800 Literatur und Rhetorik
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Als Peter Härtling am 7.11.2014 mit dem Hessischen Kulturpreis ausgezeichnet wird, spielt er auf die reformpädagogischen "fromme[n] Wünsche" an, die mit dem von Ellen Key 1902 ausgerufenen "Jahrhundert des Kindes" für das 20. Jahrhundert postuliert worden waren, und die, wie er selbst als Kind während und nach dem Zweiten Weltkrieg erfahren musste, "unerfüllbar" gewesen seien. Sein Rückblick lässt ihn allerdings zu dem Schluss kommen, dass das 21. Jahrhundert noch "schlimmer" sei, denn es handele sich um das "Jahrhundert des Flüchtlingskindes". Es liegt folglich nahe, angesichts seines im Herbst 2016 erschienenen "Romans für Kinder", Djadi, Flüchtlingsjunge, auf den erinnernden Autor zu blicken, der mit 13 Jahren kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs zum Waisen wurde. ...
"Das Elementare in der Musik" : Zeitkritik und 'primitive' Musik in Thomas Manns Doktor Faustus
(2015)
Thomas Manns 'Doktor Faustus' (1947) ist ein Altersroman, ein Exilroman, ein Deutschlandroman, aber vor allem natürlich ein "Musik[]roman". Das ist im Hinblick auf die Frage nach einem gerade auch intermedial konstituierten Primitivismus im frühen 20. Jahrhundert signifikant. Denn der in jener Zeit beginnende und im Nationalsozialismus kulminierende Umschlag von Kunst und "Kultur" in Krieg und "Barbarei" koinzidiert im zeitdiagnostischen Panorama von Manns Roman mit einem ästhetischen Interesse am "Elementaren", am "Primitiven und Uranfänglichen". Dieses aufkeimende Interesse und seine politischen Weiterungen werden in Betrachtungen über zeitgenössische Kunst reflektiert und insbesondere am Schaffen des Tonsetzers Adrian Leverkühn exemplifiziert. Anders ausgedrückt: Der zeitgenössische Diskurs über das 'Primitive' spiegelt sich in Struktur und Handlung des Romans. Wenn im Folgenden der Frage nachgegangen wird, wie diese Vorstellung des 'Primitiven' im 'Doktor Faustus' funktionalisiert ist und aus welchen Quellen sie sich speisen könnte, ist ein "ausgeweitete[r] Primitivismus-Begriff" in Anschlag zu bringen, der sich in der Literaturwissenschaft erst zu etablieren beginnt.
Wie die Literatur- und Theoriegeschichte zeigt, wurde das Dämonische im Gefolge von Goethe auf wirkmächtige Weise von den Dämonen entkoppelt. Walter Benjamin brachte vor diesem Hintergrund E. T. A. Hoffmann ins Spiel, einen Schriftsteller, dessen "fieberhafte Träume" Goethe verschmähte. Unter dem Titel "Das dämonische Berlin" sprach Benjamin im Februar 1930 in der Kinderstunde des Berliner Rundfunks über Hoffmann als Dichter der Großstadt. Obwohl das Wort "dämonisch" nur im Titel fällt, eröffnet der Vortrag eine neue Sicht auf das post-goethesche Dämonische, denn die Medialität des Dämonischen wird darin auf mehreren Ebenen reflektiert, die das Radio selbst involvieren.
Der Spielfilm ist seit seiner Erfindung vor mehr als hundert Jahren in mehrfacher Hinsicht eng mit dem Literaturwesen verknüpft. So ähnelt ein Drehbuch in seinem Aufbau einem Theaterstück, verwendet aber gleichzeitig Erzähltechniken, die aus Kurzgeschichten und Romanen bekannt sind. Den deutlichsten Eindruck der Verbindung zwischen Film und Literatur allerdings vermittelt ein Blick auf die große Anzahl an Adaptionen, welche jährlich auf die Leinwand gebracht werden. Vom jahrhundertealten Klassiker bis zum eben erschienenen Horror-Thriller werten Produzenten unermüdlich Dramen, Kurzgeschichten und vor allem Romane auf ihre mögliche (Wieder-)Verfilmbarkeit aus, erwerben gegebenenfalls die Rechte und übertragen das schriftliche Original - mit häufig stark verändertem Handlungsstrang - in audiovisuelle Unterhaltung. Unabhängig davon, ob es sich um 'hohe' oder 'triviale' Literatur handelt, gelingen dabei oft von der Kritik hoch gelobte und zeitlose Filme. Die Vorlage gerät dabei nicht selten in Vergessenheit. So wählte im August 2012 das British Film Institute Alfred Hitchcocks 'Vertigo - Aus dem Reich der Toten' (Vertigo, 1958) zum besten Film aller Zeiten. Pierre Boileau und Thomas Narcejacs Roman 'Von den Toten auferstanden' (D’Entre Les Morts, 1954), auf dem der Film beruhte, dürfte heute dagegen nur mehr den Wenigsten bekannt sein. Um einige weitere Beispiele berühmter filmischer Adaptionen zu nennen (basierend auf mehr oder weniger berühmten Romanen): Im Westen nichts Neues (All Quiet on the Western Front, 1930, Regie: Lewis Milestone, nach dem Roman von Erich Maria Remarque, 1928); Vom Winde verweht (Gone with the Wind, 1939, Victor Fleming, nach dem Roman von Margaret Mitchell, 1936); Einer flog übers Kuckucksnest (One Flew over the Cuckoo's Nest, 1975, Milos Forman, nach dem Roman von Ken Kesey, 1962), No Country for Old Men (2007, Joel und Ethan Coen, nach dem Roman von Cormac McCarthy, 2007), und Slumdog Millionaire (2008, Danny Boyle, nach dem Roman Rupien! Rupien! - im Original Q & A - von Vikas Swarup).
