800 Literatur und Rhetorik
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Im alltäglichen Gespräch lässt sich beobachten, dass bei vielen in der Bundesrepublik aufgewachsenen Personen die Kinderbücher Astrid Lindgrens einen hohen Stellenwert und einen starken Einfluss auf Lebensvorstellungen und Werte des zwischenmenschlichen Miteinanders haben. Wenn die eigene Lebenswelt - wie etwa bestimmte Situationen, Lebensumstände, zwischenmenschliche Beziehungen, die äußere Umwelt, das Lebensgefühl - als besonders beglückend, ja geradezu als ideal empfunden werden, ziehen viele Menschen Parallelen zu den in den Texten Astrid Lindgrens modellierten Lebenswelten. Umgekehrt wird auch versucht, die eigene Lebenswelt nach dem Muster dieser Textwelten zu gestalten, um das Leben so schön, harmonisch und beglückend zu gestalten, wie es die Figuren in den Texten vorleben. Da Texte, die einen solch prägenden Eindruck auf uns ausüben und einen so hohen Stellenwert für die eigenen Lebensvorstellungen und die Lebensgestaltung haben, in der Regel auch an die Nachkommen weitergegeben werden, werden die in den Büchern modellierten Lebensvorstellungen und Werte häufig über mehrere Generationen hinweg tradiert und erhalten einen wichtigen identitätsstabilisierenden Platz im kollektiven Gedächtnis. So können bestimmte Welt-, Lebens- und Wertkonstrukte innerhalb einer Gesellschaft über einen längeren Zeitraum Bestand haben und ein fester Teil des gesellschaftlichen Diskurses werden. Ausgehend von diesen Beobachtungen und Hypothesen scheint es lohnend zu sein, folgende Fragen zu stellen: 1. Lässt sich die eingangs formulierte Alltagsbeobachtung von der Wichtigkeit der Bücher Astrid Lindgrens für die Lebensvorstellungen vieler Deutscher auch durch eine umfassende Untersuchung, also durch konkretes Zahlenmaterial, bestätigen? Oder allgemeiner gefragt: Gibt es Bücher, in denen viele Menschen eine ideale Lebenswelt wiederfinden? 2. Falls es wirklich eines oder mehrere solcher Bücher gibt: Wie genau sieht eine solche ideale Lebenswelt für uns aus? Um diese Fragen zu beantworten, wende ich eine Untersuchungsmethode an, die aus drei Schritten besteht: erstens einer quantitativen Befragung zur Ermittlung eines Textkorpus; zweitens einer literaturwissenschaftlichen Analyse der so ermittelten Texte zur Untersuchung der Rezeptionsangebote dieser Texte; drittens Leitfadeninterviews, um herauszuarbeiten, welche der Textangebote tatsächlich von den Rezipienten aktualisiert werden.
"Mir ist so digk vor gesait" : Studien zur erzählerischen Gestaltung des "Meleranz" von dem Pleier
(2024)
In der germanistischen Mediävistik richtet sich das Forschungsinteresse vornehmlich auf die höfische Literatur und dabei insbesondere auf die frühen und späten Artusromane. Vor allem die Werke von Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach sind zentrale Forschungsobjekte, während Texte wie Pleiers ‚Meleranz‘ bisher nur begrenzt Beachtung fanden.
Die Forschungslücke, die die vorliegende Arbeit adressiert, liegt in der detaillierten Analyse der spezifischen Erzähltechniken des pleierschen Textes, die sich sowohl durch die Verwendung traditioneller arthurischer Motive als auch durch innovative narrative Ansätze auszeichnen. Ausgehend von dem Befund eines stark zurückgenommenen Erzählers wird untersucht, welche narrativen Strategien und Verfahren der Pleier im ‚Meleranz‘ anwendet, um trotz dieser Abkehr von der implizierten poetischen Regelhaftigkeit einer dominanten Erzählerfigur das Erzählen vom Ritter ‚Meleranz‘ gelingen und zugleich an einigen Stellen ausgesprochen konventionell wirken zu lassen.
