800 Literatur und Rhetorik
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Auf die als Zürcher Literaturstreit bekannt gewordene philosophisch-ästhetische Heiterkeitsdebatte um Emil Staiger Ende der 1960er Jahre folgte 1982 erneut eine Auseinandersetzung um die Möglichkeiten heiterer Literatur. Den Beginn der neuen Heiterkeitsdebatte in den 1980er Jahren bildet Hans-Jürgen Heises in der Wochenzeitung "Die Zeit" veröffentlichte Klage über die "Übellaunigkeit" der gegenwärtigen Poesie, in der er die "lebenszugewandten und sinnfrohen Verlautbarungen" vermisst. Autoren wie Günter Kunert, Peter Härtling, Karl Krolow, Michael Krüger und Adolf Muschg reagieren kritisch auf diese 'neue' Forderung nach mehr Fröhlichkeit in der Dichtung. In einer rekonstruierenden und kontextualisierenden Untersuchung wird der Frage nachgegangen, ob und inwiefern sich die Argumente der neuen Heiterkeitsdebatte von denen des durch Staigers Forderungen ausgelösten Zürcher Literaturstreits unterscheiden. Damit verbunden ist die These, dass Heiterkeit wieder nur als feuilletonistischer 'Kampfbegriff' verwendet wird, der eine differenzierte Sicht auf Heiterkeit als ästhetische Kategorie letztlich verstellt und die der Debatte eigentlich zugrundeliegende Frage nach dem Verhältnis von Lyrik und Gesellschaft unbeantwortet lässt.
Dennis Bock stellt in seinem Beitrag "'Denn es geht hier nicht um Mögen oder Nichtmögen. Die Muselmänner stören ihn, das ist es' - Erzählungen über Muselmänner in der Literatur über die Shoah heraus", wie durch die narrative Variation der im Rahmen der Shoah-Literatur inventarisierten Figur des Muselmanns und dem mit ihr verbundenen konventionalisierten Narrativ ein Störpotential erzeugt wird, das den Fokus auf die Berührbarkeit eines Tabus legt. Es ist die Berührbarkeit des Todes, die durch die erzählerische Identifikation mit einer zwischen Leben und Tod begriffenen Figur evoziert wird, und dergestalt einen Reflexionsprozess in Gang setzt.
Die Reaktionen auf das Werk Thomas Bernhards sind Paradebeispiele für das Missverständnis, Literatur habe unvermittelt etwas mit Politik, Philosophie oder anderen gesellschaftlichen Teilbereichen zu tun. Auch Aussagen von Bernhard selbst forcieren diesen Eindruck, gleich, ob sie in den 'faktualen' Interviews, den wenigen poetologischen Texten, den Reden zu Preisverleihungen, der meist referentiell gewerteten Textsorte Autobiographie oder in den 'fiktionalen' Texten geäußert werden: "Zu Lebzeiten war das Bild des Autors Thomas Bernhard vor allem in Österreich ganz wesentlich von Skandalen geprägt."
Inhaltlich umfassen die Themenbereiche die 'Makro-' bis zur 'Mikroebene' des Sozialen: Der Staat Österreich wird zum Ziel des Angriffs, die von Bernhard angeprangerten Kontinuitäten in nationalsozialistischer Hinsicht, der Katholizismus (die Religion), unterschiedliche Institutionen, beispielsweise das Schulsystem, die Musikausbildung, die Familie, konkrete Personen bis hin zum Leitzordner in der Auslöschung, der dann wiederum als Symbol für eine bürokratisierte österreichische und europäische 'Leitzordnerkultur' auf die Makroebene hochgerechnet wird.
Auch in der Forschung wird immer wieder die Frage nach dem Realitätsgehalt der Texte Bernhards aufgeworfen: Wieviel Dichtung, wieviel Wahrheit beinhaltet die Autobiographie, wieviel Biographie die 'Fiktion', wie ist Österreich im Text repräsentiert?
Polen als Niemandsland? Deutschland als Wunderland? In der zweisprachigen Anthologie Kindheit in Polen - Kindheit in Deutschland erzählen deutsche und polnische AutorInnen - aufgewachsen in Polen, in der DDR, in Westdeutschland - aus ihrer Kindheit. In ihren Texten spiegeln sich gesellschaftliche Umbrüche, Familie und Liebe, Flucht und Vertreibung, Religion und Ideologie, inter- und transkulturelle Erfahrungen sowie die Heimatsuche der Flüchtlingskinder. Die Erzählungen, Gedichte und Erinnerungen zeigen Unterschiedliches und Gemeinsames, sie fördern den Austausch über Grenzen hinweg. Die Auseinandersetzung mit Zentrum und Peripherie bezieht sich nicht nur auf Grenzregionen, sondern betrifft auch kulturelles und literarisches Erbe. Die gegenwärtige deutsche und polnische Literatur bewegt sich in Richtung unterschiedlicher Zentren, und ihre Autoren scheinen irgendwie 'zwischen' zwei oder sogar mehreren Sprachen und Kulturen zu leben. Die im vorliegenden Beitrag analysierte Anthologie scheint ein Buch der deutsch-polnischen Begegnungen zu sein. Sie baut eine Brücke für ein gegenseitiges Verstehen unserer Vergangenheit und Gegenwart.
Walter Benjamin schlug vor, den Pessimismus in der geschichtlichen Welt zu organisieren, indem man im Hohlraum unseres "politischen Handelns" selbst einen "Bildraum" entdeckt. Diese Vorstellung betrifft die unreine Zeitlichkeit unseres geschichtlichen Lebens, die weder vollendete Zerstörung noch beginnende Erlösung umfasst. In diesem Sinne ist auch das Nachleben der Bilder zu verstehen, seine fundamentale Immanenz: weder als Nichtigkeit noch als Fülle, weder als jedem Gedächtnis vorausgehende Quelle noch als jeder Katastrophe nachfolgender Horizont, sondern als ihnen eignende Ressource, Ressource des Begehrens und der Erfahrung im Hohlraum selbst unserer unmittelbarsten Entscheidungen, unseres alltäglichsten Lebens.