Auch wenn Stimmen, welche die prinzipielle Überlegenheit des Buches gegenüber der Kinoadaption propagieren, nie gänzlich verstummen, finden Literaturverfilmungen immer wieder hohe Anerkennung (es sei hier nur nebenbei erwähnt, dass alle oben genannten Adaptionen - mit Ausnahme von Vertigo - mit dem Oscar in der Kategorie 'Bester Film' ausgezeichnet wurden).
Als Hinführung zum Phänomen der Gesichtsauflösungen sollen schlagwortartig zwei hinlänglich bekannte Diskurse gegenübergestellt werden, die einander mehr als 200 Jahre trennen und konträre epistemische sowie ästhetische Programme repräsentieren. Dieser kurze Rekurs wird unternommen, weil beide Aussagewelten symptomatisch für zwei Haltungen zum Gesicht sind, aus denen Fragen zur Darstellbarkeit bzw. Wahrnehmbarkeit und schlussendlich zu Konzepten des Subjekts folgen. Auch wenn beide Diskurse die Male ihrer historischen Entstehungskontexte aufweisen, so sprechen sie in gleichem Maße von Gegebenheiten, die noch heute die mediale und ästhetische Wirklichkeit betreffen. Das Ziel dieses Vorgehens ist es, in der Zusammenfassung beider Haltungen eine Blindstelle aufscheinen zu lassen, die die Frage der Interpretation von Gesichtsrepräsentationen berührt. Die Gegenstände der Untersuchung entstammen der Performance- und Medienkunst.
[...] Halten wir [...] als Arbeitshypothese fest, dass Jean Paul in seinem zweiten bürgerlichen Roman nach dem "Siebenkäs" einerseits den Gedanken der psychischen Doppelgängerschaft fortschreibt, ihm aber andererseits über die Zwillingsmetapher eine neue, hereditäre und generative Dimension verleiht.
Auch wenn das auf den ersten Blick kontraintuitiv erscheint, steht diese Veränderung, wie sich herausstellen wird, für eine größere und größer werdende Unähnlichkeit zwischen den beiden Helden. Der gleitende Wechsel der Metaphern markiert also einen sich schon im "Siebenkäs" abzeichnenden, in den "Flegeljahren" jedoch verstärkt fortgesetzten Entfremdungsprozess der für
die bürgerlichen Romane konstitutiven Doppel-Protagonisten.
"Das schöne Gedicht auf den Vogel ..." : Anmerkungen zu Hofmannsthals Rezeption Walt Whitmans
(1986)
Die Bedeutung des amerikanischen Dichters Walt Whitman (1819-1892) für Hugo von Hofmannsthal im einzelnen ausmachen zu wollen, ist nicht einfach und kann auch nicht Ziel dieser Ausführungen sein. Vielmehr soll es darum gehen, Spuren zu verfolgen, die einer solchen Untersuchung dienlich sein können. Dem kurzen Überblick über die Rezeption Whitmans im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert folgen eine genauere Untersuchung des Briefwechsels zwischen Hofmannsthal und Ottonie von Degenfeld, welcher gegenüber Hofmannsthal Whitmans Gedicht "Out of the Cradle Endlessly Rocking" wohl als das "schöne Gedicht auf den Vogel, der um seine Frau klagt" erwähnte, sowie der vollständige Abdruck des Gedichtes und dessen deutsche Übersetzung von Johannes Schlaf.