Um aufzudecken, wie der Text ohne die Stimme eines deutlich hervortretenden Erzählers vermittelt wird, nutze ich im Verlauf der Arbeit eine Typologie der Stoffvermittlung durch (arthurische) Erzähler. In den Einzelstudien zum ‚Meleranz‘ werden seine Motive, Erzählmuster und Figurenkonstellationen in einem close reading erarbeitet und mit der Typologie abgeglichen, um bestimmen zu können, welche Vermittlungsformen im pleierschen Text genutzt werden. Mit Hilfe dieses Vergleichs kann das Erzählverfahren im ‚Meleranz‘ extrapoliert und gleichzeitig offengelegt werden. Mittels dieses Vorgehens wird verdeutlicht werden, dass es sich beim ‚Meleranz‘ um einen Text handelt, der arthurische Konventionen lediglich anders inszeniert, um die vermittelnde Funktion der Stimme des Erzählers zu substituieren oder ihr Fehler auszugleichen.
Nach dem Anthropologen Kaushik Sunder Rajan bedeutet der Biokapitalismus die Überdeterminierung der Wirtschaft bei biopolitischen Entscheidungen. Die Überdeterminierung heißt in diesem Fall eine starke wirtschaftlich-politische Beeinflussung der Richtung wissenschaftlicher Forderung und Entwicklung. Ein extremes Beispiel für solch ein System ist in der Dystopie "Brave New World" (1932) vorzufinden, mit der sich dieser Aufsatz beschäftigt. Zuerst werden die Begriffe der Biopolitik nach Michel Foucault und des Biokapitalismus nach Kaushik Sunder Rajan definiert. Darauf aufbauend untersucht die Arbeit den Biokapitalismus innerhalb der Gesellschaft von Aldous Huxleys Roman. Dafür wird zunächst der Autor, sein zeitlicher Kontext und der Aufbau der dystopischen Gesellschaft thematisiert. Im Hauptteil befasst sich der Aufsatz mit folgender Fragestellung: Wie zeigt sich der Biokapitalismus in Huxleys "Brave New World"? Dabei sind die Ziele des Aufsatzes die Beantwortung der Fragestellung und die Herauskristallisierung der Gefahren dieser dystopischen Gesellschaft für unsere Gegenwart. Diese werden zum Schluss im Fazit zusammengefasst erläutert.
Zwei Überlegungen haben die Wahl des Gegenstandes bestimmt. Die erste ist pragmatisch-systematischer Art. Als die Denkschrift Geisteswissenschaften heute 1991 den von ihr ins Auge gefassten Wissenschaften "als Kulturwissenschaften eine neue Perspektive" vorzeichnete und dazu "Kultur" als "Inbegriff aller menschlichen Arbeits- und Lebensformen" charakterisierte, hat sie zumindest hierzulande eine Welle zuvor ungesehener transdisziplinärer Gegenstandsbestimmungen, Forschungsparadigmen, Projekte und Professurdenominationen ausgelöst. Dies alles hat entschieden über frühere Rahmen wie Cultural Studies, Sciences de la culture oder (für in Deutschland so genannte 'Fremdphilologien') Landeskunde hinausgegriffen und hinausgeführt. Entsprechend den vielfältigen Aspekten, die 'Kultur' zu bieten vermag, stehen deren Erkundung tendenziell kaum endliche Räume offen. Neue und bedeutende Erkenntnisse über jeweils besondere Ordnungen "des geselligen Verkehrs der Menschen" und die darin wirkenden "Absichten" wurden und werden erarbeitet. Die Folge von 'turns', die nicht selten auf ernste Erkenntnis zielen, mit deren Propagierung aber auch Aufmerksamkeit, Netzwerke und Drittmittel für einzelne Bereiche dieser Arbeit geschaffen werden sollen, ist beeindruckend. Nicht alle Beteiligten möchten andererseits die aus dem 19. Jahrhundert hergebrachte Organisation der Wissenschaft in voneinander getrennten Disziplinen überhaupt in Frage gestellt sehen - seien es deren Vertreter selbst, die das Bewährte als zu Bewahrendes betrachten, seien es die Administratoren nach älteren Mustern gewirkter Universitäten, die Finanz- und Stellenpläne sparversessen weiter oder wieder so zu stricken suchen wie bisher. Extremistische Tendenzen entweder zum Aufgeben der Disziplinen zugunsten kleinteiliger Gegenstandsbereiche oder zur Rücknahme der kulturwissenschaftlichen Öffnung, zum Beispiel zugunsten einer erneuten Rephilologisierung, sind in Wissenschaftsgremien und Wissenschaftsverwaltungen unverkennbar.
