800 Literatur und Rhetorik
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Die komplexe und diffizile Frage, der im vorliegenden Beitrag nachgegangen werden soll, ist die nach Heines Eigenschaft als Selbstübersetzer, womit das Hauptaugenmerk auf die sprachlichen d. h. mehrsprachigen Grundlagen seiner Vermittlungstätigkeit gerichtet wird. Denn die Bezeichnung Heines als Selbstübersetzer kann im Gegensatz zur Assoziierung mit dem Begriff des Kulturtransfers durchaus überraschen. Mit Heines Sprachkompetenz im Französischen und dem auktorialen Status seiner französischen Schriften werden Forschungsfragen berührt, die in der Heine-Kritik von ihren Anfängen bis heute durchaus kontrovers diskutiert werden. In diesem Zusammenhang wäre auch nachzudenken über den für die Analyse von Heines Schreib- und Veröffentlichungspraxis relevanten Begriff von Übersetzung bzw. Selbstübersetzung. Kann man im Falle Heines wirklich von einem alleinigen deutschen Original sprechen und den französischen Fassungen seiner Schriften - wie oft geschehen - einen bloß sekundären Status zuweisen? In diesem Problemzusammenhang spielt neben den textgenetischen und sprachlich-translatorischen Aspekten auch die Perspektive der Selbstdarstellung bzw. Selbstvermarktung des Dichters eine bedeutende Rolle, insofern man bei Heine von einer regelrechten Inszenierung als zweisprachigem Autor reden kann. Die von mir im Folgenden vertretene These wird hierbei lauten, dass Heinrich Heines durchaus fragwürdiger Status als Selbstübersetzer über normative Übersetzungs- und Sprachkompetenzkriterien hinaus vor allem als doppelte - d. h. binationale und zweisprachige - 'auctoritas' aufzufassen ist. Anders gesagt: Über die komplexe Frage der Textgenese hinaus soll die von Heine bewusst eingenommene Rolle als direkter Akteur zweier nationaler Wissenssysteme betont werden. Unter diesem Blickwinkel wird nicht zuletzt ein bemerkenswerter Nexus zwischen den vermittelten Wissensinhalten und deren sprachlichem Transfer sichtbar. So soll gezeigt werden, dass Heines dezidiert antinationalistisches, kosmopolitisches und universalistisches Denken zwischen Deutschland und Frankreich seine formale Entsprechung in einer interlingualen Wissenszirkulation zwischen der deutschen und der französischen Sprache findet, in deren Medium die von ihm entwickelten und vermittelten Theorien und Thesen prozessual entwickelt und weitergeschrieben werden. Eine solche Sichtweise auf Heine als translingualen Schriftsteller wurde bisher nicht immer ausreichend von der Forschung berücksichtigt und gewürdigt. Wie allgemein im Zusammenhang mit bikulturellen und bilingualen Autoren sowie sprachlich hybriden Schreibverfahren wird man mit blinden Flecken der Forschung und nationalphilologischen Widerständen konfrontiert, die eine mehr oder weniger symbolische 'Vereinsprachigung' von Heines Werken befördern oder implizieren. Dieser Umstand betrifft nicht nur die deutsche Heine-Rezeption, sondern ist bedauerlicherweise auch in der interkulturell aufgestellten französischen Germanistik der jüngeren Zeit zu beobachten, wie ich in einem abschließenden Exkurs zeigen möchte.
Stephan Trinkaus bezieht sich in seinem Beitrag auf Winnicott und auf eine Zeit des Spiels, nämlich die Vorgängigkeit einer Leere oder eines Falles, die oder der nie erfahren werden konnte und doch in der Weise der Nachträglichkeit wirksam ist. Sigmund Freud hatte diese Zeitlichkeit der Psyche entdeckt, in der immer etwas im Spiel ist, das nicht hat stattfinden, nicht sich hat aktualisieren können. Das Spiel eröffnet sich als Zeit zwischen den Reihen der Vergangenheit und der Gegenwart, die nie ganz verschweißt sind, oder auch zwischen den Reihen der Subjekte und der Objekte, die nie ganz getrennt sind und nie ganz in eins fallen, wie Trinkaus sagt. Spiel ist "ein Geschehen im Übergang von Nichtexistenz und Existenz". Entlang des mit einem tödlichen Sprung endenden Spiels des Jungen Edmund in Roberto Rossellinis "Deutschland im Jahre Null" entwirft Trinkaus die Theorie des Spiels als ein Halten des Nichts. In dieser spezifischen Ökologie des Spiels verlässt Winnicott die objekttheoretischen Entwürfe der Psychoanalyse, seien sie mit dem Konzept des Narzissmus verbunden oder mit Melanie Kleins Objekttheorie, um Spiel als Begegnung des Ichs mit seiner eigenen Unmöglichkeit zu verstehen. Weshalb Winnicott auch davon sprechen kann, "dass Spielen an sich schon Therapie ist". Von hier aus geht Trinkaus aber noch einen großen Schritt weiter, indem er in Anschluss an Maurice Blanchot das Alltägliche in seiner Subjekt- und Objektlosigkeit als eigentliche Zeit des Spiels ausmacht: Zeit und nicht Raum, weil das Halten weniger begrenzt als ermöglicht. Das führt Trinkaus schließlich zu Karen Barads Ontologie der Unbestimmtheit: "I am one with the speaking silence of the void."