Sucht man wissenschaftsgeschichtlich den Ort oder die Schaltstelle an dem sich das passive Blicken von dem Handeln auslösenden Blicken zu trennen beginnt, so findet sich ein Punkt, wo geisteswissenschaftliche Sehtheorie ihren bis dato höchst produktiven Copartner, die militärwissenschaftliche Sehtheorie, zu vergessen beginnt. Die Entdeckung der Landschaft ist bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts von Zeichnern bzw. Malern und vom Militär vorangetrieben worden. Oft genug geschah dies in gegenseitiger Bezugnahme. [...]
"Concordia domi, foris pax" : zur sprichwörtlichen Mehrsprachigkeit der Rhetorik Helmut Schmidts
(2016)
In den zahlreichen Büchern Helmut Schmidts, die in Sammelbänden auch seine Interviews, Reden und Aufsätze enthalten, spielen fremdsprachliche Phraseologismen eigentlich nur eine kleine Rolle. Dieser Beitrag enthält im Prinzip alle aufgefundenen Belege, was deutlich zu erkennen gibt, dass Helmut Schmidt im Vergleich zu Otto von Bismarck und Willy Brandt seine lateinischen und englischen Sprachkenntnisse weniger unter Beweis stellt. Französisch fehlt wegen seiner Unkenntnis der ehemals so bedeutenden Diplomatensprache fast völlig, während sich die beiden aussagekräftigen lateinischen Sprichwörter "Concordia domi, foris pax" und "Salus publica suprema lex" als gewichtige Leitmotive der politischen Rhetorik Schmidts erweisen. Erwartungsgemäß vertritt die moderne lingua franca des Angloamerikanischen die Mehrsprachigkeit Schmidts am deutlichsten. Zusätzlich zu englischen Zwillingsformeln und Redensarten kommt es hier in der Tat zu einer Reihe von englischen und amerikanischen Sprichwörtern, die eine erhebliche kommunikative Funktion übernehmen. Zweifelsohne hätte Schmidt deutschsprachige Äquivalente finden können, doch will er offensichtlich seine Betrachtungen zur politischen Situation in Deutschland, Europa und der Welt durch angloamerikanische Sprichwortweisheiten international untermauern. Dafür gab es vormals Latein und Französisch, doch hat nuneinmal die englische Weltsprache diese Rolle im modernen Zeitalter übernommen.
In diesem Beitrag wird das von Patrick Chamoiseau entwickelte Konzept vom "Relationspotential der Sprachen, Literaturen und Kulturen" auf Grimms Märchen angewandt. In erster Linie geht es darum, zu zeigen, wie im Laufe der Ausgaben der Sammlung "Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm" rein deutsche Erzählungen sowie mythologische Reminiszenzen entstanden sind. In zweiter Linie wird die Künstlichkeit dieses Diskurses hervorgehoben. Dazu werden die Märchen von Jacob und Wilhelm Grimm - vor allem das KHM 60 "Die zwei Brüder" - mit den mythologischen Quellen verglichen, aus denen sie vermeintlich stammen sollten.
Der französische Ausdruck ‚femme de lettres‘ (Literatin, Schriftstellerin) changiert, wörtlich genommen, zwischen den Bedeutungen ‚Frau – oder Herrin? – der Buchstaben‘, ‚Frau der Briefe‘ und ‚Frau der Literatur‘. Ihnen entsprechen die drei Aspekte Lesekompetenz, Epistolographie und Literatur. In diesem Dreieck situiert sich die aristokratische Frau im Frankreich des 17. Jahrhunderts, die in einer Zeit von weit verbreitetem Analphabetismus und fehlender Mädchenbildung lesen kann, der das Schreiben von Briefen und Briefromanen als geschlechtstypische Ausdrucksform zugeschrieben wird und die sich durch das Verfassen von Essays, Romanen, Erzählungen, Märchen, Gedichten und Porträts vielfältig literarisch betätigt.
Dem Inzesttabu gilt die Aufmerksamkeit in Verena Richters Beitrag "'C'est comme blasphémer: ça veut dire qu'on y croit encore.' Inzest und 68er-Diskussionen in Louis Malles "Le souffle au coeur" (1971)". Louis Malle inszeniert im Film einen Mutter-Sohn-Inzest vor dem Hintergrund eines französischen Nationalfeiertags. Dieses mit kultureller Bedeutung aufgeladene Setting erlaubt es der Autorin nicht nur, den Inzest vor dem Hintergrund einer kritischen Auseinandersetzung mit der Familienstruktur der bürgerlichen Kleinfamilie zu lesen, sondern als kritische Revision paternalistischer Gesellschaftsstrukturen grosso modo.