Tagungsbericht "Medium - Medialität - Intermedialität." Tagung der Franz Werfel-StipendiatInnen in der Nachbetreuung in Wien, 27. - 28. März 2015
Am 27. und 28. März 2015 veranstaltete die Wiener Germanistik in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Austauschdienst-Gesellschaft in Wien die Tagung der Franz Werfel-StipendiatInnen in der Nachbetreuung zum Thema 'Medium - Medialität - Intermedialität. Beiträge zur österreichischen Kulturgeschichte'.
Die folgenden Ausführungen verstehen sich in keinster Weise als Rezension im Sinne einer fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Wolfgang Stadlers 2010 erschienener slawistisch-linguistischer Habilitationsschrift 'Pragmatik des Schweigens'. Dazu fehlen mir die nötigen Kompetenzen, und das vorliegende Jahrbuch wäre dafür sicher auch nicht der geeignete Rahmen. Vielmehr möchte ich einige Früchte interdisziplinärer Neugier präsentieren, will sagen: Elemente der Argumentation des besagten Werks, die mich besonders inspiriert haben, herausgreifen, kommentieren und in Beziehung zu ausgewählten literarischen Beispieltexten setzen. Einen Orientierungspunkt bildet dabei die aus der Rhetorik bekannte Figur der Paralipse als bekundetes Übergehen eines oder mehrerer Redegegenstände, anders gesagt: das paradoxale Nennen dessen, was man gleichwohl zu Verschweigen ankündigt.
Since the 19th century, the intérieur has been the bourgeois space of self-reflection, an archive of objects that bear traces, a material utopia where the presence of objects produces a loss of time and space. Working for an international interior magazine, I came across several strategies that photographers use to bring an interior to life, to stage a feeling of a private sphere. These strategies are identical with the ones that have been applied in 19th century literature: It’s the same concern with objects, the discovery of the narrative power of details and traces, a search for „truth“ on the surface of things. My article leads through some fictional intérieurs, a photo shooting on the Maldives and a small hotel in L. A., where a designer brought all the ideas together to create a space that narrate of its own accord.
Obgleich Bilder sich also offensichtlich von den Dingen der übrigen Welt grundsätzlich unterscheiden, breitet sich in der postmodernen Gegenwart, einem verbreiteten Diskurs zu Folge, ein Erfahrungs- und Handlungsraum aus, in dem Bilder ganz umstandslos das Reale zu ersetzen vermögen. Die Rede von einem "Reich der Bilder", in dem ein perfekter und zudem interaktiver Illusionismus reale Anwesenheit hat obsolet werden lassen, ist fast zu einem Gemeinplatz geworden. Die folgenden Ausführungen handeln von einer Substitution des Realen durch Bilder und sind insofern von einer postmodernen Befindlichkeit und der zu dieser gehörenden Vertrautheit mit einer sich aus Bildern konstruierenden Welt durchstimmt. Aber auch wenn einige der aufgeführten Beispiele der visuellen Kultur der letzten Jahre entnommen sind, hat die Bildinvasion, um die es hier geht, nichts zu tun mit der Aufrüstung der Lebenswelt zur aus perfekten Simulakren bestehenden Hyperrealität, wie sie die digitale Bilderproduktion in vielen Lebensbereichen bewerkstelligt. Thema ist ein eher versponnenes Phänomen, das als eine eigenartige Blüte ganz unabhängig von dem aktuellen "pictorial turn" aus der visuellen Weltaneignung, wie sie das "Augentier" Mensch in allen Epochen betreibt, hin und wieder erwächst. Vorgestellt werden Wahrnehmungen und Repräsentationen, bei denen die Sichtbarkeit, in die das Sehvermögen die Dinge der Welt "entbirgt", einen Überschuss produziert und sich, in einer eigentlich absurden Übertreibung, zu einer vorgeblich den wahrgenommenen Dingen selbst angehörenden Bildhaftigkeit kristallisiert. Das Kulturprodukt Bild – das die Menschen erfunden haben, um der Sichtbarkeit der Dinge eine von deren Materialität abgetrennte und semantische sowie ästhetische Effekte ermöglichende Auftrittsbühne zu eröffnen – scheint in einer paradoxen Wendung das Aussehen der Dinge selbst zu sein. Den gesehenen Dingen wird die Textur eines Bildes unterstellt.