Die Literatur der Weimarer Republik ist ein diskursives Schlachtfeld, auf dem die "neuen" elektronischen Massen- und Unterhaltungsmedien den traditionellen Buch- und Menschenmedien Konkurrenz machen. Im 19. Jahrhundert findet eine Verschiebung der Medienkonstellationen statt. Die Zahl der Einzelmedien nimmt zu: Die Menschenmedien (Theater), Schreibmedien (Brief, Blatt, Wand) und Druckmedien (u.a. Zeitung, Zeitschrift, Buch) bekommen ab jetzt Konkurrenz von den elektronischen Unterhaltungs- und Massenmedien Telegraf, Fotografie, Telefon, Schallplatte und Film. Diese neuen Medien sind auch in die Literatur eingegangen, u.a. durch so genannte "Medienreflexionen", Reflexionen also über die Medien im Rahmen der literarischen Werke selbst, wie z. B. Prousts Ablehnung des Mediums Film in 'À la recherche du temps perdu'. Wenn Medienreflexionen sich auf ein einzelnes Werk beziehen, spricht man von "Einzelreferenz", wenn sie sich auf eine Mediengruppe beziehen von "Systemreferenz". Wenn Reflexionen über die mediale, ästhetische oder fiktionale Qualität eines Mediums in einem literarischen Text figurieren, spricht man von "Metamedialität". Ein weiterer Terminus, der im vorliegenden Beitrag von Belang ist, ist Transmedialität. Transmedialität wird hier in Anlehnung an Hermann Herlinghaus als das Übersetzen eines Mediums in ein anderes definiert und meint "jene Prozeduren und Wechselwirkungen, die mit einem medialen Gestalt- und Funktionswechsel verbunden sind, das heißt die Transformation von Diskursen eines Mediums in Bilder oder Texte eines anderen: Literaturverfilmungen, 'Verbuchung' von Filmen und Hörspielen, Fernsehinszenierungen nach Theater- und Erzähltexten, Videoaufzeichnungen von Theaterstücken und dergleichen mehr."
Der Artikel stellt aktuelle stilometrische Studien im Delta-Kontext vor. Diskutiert wird, warum die Verwendung des Kosinus-Abstands zu einer Verbesserung der Erfolgsquote führt; durch Experimente zur Vektornormalisierung gelingt es, die Funktionsweise von Delta besser zu verstehen. Anhand von mittelhochdeutschen Texten wird gezeigt, dass auch metrische Eigenschaften zur Autorschaftsattribution eingesetzt werden können. Zudem wird untersucht, inwieweit die mittelalterliche, nicht-normierte Schreibung die Erfolgsquote von Delta beeinflusst. Am Beispiel von arabisch-lateinischen Übersetzungen wird geprüft, inwieweit eine selektive Merkmalseliminierung dazu beitragen kann, das Übersetzersignal vom Genresignal zu isolieren.
Da das Singuläre im Aktionsbereich des Literarischen einen angestammten Ort der Verhandlung und der Ausgestaltung hat, stellt sich die Frage, inwiefern der Literatur selbst eine hiatische Funktion, das heißt die Funktion einer "Atemwende", eines Richtungswechsels, oder weniger luftig gedacht: die Funktion eines Aktes, einer Veränderung bewirkenden Kraft zukommt.
Felicitas Hoppe entwickelt in ihrer fiktionalen Autobiografie 'Hoppe' (2012) ein komplexes Spiel mit Erzähl- und Erzählerkonventionen, Gattungs- und Leseerwartungen sowie mit Fakt und Fiktion. Offensichtlich changiert der Status dieses Textes: Für Fiktionalität sprechen etwa die paratextuelle Gattungskennzeichnung als "Roman", die Umschreibung auf dem Klappentext als "Traumbiographie" sowie die Rezeption als "Metaautobiografik". Auf Faktualität wiederum deuten eine ganze Reihe von epitextuellen und habituellen Inszenierungspraktiken hin, die den Text, gerade weil er gar nicht erst versucht, bloße Fakten zu schildern, als eine 'wahrhaftige' Autobiografie der 'realen' Autorin Felicitas Hoppes markieren. Der Text ist damit – wie es in Definitionen der Debatte um 'Autofiktion' heißt – von einer "oszillierenden Ungewissheit" zwischen autobiografischem und romaneskem Pakt, zwischen Fakt und Fiktion geprägt.
Lässt sich, wie Heidemarie Uhl fragt, »die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie [...] nicht als ein quasi-kolonialer Herrschaftskomplex begreifen, in dem die hegemoniale Kultur sich beständig durch Grenzziehungen zu ihrem kulturell-zivilisatorischen ›Anderen‹ legitimiert [...]«? Und welche Resonanz haben die vielfältigen Herrschaftsformen im habsburgischen Zentraleuropa in literarischen Texten gefunden? Eben einem solchen literarischen Text, der dieser Monarchie, diesem ›quasi-kolonialen Herrschaftskomplex‹ entsprang und in dem das kulturell-zivilisatorisch ›Andere‹, das ›Orientalische‹, eine bedeutende Rolle spielt, widmet sich meine Lektüre. Die für mich zentrale theoretische Fragestellung ist, ob neben dem expliziten kolonialen Gehalt des Textes auch seine impliziten kolonialen oder postkolonialen Strukturen lesbar und exponierbar werden oder immer schon exponiert sind. Die Möglichkeit einer postkolonialen Lesart würde bedeuten, dass es sich um einen Text handelt, in dem vielfältige, prozesshafte Identitätskonzepte lesbar sind, in dem binäre Oppositionsstrukturen unterlaufen werden und in dem sich Räume der Hybridität eröffnen, wie sie u.a. mit Homi Bhabhas Konzept des ›Dritten Raumes‹ beschreibbar sind.
Uwe Schütte hat ganz richtig bemerkt, dass W. G. Sebald ein Autor war, der "verstörende Leseerfahrungen [bietet], bei denen wir in Berührung kommen mit einem 'Anderen', das sich wissenschaftlicher Explikation sowie rationalisierender Begradigung entzieht", und hier beginnen die Analogien zu Kiefer. Eine vergleichende Gegenüberstellung der beiden ist bislang noch nirgendwo erfolgt, weder von Seiten der kaum mehr überblickbaren Sebald-Forschung noch in den zahlreichen Publikationen und Katalogen, die die Ausstellungen und Installationen von Anselm Kiefer begleitet haben. Die folgenden Betrachtungen sollen zeigen, dass es zwischen ihnen die verblüffendsten Bezüge und Gemeinsamkeiten gibt - und zwar sowohl inhaltlich, was die Wahl ihrer blutgetränkten, geschichtsbefrachteten Sujets betrifft, als auch formal, was ihre palimpsesthaften Verfahrensweisen anbelangt - und nicht zuletzt auch biographisch: mit Blick auf ihre Werdegänge.