The conference "Kunst und Gebrechen" ("Art and Defects"), which was scheduled from March 19th to March 21st and then postponed due to Covid-19, finally took place from November 5th through to November 7th. [...] The conference had a clear biographical focus: Most of the fourteen presentations sought to disentangle the influence any clear "defects" artists might have had on their work or their reception. Of course, this already poses a problem that many of the speakers addressed: the idea of "defects" presupposes a teleological norm, be it physical, mental or concerning age or gender, from which it is possible to deviate. A defect is a defect first and foremost in the eye of the beholder and, as Manfred Kern mentioned in his introduction, it can be seen not just as an impediment, but as a catalyst for artistic expression, too.
These ist, dass Superhelden derzeit so erfolgreich sind, weil das noch näher zu beschreibende System 'Superheld', Spezialwissen über Superhelden generiert, um dieses anschließend mit weiterführendem, kulturrelevantem Wissen anzureichern. Die RezipientInnen von Superheldenproduktionen partizipieren an diesem Wissen und tradieren es, um sich gegenüber anderen als Spezialisten zu profilieren. Um dies zu belegen, wäre zweifelsohne eine quantitative Rezeptionsstudie notwendig, was diese kurze Untersuchung keinesfalls leisten kann. Deshalb bleiben die Gedanken hier tatsächlich skizzenhaft, gedacht als eine systematisierte Sammlung von Ideen, die es erlauben, eine Diskussion über Superhelden als gleichermaßen zeitlose und zeitgebundene Systeme anzuregen.
Der Titel der Tagung lautet 'Erich Rothacker und die Begriffsgeschichte' – ihr eigentliches Thema aber ist 'Erich Rothacker, die Begriffsgeschichte und die Philosophische Anthropologie'. Tatsächlich handeln viele der Vorträge über Rothackers Anthropologie, und es scheint, auch im Lichte der bislang unveröffentlichten Dokumente, als wäre dies das zentrale Thema: Rothackers Begriffsgeschichtsschreibung und die philosophische Anthropologie, genauer: die Frage nach dem Verhältnis von Begriffsgeschichte und Anthropologie. Die Frage, einmal so zugespitzt, verlangt sogleich nach Erweiterung, und zwar mehrfacher: das begriffsgeschichtliche Projekt Rothackers steht erstens im Zusammenhang der Frage nach der Begründung der Geisteswissenschaften und ihrer Einheit. Insofern stellt sich die Frage nach der Verhältnisbestimmung von anthropologischem Ansatz und dem übergreifenden begriffsgeschichtlich-geistesgeschichtlichen Projekt. Konkurrieren in einem Oeuvre verschiedene Ansätze – und das ist für Rothackers Werk festzustellen –, so fragt sich zweitens, welche Funktion sie in werkgeschichtlicher Perspektive haben. Entsprechend ist im Falle Rothackers die Frage nach der Verhältnisbestimmung von philosophischer Anthropologie und Begriffsgeschichte zuzuspitzen zur Frage nach der 'systematischen Funktion' des anthropologischen Ansatzes für die konkurrierenden, hier: begriffsgeschichtlichen und geistesgeschichtlichen Ansätze.
This article deals with the relevance of deconstructivist theory today, more precisely, in the context of modern philologies. The author introduces the theory of deconstruction with an "elementary gesture", which we can find in the use and the analysis of quotation marks in certain texts of Jacques Derrida. The quotation marks indicate a special treatment of the concepts of the Western metaphysical tradition; the moments of quotation, distance and literality are also important for the theory of literature of Paul de Man. The critical, non-ideological use of deconstructive concepts and their "lectio difficilior" is interesting for research into texts and interpretation.