Der vorliegende Beitrag knüpft an die lexikale Bedeutung von Metamorphose an und betrachtet den Begriff aus drei Sichtweisen. Erstens wird anhand der wissenschaftlichen Quellen, auf die der Schriftsteller Georg Büchner sich bezieht, die Metamorphose als Naturvorgang untersucht. Zweitens geht es darum, den poetischen Begriff von Metamorphose sowie seine kompositorische Wirkung in den zur Analyse herangezogenen literarischen Texten zu untersuchen. Es wird dabei gezeigt, dass sich die Verwandlung an bestimmten Textstellen ins Monströse verkehrt. Schließlich wird Metamorphose als Art der Verwandlung durch dichterisches Schaffen betrachtet.
1902 erschien Theodor Herzls utopischer Roman Altneuland im Verlag Hermann Seemann in Leipzig, schon im selben Jahr die hebräische und ein Jahr später die russische Übersetzung. Der Journalist, Autor und Begründer des politischen Zionismus hatte – inspiriert durch seine Palästinareise im Jahr 1898, auf der er u. a. mit dem deutschen Kaiser zusammentraf – seit 1899 an dem Text gearbeitet. Herzl schildert in dem Roman eine neue zionistische Gesellschaft in Palästina und führt hier das eher skizzenhafte Bild seiner 1896 erschienenen Broschüre Der Judenstaat weiter aus. Hier soll besonders auf diejenigen Aspekte des Romans eingegangen werden, die das jüdische Gemeinwesen in Palästina als ein 'kleines Europa' im Nahen Osten schildern. Zudem sollen die topographischen Begebenheiten im Roman und deren Bezüge zur israelischen Geographie, Gesellschaft und Kultur untersucht werden.
This article analyzes some cases of lack of understanding as well as of misunderstandings and errors, voluntary or otherwise, which punctuate the sessions of French- Russian Studio, an important place of intellectual and cultural exchanges between Russian émigrés and French intellectuals between the Wars. These errors and misunderstandings turn out to be rather productive ones, leading sometimes to lively discussions. Two notions, humanism and intellectualism, become a real stumbling block to debates: being regularly referred to at the sessions devoted to Gide, Valéry, Proust and Descartes, they are differently interpreted by Russian and French debators. This reflects not only the explicit difficulties in translation of philosophical and cultural notions but also some implicit discrepancies in production of meaning.
Der vorliegende Beitrag stellt einen Versuch dar, einige bio-zentrisch konzipierte Gedichte aus der Spätphase von Paul Celans Schaffen vom posthumanistischen Standpunkt her zu lesen. [...] Betrachtet man Celans Werk aus der Perspektive seines spezifischen 'nature writing', so lässt sich behaupten, dass verschiedene Elemente der außermenschlichen Natur zumindest ab dem Band "Sprachgitter" (1959) in seinen Texten eine sehr wichtige Rolle spielen. Während aber in diesem Band vor allem Bilder unbelebter Natur und geologische Schichten vom versteinerten Leben Celans poetische Landschaften mitgestalten, nehmen die bio-orientierten Referenzräume in seinem späteren Werk einen immer mehr vegetativen und animalischen Charakter an. Diese stilistische Gestik äußert sich nicht nur in der Hinwendung zu Pflanzen- und Tiernamen, die meist mit großer Kenntnis der Fachbegriffe einhergeht, sondern auch in Celans Vorliebe für Fachvokabular aus den Bereichen von Geologie, Botanik, Zoologie, Paläontologie etc. Textanalytisch ist dabei nicht bloß diese lexikalische Spezifik interessant, sondern ihre jeweilige Funktionalisierung in den einzelnen Gedichten, auf die im Folgenden eingegangen wird.