This study attempts to determine what methodological approach is suitable for studying speeches about Germanness that were written in Germany in the 1980s. The corpus of the speeches was chosen to cover multiple areas and disciplines. It includes literary, political and historiographical speeches authored by G. Grass ('Geschenkte Freiheit'), M. Walser ('Über Deutschland reden'), R. von Weizsäcker ('Der 8. Mai 1945'), E. Nolte ('Vergangenheit, die nicht vergehen will') and H. Lübbe ('Der Nationalsozialismus im Bewußtsein der deutschen Gegenwart'). The study illustrates the limitations of the ideological and purely disciplinary methodological approach. Instead it seeks a starting point for an analysis which proceeds in an intertextual and interdisciplinary manner.
Else LaskerSchüler (1869-1945), among the significant expressionist woman writers, did not only suffer from being both a woman and author, but also had to struggle under difficulties of being a hebrew. In this paper, especially the letter novel titled "Der Malik : Eine Kaisergeschichte" has been handled in the light of Homi K. Bhabha's 'Third Space Theory'. In regard to this, the "Third Space", which is defined by postcolonial theoretician Homi K. Bhabha as an extra place where minorities and outcast groups can express themselves in his work "The Location of Culture", is adapted to the literary "Orient" and defined once again in Else Lasker-Schüler's novel as it was never approached and interpreted before. In this sense, this supports the relevance to analyze her mentioned works in terms of the "Third Space Theory". Else Lasker-Schüler constructed a new world for herself through literature; her works were her life and her life was her works.
Michel Foucault stellt uns in einem seiner Texte einen besonderen Menschentypus vor: die Infamen. Die infamen Existenzen bezeichnet er auch als „Skandalmenschen“ und Skandale gibt es seit der Ausdifferenzierung der Massenmedien vor allem als Medienereignisse. Die massenmediale Berichterstattung ist dann auch einer der Orte, an dem seit dem 18. Jahrhundert Foucaults infame Menschen dokumentiert werden, die "allesamt rasend, anstößig und erbärmlich" sind. [...]
Genau dort findet sich auch der Name, der im Folgenden im Mittelpunkt steht: Robert Steinhäuser, der Erfurter Amokläufer, der 2002 sechzehn Menschen und anschließend sich selbst tötet. Inwiefern diese Tat als ein Individualisierungsprogramm mit dem Ziel der Einschreibung des eigenen Namens in den publizistischen Diskurs zu verstehen ist, inwiefern Steinhäuser sich also im Sinne Foucaults auf elende Art einen Namen macht, wird in den kommenden Ausführungen Thema sein. Im Zuge dessen wird es einerseits auch um die Frage gehen, in welcher Form der Name im journalistischen Raster verarbeitet wird und welche prominente Rolle er dort spielt. Der Name wird mit einer Biografie unterlegt, deren Koordinaten durch spezifische publizistische Verfahren, die im Folgenden vorgestellt werden, weitgehend festgelegt sind. Zugleich jedoch können Elemente der Biografie auch stark divergieren, so dass der Name zur frei verfügbaren Einschreibungsfläche wird.
Als Peter Härtling am 7.11.2014 mit dem Hessischen Kulturpreis ausgezeichnet wird, spielt er auf die reformpädagogischen "fromme[n] Wünsche" an, die mit dem von Ellen Key 1902 ausgerufenen "Jahrhundert des Kindes" für das 20. Jahrhundert postuliert worden waren, und die, wie er selbst als Kind während und nach dem Zweiten Weltkrieg erfahren musste, "unerfüllbar" gewesen seien. Sein Rückblick lässt ihn allerdings zu dem Schluss kommen, dass das 21. Jahrhundert noch "schlimmer" sei, denn es handele sich um das "Jahrhundert des Flüchtlingskindes". Es liegt folglich nahe, angesichts seines im Herbst 2016 erschienenen "Romans für Kinder", Djadi, Flüchtlingsjunge, auf den erinnernden Autor zu blicken, der mit 13 Jahren kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs zum Waisen wurde. ...
L'obiettivo del presente articolo è quello di offrire una visione complementare a quella abituale del romanzo "Die Entdeckung der Currywurst" di Uwe Timm in cui vengano privilegiati gli aspetti del romanzo che lo identificano come opera di World Literature. Se fino ad ora il romanzo è stato principalmente letto come un romanzo tedesco di guerra, con questa lettura si intende far emergere gli aspetti che di esso oltrepassano i confini nazionali e linguistici. Per fare questo si osserveranno in breve i punti di contatto fra la WL e la letteratura postcoloniale, dalla quale la WL stessa ha origine. In particolare si concentrerà l'attenzione sugli elementi del romanzo che evidenziano il rapporto con le letterature e culture di oltre confine, come la cornice narrativa, in cui la narrazione principale si iscrive; le contaminazioni letterarie che emergono dal racconto e infine i numerosi esempi di relazione fra centro e periferia. Inoltre, verrà evidenziato come il periodo storico in cui il romanzo è ambientato, ovvero quello della 'Stunde Null', abbia esso stesso dei contatti intrinseci con le teorie postcoloniali. Si mostrerà come la tesi dell'afferenza del presente romanzo alla WL, sia sostenuta dal fatto che anche attraverso romanzi precedenti, Uwe Timm mostra un interesse spiccato nei confronti delle realtà degli altri paesi e continenti e dell’eredità coloniale dell'Europa.
"Das Elementare in der Musik" : Zeitkritik und 'primitive' Musik in Thomas Manns Doktor Faustus
(2015)
Thomas Manns 'Doktor Faustus' (1947) ist ein Altersroman, ein Exilroman, ein Deutschlandroman, aber vor allem natürlich ein "Musik[]roman". Das ist im Hinblick auf die Frage nach einem gerade auch intermedial konstituierten Primitivismus im frühen 20. Jahrhundert signifikant. Denn der in jener Zeit beginnende und im Nationalsozialismus kulminierende Umschlag von Kunst und "Kultur" in Krieg und "Barbarei" koinzidiert im zeitdiagnostischen Panorama von Manns Roman mit einem ästhetischen Interesse am "Elementaren", am "Primitiven und Uranfänglichen". Dieses aufkeimende Interesse und seine politischen Weiterungen werden in Betrachtungen über zeitgenössische Kunst reflektiert und insbesondere am Schaffen des Tonsetzers Adrian Leverkühn exemplifiziert. Anders ausgedrückt: Der zeitgenössische Diskurs über das 'Primitive' spiegelt sich in Struktur und Handlung des Romans. Wenn im Folgenden der Frage nachgegangen wird, wie diese Vorstellung des 'Primitiven' im 'Doktor Faustus' funktionalisiert ist und aus welchen Quellen sie sich speisen könnte, ist ein "ausgeweitete[r] Primitivismus-Begriff" in Anschlag zu bringen, der sich in der Literaturwissenschaft erst zu etablieren beginnt.