Im 15. Abschnitt seiner Aesthetik kommt Theodor Mundt auf den Humor als 'burleske Philosophie' zu sprechen. Als erster deutscher Ästhetiker hatte der von dem berühmt-berüchtigten Verbotsbeschluss des Bundestags vom 10. Dezember 1835 gegenüber dem sogenannten Jungen Deutschland hart getroffene Autor 1837 in seiner Abhandlung Die Kunst der deutschen Prosa systematisch die "zeitgemäße Stellung" der deutschen Prosa und damit deren Vorrangstellung gegenüber der Poesie begründet. [...] Richtete Mundt in dieser Abhandlung den Fokus noch auf die "Emancipation der Prosa", ist es in der Aesthetik nun "das Prinzip der Unmittelbarkeit" als "Philosophie der That". Mundt selbst spricht im Vorwort selbstbewusst von dem "von mir neu aufgestellte[n] Prinzip der Aesthetik". [...]
Marie-Aude Murail a pu se vivre au début de sa carrière "comme écrivaine pour non-lecteurs, vouée à faire des livres qui ne devaient jamais dépasser 200 pages" (cité dans Prince, 2015 : 152). "Le Hollandais sans peine", petit ouvrage illustré paru en 1989, relève de la littérature de jeunesse, que d'aucuns continuent à opposer à la 'vraie' littérature. Dans la présente contribution, je propose d'analyser le tour de force que Murail réussit ici encore avec humour, en coulant dans un récit pour enfants certains éléments essentiels de la critique du langage. Ainsi, en inventant de toute pièce une langue, le jeune protagoniste Jean-Charles tourne une situation de contrainte, l'injonction parentale de jouer avec le voisin de camping afin d'apprendre l'allemand, en un espace de créativité linguistique et communicationnelle qui, de plus, rapproche jeunes et adultes. L'ouvrage illustre en ce sens la définition de Murail de la littérature de jeunesse comme dialogue entre les générations.
Seit seinen Anfängen in den siebziger Jahren durchlief das Kino deutschtürkischer Filmemacher mehrere Entwicklungsphasen, beginnend mit der Phase des Problemfilms und der bevorzugten Darstellung von Opferfiguren in der Fremde. Im Laufe seiner Entwicklung zeigt sich in den neunziger Jahren eine Variante zu dieser Orientierung in Form der komischen Verarbeitung interkultureller Begegnungen. Diese Phase des deutsch-türkischen Kinos steht in enger Verbindung mit der jetzigen Phase der Fusion verschiedener transkultureller Themen und Settings. Kreiste die Handlung in Filmen der ersten Phase überwiegend um das Thema der Migration, so rückt es im Laufe der Zeit entweder in den Hintergrund, vor dem sich die Handlung abspielt, oder wird in einigen Fällen nicht mehr berücksichtigt. [...] Das Thema der Homoerotik kommt generell nur in einigen wenigen deutschtürkischen Werken vor. Fatih Akins "Auf der anderen Seite", der 2007 in den Kinos lief, mag das bekannteste Beispiel sein. Darin werden im Rahmen einer lesbischen Liebesgeschichte die Schicksale einer deutschen und einer türkischen Frau verbunden: Im Film geht es um Tod, Liebe sowie um Grenzüberschreitungen zwischen verschiedenen Ländern, Generationen, aber auch zwischen Leben und Tod bzw. Jenseits und Diesseits. Das zweite Beispiel stammt vom Schriftsteller und Essayisten Zafer Senoçak. Sein Roman "Der Erottomane. Ein Findlingbuch" ist 1999 erschienen – im gleichen Jahr, in dem Kutlug Atamans "Lola und Bilidikid" im Panorama-Programm der Berlinale lief – und erzählt die Geschichte vom Deutsch-Türken Robert, dessen Tagebuch nach seiner Ermordung gefunden wird, wodurch Schilderungen über seine sadomasochistische und homosexuelle Vergangenheit publik werden. In "Novels of Turkish-German Settlement" konstatiert Tom Cheesman, dass die Aufnahme erotischer Motive die Verlagerung der Diskussion über nationale, ethnische und historische auf sexuelle Kategorien ermöglicht: „Here, [in "Der Erottomane"] as in "Der Mann im Unterhemd", Senoçak uses erotic and pornographic motifs in order to shift the public discourse about identity away from questions of ethnicity, nationhood, and historical memory, toward questions of sexuality.“
Walser's "Reisebericht" can been read as a very concrete and exact description of a walk from Bellelay in the Swiss Jura mountains through Solothurn to Biel. The article confronts this locally highly specific readability with the text's depiction of a global or planetary journey through a "purely worldly" land, also stylized as a journey of artistic production. Special attention is being paid to differences between the first version of the piece ("Reisebeschreibung") and the context of its journal publication in 1915 and the book version of "Reisebericht" from 1919/20; differences which bear on the artistic reworking of connotations resonating World War I and on a poetics of universal nature which counteracts a rhetoric of patriotism, violence and disintegration.