of as imitative or emulative of the music it is trying to represent. This premise informs even the most recent terminologies of literary scholars describing the intermedial relationship of music and literature systematically. Using the narratological concepts of 'showing vs. telling' to describe musical representation in literature, as proposed by the "Handbuch Literatur & Musik", this article argues that such a view is based on a misleading assumption about literary imitation and leads to constrained possibilities of hermeneutical interpretation. After a systematic reconstruction of the proposed terminology and a proposal for its modification, an exemplary analysis of Helmut Krausser's novel "Melodien" ["Melodies", 1993] will serve to demonstrate how a refined conception of the terminology can help to bring about more precise interpretations.
Soziologische Theorien weisen von Anfang an, seit Auguste Comte und Max Weber, eine Schlagseite in ihrer Theoriebildung auf und bleiben in ihrer Medienkonzeption beschränkt, wie wir heute wieder in Entwürfen einer Theorie der digitalen Gesellschaft beobachten können. Diese Schlagseite im soziologischen Medienbegriff resultiert nicht nur aus ihrem modernen Blick auf die Gesellschaft, sondern ebenso aus einer medialen Abstraktion; trotz ihrer Empirie sind soziologische Theorien häufig mit einer blinden Stelle in ihrem 'Medienbegriff' behaftet. Zu erinnern sei hier nur an Max Webers Begriff der Rationalität, der höchst abstrakt vom konkreten Lauf der Gesellschaft abgezogen wurde; einer angeblich entzauberten Welt der Moderne, die jedoch in ihrer 'oikonomia' in Wahrheit erst recht vollständig verzaubert auftreten sollte. So blieb und bleibt ihre Modernität, die sie gegenüber der spekulativen, transzendentalen und metaphysischen Philosophie angeblich auszeichnet, ein höchst abstraktes Produkt, das sie freilich in den modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften als etwas höchst Konkretes und Objektives präsentieren oder, aktueller und spezifischer formuliert, statistisch, probabilistisch, stochastisch und algorithmisch errechnen wollen. In diesem medialen Reduktionismus sind heute auch neue soziologische Modelle befangen, die nunmehr die digitale Gesellschaft in einem theoretischen Rahmen unterbringen wollen, dabei aber die letzte verbliebene gesellschaftliche Bodenhaftung verlieren und vollends in einen digital-informatischen Rationalismus abdriften, gegen den dann kein Widerstand mehr möglich ist.