Wie die Literatur- und Theoriegeschichte zeigt, wurde das Dämonische im Gefolge von Goethe auf wirkmächtige Weise von den Dämonen entkoppelt. Walter Benjamin brachte vor diesem Hintergrund E. T. A. Hoffmann ins Spiel, einen Schriftsteller, dessen "fieberhafte Träume" Goethe verschmähte. Unter dem Titel "Das dämonische Berlin" sprach Benjamin im Februar 1930 in der Kinderstunde des Berliner Rundfunks über Hoffmann als Dichter der Großstadt. Obwohl das Wort "dämonisch" nur im Titel fällt, eröffnet der Vortrag eine neue Sicht auf das post-goethesche Dämonische, denn die Medialität des Dämonischen wird darin auf mehreren Ebenen reflektiert, die das Radio selbst involvieren.
Der Spielfilm ist seit seiner Erfindung vor mehr als hundert Jahren in mehrfacher Hinsicht eng mit dem Literaturwesen verknüpft. So ähnelt ein Drehbuch in seinem Aufbau einem Theaterstück, verwendet aber gleichzeitig Erzähltechniken, die aus Kurzgeschichten und Romanen bekannt sind. Den deutlichsten Eindruck der Verbindung zwischen Film und Literatur allerdings vermittelt ein Blick auf die große Anzahl an Adaptionen, welche jährlich auf die Leinwand gebracht werden. Vom jahrhundertealten Klassiker bis zum eben erschienenen Horror-Thriller werten Produzenten unermüdlich Dramen, Kurzgeschichten und vor allem Romane auf ihre mögliche (Wieder-)Verfilmbarkeit aus, erwerben gegebenenfalls die Rechte und übertragen das schriftliche Original - mit häufig stark verändertem Handlungsstrang - in audiovisuelle Unterhaltung. Unabhängig davon, ob es sich um 'hohe' oder 'triviale' Literatur handelt, gelingen dabei oft von der Kritik hoch gelobte und zeitlose Filme. Die Vorlage gerät dabei nicht selten in Vergessenheit. So wählte im August 2012 das British Film Institute Alfred Hitchcocks 'Vertigo - Aus dem Reich der Toten' (Vertigo, 1958) zum besten Film aller Zeiten. Pierre Boileau und Thomas Narcejacs Roman 'Von den Toten auferstanden' (D’Entre Les Morts, 1954), auf dem der Film beruhte, dürfte heute dagegen nur mehr den Wenigsten bekannt sein. Um einige weitere Beispiele berühmter filmischer Adaptionen zu nennen (basierend auf mehr oder weniger berühmten Romanen): Im Westen nichts Neues (All Quiet on the Western Front, 1930, Regie: Lewis Milestone, nach dem Roman von Erich Maria Remarque, 1928); Vom Winde verweht (Gone with the Wind, 1939, Victor Fleming, nach dem Roman von Margaret Mitchell, 1936); Einer flog übers Kuckucksnest (One Flew over the Cuckoo's Nest, 1975, Milos Forman, nach dem Roman von Ken Kesey, 1962), No Country for Old Men (2007, Joel und Ethan Coen, nach dem Roman von Cormac McCarthy, 2007), und Slumdog Millionaire (2008, Danny Boyle, nach dem Roman Rupien! Rupien! - im Original Q & A - von Vikas Swarup).
Auch wenn Stimmen, welche die prinzipielle Überlegenheit des Buches gegenüber der Kinoadaption propagieren, nie gänzlich verstummen, finden Literaturverfilmungen immer wieder hohe Anerkennung (es sei hier nur nebenbei erwähnt, dass alle oben genannten Adaptionen - mit Ausnahme von Vertigo - mit dem Oscar in der Kategorie 'Bester Film' ausgezeichnet wurden).
Als Hinführung zum Phänomen der Gesichtsauflösungen sollen schlagwortartig zwei hinlänglich bekannte Diskurse gegenübergestellt werden, die einander mehr als 200 Jahre trennen und konträre epistemische sowie ästhetische Programme repräsentieren. Dieser kurze Rekurs wird unternommen, weil beide Aussagewelten symptomatisch für zwei Haltungen zum Gesicht sind, aus denen Fragen zur Darstellbarkeit bzw. Wahrnehmbarkeit und schlussendlich zu Konzepten des Subjekts folgen. Auch wenn beide Diskurse die Male ihrer historischen Entstehungskontexte aufweisen, so sprechen sie in gleichem Maße von Gegebenheiten, die noch heute die mediale und ästhetische Wirklichkeit betreffen. Das Ziel dieses Vorgehens ist es, in der Zusammenfassung beider Haltungen eine Blindstelle aufscheinen zu lassen, die die Frage der Interpretation von Gesichtsrepräsentationen berührt. Die Gegenstände der Untersuchung entstammen der Performance- und Medienkunst.
[...] Halten wir [...] als Arbeitshypothese fest, dass Jean Paul in seinem zweiten bürgerlichen Roman nach dem "Siebenkäs" einerseits den Gedanken der psychischen Doppelgängerschaft fortschreibt, ihm aber andererseits über die Zwillingsmetapher eine neue, hereditäre und generative Dimension verleiht.
Auch wenn das auf den ersten Blick kontraintuitiv erscheint, steht diese Veränderung, wie sich herausstellen wird, für eine größere und größer werdende Unähnlichkeit zwischen den beiden Helden. Der gleitende Wechsel der Metaphern markiert also einen sich schon im "Siebenkäs" abzeichnenden, in den "Flegeljahren" jedoch verstärkt fortgesetzten Entfremdungsprozess der für
die bürgerlichen Romane konstitutiven Doppel-Protagonisten.
"Das schöne Gedicht auf den Vogel ..." : Anmerkungen zu Hofmannsthals Rezeption Walt Whitmans
(1986)
Die Bedeutung des amerikanischen Dichters Walt Whitman (1819-1892) für Hugo von Hofmannsthal im einzelnen ausmachen zu wollen, ist nicht einfach und kann auch nicht Ziel dieser Ausführungen sein. Vielmehr soll es darum gehen, Spuren zu verfolgen, die einer solchen Untersuchung dienlich sein können. Dem kurzen Überblick über die Rezeption Whitmans im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert folgen eine genauere Untersuchung des Briefwechsels zwischen Hofmannsthal und Ottonie von Degenfeld, welcher gegenüber Hofmannsthal Whitmans Gedicht "Out of the Cradle Endlessly Rocking" wohl als das "schöne Gedicht auf den Vogel, der um seine Frau klagt" erwähnte, sowie der vollständige Abdruck des Gedichtes und dessen deutsche Übersetzung von Johannes Schlaf.