Die internationale Tagung "H.C. Artmann in seinen Sprachen und die Kunst der Übersetzung", veranstaltet vom Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft und Kunst und vom Literaturforum Leselampe in Salzburg, feierte von 10.–12. Juni 2021 den hundertsten Geburtstag des Dichters und löste ein zentrales Desiderat der Forschung ein.
Die Zahl der computerisierten Schriftsteller wächst rapide. Von den Vorzügen des Mac wissen besonders die zu berichten, die zuvor Erfahrungen an anderen Systemen gesammelt haben. Wie zum Beispiel Fernsehautor Wolfgang Menge. Wir besuchten den Konvertiten in dessen Sylter Sommerdomizil und fragten ihn nach seinem Verhältnis zu den neuen Techniken des Schreibens. Das Gespräch führte Peter Matussek, die Fotos machte Frank Stöckel.
The nostalgic yearning for the ideal knightly world given by thirteenth-century vernacular courtly epics is supposed to be the vanishing point of the literature of the do called late medieval knightly romantic. The article examines this assumption. It passes through a number of fifteenth- and early sixteenth-century German text, thus showing the variety of forms in which they adapt the narrative and ideological patterns of the literary tradition. In doing so the article stresses that the texts of Hugo von Montfort, Augustin von Hammerstetten, Püterich von Reichertshausen and in particular of Hermann von Sachsenheim, Ulrich Fuetrer, and Emperor Maximilian I find different ways of irony, allegorization, historization etc. to bring out the gap between the literary examples of the past and the claims of the late medieval present and at the same time to bridge it.
Alexander Schwieren untersucht die Bedeutung Goethes für die im frühen 20. Jahrhundert sich formierende Gerontologie. Zwar habe deren eigentlicher Gründungsvater Hans Thomae seine Disziplin ab den 1960er Jahren auf eine Wissenschaftsanmutung verpflichtet, die auf literarische und künstlerische Bezugnahmen zusehends verzichten musste, doch wirke die zentrale Rolle, die v. a. Goethes Alterswerk in der Vorgeschichte der Gerontologie gespielt habe, bis heute nach. So lasse sich in den Schriften Eduard Sprangers - vermittelt wesentlich über Dilthey - der Versuch beobachten, den späten Goethe unter entwicklungspsychologischem (und nicht etwa unter biologischem) Gesichtspunkt als einen Autor auszuweisen, der an seiner eigenen Vollendung im Alter gescheitert sei. Spranger weist dies an den Perspektiv- und Standortwechseln insbesondere von Wilhelm Meisters Wanderjahre nach, die in den Augen Schwierens wichtige Erkenntnisse der Narratologie vorwegnehmen, die Spranger selbst jedoch konsequent als entwicklungsbedingte Kompositionsschwäche begreift. Georg Simmels bekannte Gegenposition, die kategorische ästhetische Aufwertung des Goethe'schen Alterswerks, festige ebenfalls einen Diskurs, der das Alter als Entwicklungsstadium eigenen Rechts betrachte. Die Divergenz zwischen biologischer und psychologischer 'Lebenskurve', wie sie etwa in Charlotte Bühlers Unterscheidung zwischen 'Verenden' und 'Vollenden' manifest werde und wie sie auch Erich Rothackers Überlegungen zum Alter grundiere, habe die Gerontologie anfangs bewusst, später oft unbewusst oder gar uneingestanden unter dem Rückgriff auf ihre Lektüre des späten Goethe formuliert. V. a. die Vorstellung, dass das Alter ›scheitern‹ könne und dass es eine genuine 'Aufgabe' darstelle, wäre Schwieren zufolge ohne die gerontologische Beschäftigung mit Goethes Spätwerk in den 1920er und 30er Jahren kaum denkbar gewesen.