Sucht man wissenschaftsgeschichtlich den Ort oder die Schaltstelle an dem sich das passive Blicken von dem Handeln auslösenden Blicken zu trennen beginnt, so findet sich ein Punkt, wo geisteswissenschaftliche Sehtheorie ihren bis dato höchst produktiven Copartner, die militärwissenschaftliche Sehtheorie, zu vergessen beginnt. Die Entdeckung der Landschaft ist bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts von Zeichnern bzw. Malern und vom Militär vorangetrieben worden. Oft genug geschah dies in gegenseitiger Bezugnahme. [...]
"Concordia domi, foris pax" : zur sprichwörtlichen Mehrsprachigkeit der Rhetorik Helmut Schmidts
(2016)
In den zahlreichen Büchern Helmut Schmidts, die in Sammelbänden auch seine Interviews, Reden und Aufsätze enthalten, spielen fremdsprachliche Phraseologismen eigentlich nur eine kleine Rolle. Dieser Beitrag enthält im Prinzip alle aufgefundenen Belege, was deutlich zu erkennen gibt, dass Helmut Schmidt im Vergleich zu Otto von Bismarck und Willy Brandt seine lateinischen und englischen Sprachkenntnisse weniger unter Beweis stellt. Französisch fehlt wegen seiner Unkenntnis der ehemals so bedeutenden Diplomatensprache fast völlig, während sich die beiden aussagekräftigen lateinischen Sprichwörter "Concordia domi, foris pax" und "Salus publica suprema lex" als gewichtige Leitmotive der politischen Rhetorik Schmidts erweisen. Erwartungsgemäß vertritt die moderne lingua franca des Angloamerikanischen die Mehrsprachigkeit Schmidts am deutlichsten. Zusätzlich zu englischen Zwillingsformeln und Redensarten kommt es hier in der Tat zu einer Reihe von englischen und amerikanischen Sprichwörtern, die eine erhebliche kommunikative Funktion übernehmen. Zweifelsohne hätte Schmidt deutschsprachige Äquivalente finden können, doch will er offensichtlich seine Betrachtungen zur politischen Situation in Deutschland, Europa und der Welt durch angloamerikanische Sprichwortweisheiten international untermauern. Dafür gab es vormals Latein und Französisch, doch hat nuneinmal die englische Weltsprache diese Rolle im modernen Zeitalter übernommen.
In diesem Beitrag wird das von Patrick Chamoiseau entwickelte Konzept vom "Relationspotential der Sprachen, Literaturen und Kulturen" auf Grimms Märchen angewandt. In erster Linie geht es darum, zu zeigen, wie im Laufe der Ausgaben der Sammlung "Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm" rein deutsche Erzählungen sowie mythologische Reminiszenzen entstanden sind. In zweiter Linie wird die Künstlichkeit dieses Diskurses hervorgehoben. Dazu werden die Märchen von Jacob und Wilhelm Grimm - vor allem das KHM 60 "Die zwei Brüder" - mit den mythologischen Quellen verglichen, aus denen sie vermeintlich stammen sollten.
Der französische Ausdruck ‚femme de lettres‘ (Literatin, Schriftstellerin) changiert, wörtlich genommen, zwischen den Bedeutungen ‚Frau – oder Herrin? – der Buchstaben‘, ‚Frau der Briefe‘ und ‚Frau der Literatur‘. Ihnen entsprechen die drei Aspekte Lesekompetenz, Epistolographie und Literatur. In diesem Dreieck situiert sich die aristokratische Frau im Frankreich des 17. Jahrhunderts, die in einer Zeit von weit verbreitetem Analphabetismus und fehlender Mädchenbildung lesen kann, der das Schreiben von Briefen und Briefromanen als geschlechtstypische Ausdrucksform zugeschrieben wird und die sich durch das Verfassen von Essays, Romanen, Erzählungen, Märchen, Gedichten und Porträts vielfältig literarisch betätigt.
Dem Inzesttabu gilt die Aufmerksamkeit in Verena Richters Beitrag "'C'est comme blasphémer: ça veut dire qu'on y croit encore.' Inzest und 68er-Diskussionen in Louis Malles "Le souffle au coeur" (1971)". Louis Malle inszeniert im Film einen Mutter-Sohn-Inzest vor dem Hintergrund eines französischen Nationalfeiertags. Dieses mit kultureller Bedeutung aufgeladene Setting erlaubt es der Autorin nicht nur, den Inzest vor dem Hintergrund einer kritischen Auseinandersetzung mit der Familienstruktur der bürgerlichen Kleinfamilie zu lesen, sondern als kritische Revision paternalistischer Gesellschaftsstrukturen grosso modo.
Im 15. Abschnitt seiner Aesthetik kommt Theodor Mundt auf den Humor als 'burleske Philosophie' zu sprechen. Als erster deutscher Ästhetiker hatte der von dem berühmt-berüchtigten Verbotsbeschluss des Bundestags vom 10. Dezember 1835 gegenüber dem sogenannten Jungen Deutschland hart getroffene Autor 1837 in seiner Abhandlung Die Kunst der deutschen Prosa systematisch die "zeitgemäße Stellung" der deutschen Prosa und damit deren Vorrangstellung gegenüber der Poesie begründet. [...] Richtete Mundt in dieser Abhandlung den Fokus noch auf die "Emancipation der Prosa", ist es in der Aesthetik nun "das Prinzip der Unmittelbarkeit" als "Philosophie der That". Mundt selbst spricht im Vorwort selbstbewusst von dem "von mir neu aufgestellte[n] Prinzip der Aesthetik". [...]
Marie-Aude Murail a pu se vivre au début de sa carrière "comme écrivaine pour non-lecteurs, vouée à faire des livres qui ne devaient jamais dépasser 200 pages" (cité dans Prince, 2015 : 152). "Le Hollandais sans peine", petit ouvrage illustré paru en 1989, relève de la littérature de jeunesse, que d'aucuns continuent à opposer à la 'vraie' littérature. Dans la présente contribution, je propose d'analyser le tour de force que Murail réussit ici encore avec humour, en coulant dans un récit pour enfants certains éléments essentiels de la critique du langage. Ainsi, en inventant de toute pièce une langue, le jeune protagoniste Jean-Charles tourne une situation de contrainte, l'injonction parentale de jouer avec le voisin de camping afin d'apprendre l'allemand, en un espace de créativité linguistique et communicationnelle qui, de plus, rapproche jeunes et adultes. L'ouvrage illustre en ce sens la définition de Murail de la littérature de jeunesse comme dialogue entre les générations.
Seit seinen Anfängen in den siebziger Jahren durchlief das Kino deutschtürkischer Filmemacher mehrere Entwicklungsphasen, beginnend mit der Phase des Problemfilms und der bevorzugten Darstellung von Opferfiguren in der Fremde. Im Laufe seiner Entwicklung zeigt sich in den neunziger Jahren eine Variante zu dieser Orientierung in Form der komischen Verarbeitung interkultureller Begegnungen. Diese Phase des deutsch-türkischen Kinos steht in enger Verbindung mit der jetzigen Phase der Fusion verschiedener transkultureller Themen und Settings. Kreiste die Handlung in Filmen der ersten Phase überwiegend um das Thema der Migration, so rückt es im Laufe der Zeit entweder in den Hintergrund, vor dem sich die Handlung abspielt, oder wird in einigen Fällen nicht mehr berücksichtigt. [...] Das Thema der Homoerotik kommt generell nur in einigen wenigen deutschtürkischen Werken vor. Fatih Akins "Auf der anderen Seite", der 2007 in den Kinos lief, mag das bekannteste Beispiel sein. Darin werden im Rahmen einer lesbischen Liebesgeschichte die Schicksale einer deutschen und einer türkischen Frau verbunden: Im Film geht es um Tod, Liebe sowie um Grenzüberschreitungen zwischen verschiedenen Ländern, Generationen, aber auch zwischen Leben und Tod bzw. Jenseits und Diesseits. Das zweite Beispiel stammt vom Schriftsteller und Essayisten Zafer Senoçak. Sein Roman "Der Erottomane. Ein Findlingbuch" ist 1999 erschienen – im gleichen Jahr, in dem Kutlug Atamans "Lola und Bilidikid" im Panorama-Programm der Berlinale lief – und erzählt die Geschichte vom Deutsch-Türken Robert, dessen Tagebuch nach seiner Ermordung gefunden wird, wodurch Schilderungen über seine sadomasochistische und homosexuelle Vergangenheit publik werden. In "Novels of Turkish-German Settlement" konstatiert Tom Cheesman, dass die Aufnahme erotischer Motive die Verlagerung der Diskussion über nationale, ethnische und historische auf sexuelle Kategorien ermöglicht: „Here, [in "Der Erottomane"] as in "Der Mann im Unterhemd", Senoçak uses erotic and pornographic motifs in order to shift the public discourse about identity away from questions of ethnicity, nationhood, and historical memory, toward questions of sexuality.“
Walser's "Reisebericht" can been read as a very concrete and exact description of a walk from Bellelay in the Swiss Jura mountains through Solothurn to Biel. The article confronts this locally highly specific readability with the text's depiction of a global or planetary journey through a "purely worldly" land, also stylized as a journey of artistic production. Special attention is being paid to differences between the first version of the piece ("Reisebeschreibung") and the context of its journal publication in 1915 and the book version of "Reisebericht" from 1919/20; differences which bear on the artistic reworking of connotations resonating World War I and on a poetics of universal nature which counteracts a rhetoric of patriotism, violence and disintegration.
Klaus Werner beschreibt in seinem Beitrag die einzigartige Mehrschichtigkeit und Tiefendimension künstlerisch bearbeiteter 'schwarzer Bücher' in Li Silberbergs Installation "Bibliothek", die als unzugänglicher gläserner Raum entzogener Lektüre mit der Einrichtung von Regalfächern und Schreibplatte zugleich subtil die materielle Bedingtheit des 'Prinzips Bibliothek' ausstellt.
"Berührungsfurcht" : soziale Imaginationen der Unterklassigen in der Kanon-Literatur der Moderne
(2020)
Die gutbürgerliche Literatur verwahrt sich mit allem, was ihr eigen ist - Sprache, Aisthesis, Kreativität, Imagination, Wissen und Bildung - gegen den Übergriff des Anderen und Fremden in Gestalt des sozial Niederen und Subalternen im eigenen Erfahrungsbereich, durchsetzt mit Empathie und Aggression. Aus der Sicht der noblen Literatur fällt der Blick auf die schäbigen Volkssänger, von denen sich Gustav Aschenbach, Thomas Manns Identifikationsfigur im "Tod in Venedig", auf der Hotelempore des Lido bedrängt fühlt, auf die elenden "Schalen von Menschen" in den Straßen und Krankenanstalten von Paris in Rilkes "Malte Laurids Brigge", auf die im Gerede sprachlosen Scheusale von Haushälterin und Hausbesorger in Canettis "Blendung", auf die im 'Jargon' agierende chassidische Schauspieler-Bagage, die Kafka so vehement gegen den Prager Kulturzionismus verteidigt. Die kulturelle Hybris gegenüber den Subalternen und Deklassierten folgt der Spur eines elitären Gestus, auch im politischen Handeln: Verachtung, Abscheu, Angst und Erschrecken angesichts der 'Deplorables', des bedauernswerten Elends der sozial Deklassierten und minder Kultivierten. [...] Das entsprechende Bildrepertoire an einsinnigen Klischees begegnet, ästhetisch nuanciert, in der literarischen Zeitgenossenschaft um 1900 bei Autoren unterschiedlichster Weltanschauung und Schreibweise. Und seitdem, was im Folgenden aufzuzeigen ist, in fast jedem uns vertrauten Text moderner, als bürgerlich verbürgter deutscher Literatur, der sich dem sozial Anderen außerhalb des eigenen Lebens- und Erfahrungsbereichs zuwendet, mehr oder weniger emphatisch oder verdrossen. Bei diesem kleinen Streifzug durch einige Kanon-Texte der Moderne kann es nicht um ihre sozialpsychologische und sozialhistorische Erklärbarkeit gehen. Vielmehr interessieren, als kleiner Nachtrag zur Lektüre der uns wohl bekannten Werke, gewisse Wege und Abwege der sozialen Imagination: der moralisch und ästhetisch oft verquere Umgang mit einem Fremden, das nicht nur in anderen Ländern und Kulturen zu suchen, sondern daheim, hier und jetzt, zu entdecken ist. In der Ferne so nah, voller "Berührungsfurcht", wenn nicht panischem Erschrecken vor dem Anderen.
Birgit Griesecke wendet sich einem Aphorismus Georg Christoph Lichtenbergs und dessen späterem Stellenwert in der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins zu. Wenn Lichtenberg die Philosophie als "Berichtigung des Sprachgebrauchs" verstanden wissen wolle, bette er diese Idee in eine Satzkonstruktion ein, die "aus einem rhetorischen Manöver ein Erkenntnisinstrument macht", indem sie performativ gerade unterschiedliche Sprachgebräuche in Szene setze. Komme der Aphorismus Lichtenbergs Sprachdenken entgegen, so kündige Wittgenstein diese Form über ein Zitationsverfahren, das nicht auf Pointierung, sondern auf Reihung ziele, unter der Hand wieder auf. In seinem "Experimentalsinn" stehe Wittgenstein Lichtenberg freilich nicht nach.
Die Poesie hat es im Streit der Künste nicht leicht, sich gegen die Macht der Musik zu behaupten. Die Überlegenheit der Musik steht mit Monteverdi schon am Anfang der Operngeschichte. Die Operngeschichte ist voller Beispiele vom Streit zwischen Dichtern und Musikern. Nur ein transdisziplinärer Meister wie Dieter Borchmeyer vermag dieses Wechselspiel zu überschauen. Immer wieder strebte die Kunst zum Gesamtkunstwerk und zur Fusion von Wort und Ton. Richard Wagner gab aller neueren Kunst das Beispiel vor. Friedrich Nietzsche nahm den ungleichen Kampf mit Wagner auf. Sein Gegenprojekt war eng mit dem Mythos von Dionysos und Ariadne verbunden. Zuletzt sah er in Cosima Wagner seine Ariadne verkörpert Im 'Ecce homo' fragte er noch: "Wer weiss ausser mir, was Ariadne ist!" (KSA 6, 348) Seine letzten Zeilen an Cosima lauteten dann wohl: "Ariadne, ich liebe Dich. Dionysos". Auf Dionysos und Ariadne lief seine Wiedergeburt der Antike im Kampf mit Wagner hinaus.
"Finnegans Wake" bildet den Gipfelpunkt der klassischen Moderne und hat die Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg so nachhaltig geprägt wie kaum ein anderes Einzelwerk. 17 Jahre lang arbeitete James Joyce daran, bevor es 1939 publiziert wurde. Über 80 Jahre später arbeitet Ulrich Blumenbach derzeit an einer kompletten Übersetzung ins Deutsche. In seinem Work-in-Progress-Journal bringt Blumenbach gemeinsam mit seinen Leser·innen die anarchische Assoziationsmaschinerie auf Touren, illustriert an sprechenden Beispielen, was es braucht, um die wilde Semiose des Werks ins Deutsche zu übertragen und beschreibt, welche Freiheiten er sich nehmen muss, um der deutschen Leserschaft eine Ahnung davon zu vermitteln, wie Sinnenergien Synergien generieren.
In the Christmas Eve sermon of the Érdy Codex its writer comes to the conclusion that Augustus, Emperor of Rome is a prefiguration of Jesus Christ. This interpretation shows - according to the second grade of the medieval biblical hermeneutics – the locus allegoricus typological meaning. The typological explanation is based on the method of correspondence. One pole is the type, the other pole is the anti-type: the type foretells the anti-type, and the anti-type fulfills, moreover, exceeds the type. This knowledge must be taken into account when interpreting this sermon. The writer confirms this idea with arguments and historical facts (monarchy, peace, census). So Augustus is one of those who prepared Christ´s saviour work. This paper deals with the history of the theological background of this theme and Karthauzi Névtelen´s sources.
"Auflösung des Judentums" : zu einem literaturwissenschaftlichen Großprojekt Friedrich Gundolfs
(2015)
Von seiner jüdischen Herkunft trägt das wissenschaftliche Werk Gundolfs keine merklichen Spuren. Im Gegenteil hat er solche Spuren systematisch verwischt. Völlig unkenntlich sind sie damit allerdings nicht geworden. Zwischen den Zeilen prägt just sein 'abgelegtes' Judentum wesentliche Teile von Gundolfs Wissenschaftskonzeption, so auch deren sprachliche Verfasstheit und den Zuschnitt ihrer wichtigsten Gegenstände. Auf der Grundlage dieser Annahme will ich im Folgenden ein paar Schlaglichter auf einige wenige, sehr wohl aber repräsentative Gundolf'sche Texte werfen. In Augenschein zu nehmen sind dabei zwei Themenkomplexe: Erstens Gundolfs Vorstellungen von Literatur, Heldentum und Geschichtsphilosophie, die einen zutiefst apolitischen Geschichtsbegriff zu erkennen geben, der ein Phänomen wie die deutsch-jüdische Geschichte nicht mehr erzählbar macht, der v. a. aber die Huldigung eines Kunstideals impliziert, das als heidnisch-christliche Symbiose imaginiert wird. In diesem Kontext wird durchgehend auch die Frage nach den Implikationen einer Wissenschaftsprosa virulent, die sich als performative Umsetzung eines Heldenkultes und säkularen Gottesdienstes begreift und die das Judentum religiös, historisch und kulturell gleichermaßen zur Leerstelle macht. Zweitens Gundolfs Konzeption des 'deutschen Geistes', wie sie prominent bereits im Titel seiner bekannten Habilitationsschrift 'Shakespeare und der deutsche Geist' aus dem Jahr 1911 auftaucht. Es ist in erster Linie die dezidiert transnationale Anlage des 'Deutschtums', die es hier zu analysieren gilt.
Für die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde ein umfassender Wandel im Bereich des Stilverständnisses konstatiert, das ab 1750 von zwei gegensätzlichen Stilbegriffen geprägt ist: einem traditionell rhetorischen einerseits und einem sich neu etablierenden Individualstil andererseits. Der Beitrag versucht, mit einem Schlaglicht auf das Frühwerk Johann Georg Hamanns ("Sokratische Denkwürdigkeiten" und "Wolken") diesen für das Verständnis der stilgeschichtlichen Umbrüche zentralen Autor im skizzierten Diskursfeld zu verorten. Ein näherer Blick auf Hamanns sokratische Schreibart erlaubt es, die geläufige Rollenzuschreibung, die in Hamann vor allem einen Wegbereiter des Individualstils erkennt, zu problematisieren und ein Paradox herauszuarbeiten: Die Entwicklung zum Individualstil beginnt im Falle von Hamanns ironisch verstellter Maskenrede mit einer radikalen Depotenzierung der Autorinstanz.
Die komplexe und diffizile Frage, der im vorliegenden Beitrag nachgegangen werden soll, ist die nach Heines Eigenschaft als Selbstübersetzer, womit das Hauptaugenmerk auf die sprachlichen d. h. mehrsprachigen Grundlagen seiner Vermittlungstätigkeit gerichtet wird. Denn die Bezeichnung Heines als Selbstübersetzer kann im Gegensatz zur Assoziierung mit dem Begriff des Kulturtransfers durchaus überraschen. Mit Heines Sprachkompetenz im Französischen und dem auktorialen Status seiner französischen Schriften werden Forschungsfragen berührt, die in der Heine-Kritik von ihren Anfängen bis heute durchaus kontrovers diskutiert werden. In diesem Zusammenhang wäre auch nachzudenken über den für die Analyse von Heines Schreib- und Veröffentlichungspraxis relevanten Begriff von Übersetzung bzw. Selbstübersetzung. Kann man im Falle Heines wirklich von einem alleinigen deutschen Original sprechen und den französischen Fassungen seiner Schriften - wie oft geschehen - einen bloß sekundären Status zuweisen? In diesem Problemzusammenhang spielt neben den textgenetischen und sprachlich-translatorischen Aspekten auch die Perspektive der Selbstdarstellung bzw. Selbstvermarktung des Dichters eine bedeutende Rolle, insofern man bei Heine von einer regelrechten Inszenierung als zweisprachigem Autor reden kann. Die von mir im Folgenden vertretene These wird hierbei lauten, dass Heinrich Heines durchaus fragwürdiger Status als Selbstübersetzer über normative Übersetzungs- und Sprachkompetenzkriterien hinaus vor allem als doppelte - d. h. binationale und zweisprachige - 'auctoritas' aufzufassen ist. Anders gesagt: Über die komplexe Frage der Textgenese hinaus soll die von Heine bewusst eingenommene Rolle als direkter Akteur zweier nationaler Wissenssysteme betont werden. Unter diesem Blickwinkel wird nicht zuletzt ein bemerkenswerter Nexus zwischen den vermittelten Wissensinhalten und deren sprachlichem Transfer sichtbar. So soll gezeigt werden, dass Heines dezidiert antinationalistisches, kosmopolitisches und universalistisches Denken zwischen Deutschland und Frankreich seine formale Entsprechung in einer interlingualen Wissenszirkulation zwischen der deutschen und der französischen Sprache findet, in deren Medium die von ihm entwickelten und vermittelten Theorien und Thesen prozessual entwickelt und weitergeschrieben werden. Eine solche Sichtweise auf Heine als translingualen Schriftsteller wurde bisher nicht immer ausreichend von der Forschung berücksichtigt und gewürdigt. Wie allgemein im Zusammenhang mit bikulturellen und bilingualen Autoren sowie sprachlich hybriden Schreibverfahren wird man mit blinden Flecken der Forschung und nationalphilologischen Widerständen konfrontiert, die eine mehr oder weniger symbolische 'Vereinsprachigung' von Heines Werken befördern oder implizieren. Dieser Umstand betrifft nicht nur die deutsche Heine-Rezeption, sondern ist bedauerlicherweise auch in der interkulturell aufgestellten französischen Germanistik der jüngeren Zeit zu beobachten, wie ich in einem abschließenden Exkurs zeigen möchte.
Stephan Trinkaus bezieht sich in seinem Beitrag auf Winnicott und auf eine Zeit des Spiels, nämlich die Vorgängigkeit einer Leere oder eines Falles, die oder der nie erfahren werden konnte und doch in der Weise der Nachträglichkeit wirksam ist. Sigmund Freud hatte diese Zeitlichkeit der Psyche entdeckt, in der immer etwas im Spiel ist, das nicht hat stattfinden, nicht sich hat aktualisieren können. Das Spiel eröffnet sich als Zeit zwischen den Reihen der Vergangenheit und der Gegenwart, die nie ganz verschweißt sind, oder auch zwischen den Reihen der Subjekte und der Objekte, die nie ganz getrennt sind und nie ganz in eins fallen, wie Trinkaus sagt. Spiel ist "ein Geschehen im Übergang von Nichtexistenz und Existenz". Entlang des mit einem tödlichen Sprung endenden Spiels des Jungen Edmund in Roberto Rossellinis "Deutschland im Jahre Null" entwirft Trinkaus die Theorie des Spiels als ein Halten des Nichts. In dieser spezifischen Ökologie des Spiels verlässt Winnicott die objekttheoretischen Entwürfe der Psychoanalyse, seien sie mit dem Konzept des Narzissmus verbunden oder mit Melanie Kleins Objekttheorie, um Spiel als Begegnung des Ichs mit seiner eigenen Unmöglichkeit zu verstehen. Weshalb Winnicott auch davon sprechen kann, "dass Spielen an sich schon Therapie ist". Von hier aus geht Trinkaus aber noch einen großen Schritt weiter, indem er in Anschluss an Maurice Blanchot das Alltägliche in seiner Subjekt- und Objektlosigkeit als eigentliche Zeit des Spiels ausmacht: Zeit und nicht Raum, weil das Halten weniger begrenzt als ermöglicht. Das führt Trinkaus schließlich zu Karen Barads Ontologie der Unbestimmtheit: "I am one with the speaking silence of the void."
The conference "Kunst und Gebrechen" ("Art and Defects"), which was scheduled from March 19th to March 21st and then postponed due to Covid-19, finally took place from November 5th through to November 7th. [...] The conference had a clear biographical focus: Most of the fourteen presentations sought to disentangle the influence any clear "defects" artists might have had on their work or their reception. Of course, this already poses a problem that many of the speakers addressed: the idea of "defects" presupposes a teleological norm, be it physical, mental or concerning age or gender, from which it is possible to deviate. A defect is a defect first and foremost in the eye of the beholder and, as Manfred Kern mentioned in his introduction, it can be seen not just as an impediment, but as a catalyst for artistic expression, too.
These ist, dass Superhelden derzeit so erfolgreich sind, weil das noch näher zu beschreibende System 'Superheld', Spezialwissen über Superhelden generiert, um dieses anschließend mit weiterführendem, kulturrelevantem Wissen anzureichern. Die RezipientInnen von Superheldenproduktionen partizipieren an diesem Wissen und tradieren es, um sich gegenüber anderen als Spezialisten zu profilieren. Um dies zu belegen, wäre zweifelsohne eine quantitative Rezeptionsstudie notwendig, was diese kurze Untersuchung keinesfalls leisten kann. Deshalb bleiben die Gedanken hier tatsächlich skizzenhaft, gedacht als eine systematisierte Sammlung von Ideen, die es erlauben, eine Diskussion über Superhelden als gleichermaßen zeitlose und zeitgebundene Systeme anzuregen.