"Hier oder nirgend ist Amerika!". - Denn auch in Deutschland ist Amerika. Es ist kennzeichnend für Goethes Weitsicht, daß er Amerika nicht nur als Flucht- und Schonraum oder als Siedlungsraum für Kolonisten sieht, sondern auch als Vorbild und Anregung für die Alte Welt. Goethe zeigt dies an zwei Personen, Lothario in den Lehrjahren und dem Oheim in den Wanderjahren. Lothario hat "in Gesellschaft einiger Franzosen [gemeint ist wohl Lafayette] mit vieler Distinktion unter den Fahnen der Vereinigten Staaten gedient" und dort die Erklärung der Menschenrechte, die Gleichheit aller vor dem Gesetz und die Abwesenheit von Feudalstrukturen kennengelernt. Er beschließt, diese Ideen auf seinen Gütern in Deutschland zu verwirklichen. "Ich werde zurückkehren und in meinem Hause, in meinem Baumgarten, mitten unter den Meinigen sagen: Hier oder nirgend ist Amerika!" Seine Reformen zielen auf die allmähliche Befreiung seiner Bauern von Abgaben und Dienstbarkeiten, die Abschaffung der Steuerexemtion des Adels und die freie Wahl des Ehepartners für die Bauern. Damit schafft Goethe ein evolutionäres Gegenmodell zu der Wirklichkeit des revolutionären Frankreich; es orientiert sich an Amerika, wobei Goethe die Tatsache ausblendet, daß auch die Vereinigten Staaten das Produkt einer Revolution sind.
[...] 'Eis und Schnee' [zeichnet] kein einheitliches Gesamtbild von Junghuhns Leben. Vielmehr präsentiert sich der Text als unabgeschlossener Entwurf einer Existenz in Bewegung, gleichsam als möglichkeitsbewusste Erfindung eines Lebens-Laufs, der sich am Vorbild der historischen Person orientiert und zugleich reale Handlungen und Ereignisse fiktional verfremdet. Denn anstatt die zentralen Stationen dieses außergewöhnlichen Lebens in narrativer Kontinuität zum linear geordneten Gesamtbild zusammenzufügen, bricht der Text die zeitliche und räumliche Einheit des Erzählten auf. Entscheidendes verbindet sich mit Nebensächlichem, und spielerische Wechsel der Erzählperspektive lassen die Konturen der Figuren verschwimmen. So handelt Hoppes fiktionale Bio-Grafie, welche im Akt des Schreibens zugleich selbstreflexiv die Aporien einer Erfassung des gelebten Lebens ausstellt, von den Möglichkeitsbedingungen und Untiefen narrativer Identitätskonstitution. Entlang des Leitfadens eines Entdeckerlebens fragt Eis und Schnee nach Bestimmungsmerkmalen und Grenzen des 'Eigenen' – und zwar in individueller wie in kultureller Hinsicht. Denn Junghuhns Grenzgänge in der Ferne Asiens kreisen beständig um die Frage, wer er selbst überhaupt ist, wovon er sich warum und wie abgrenzt, und wer von diesem Leben auf welche Weise zu erzählen vermag. Einige Aspekte dieser Fragestellung erkundet der vorliegende Aufsatz in einer narratologischen Analyse von Hoppes komplexer Erzählprosa in 'Eis und Schnee'. Die folgenden Lektüren zum Problemfeld literarischer Identitäts- und Fremdheitserfahrung orientieren sich an einer heuristischen Unterscheidung, die Andrea Polaschegg im Rahmen ihrer Arbeit über den 'Anderen Orientalismus' (2005) eingeführt hat, nämlich der Trennung zwischen den Begriffspaaren 'das Eigene' – 'das Andere' und 'das Vertraute' – 'das Fremde'.
Die Logik und die mit ihr verbündete und verbundene Grammatik beschreiben und bestimmen eine Welt, die sie für die wahre erklären, die aber eben in dieser Wahrheit bloßer Schein ist, eine "vollständige Fiction". Wirklich wahr hingegen ist die Welt, die von der und durch die Wahrheits-Produktion zum Schein
erklärt wird, die der Sinnlichkeit und damit der anfänglichen Erfahrung eines Nervensystems, das diese "vollständige Fiction" aus sich und für sich schafft, um mit sich ins rein und offen Unterschiede zu kommen. Fazit: Das wirklich Wahre hat keine Sprache, während die Wirklichkeit, die eine hat, nicht wahr ist. In dieses von Logik und Grammatik erzeugte und verschwiegene Bedürfnis nach ihrer ursprünglich anderen Sprache erfindet sich die Lyrik, eine Nachfrage befriedigend, deren Stunde mit ihrem Kommen vorübergeht. Sie verschmilzt bei Wolfgang Hilbig das Licht äußerster Begrifflichkeit mit der steinernen Schwere dichtester Materialität. An diesem Schmelzpunkt entstehen seine Gedichte [...].
Maren Lorenz untersucht die individuelle Wahrnehmung von Schwangerschaft durch ledige Frauen des 18. Jahrhunderts anhand von Prozessakten und ärztlichen Gutachten. Während der medizinische Nachweis der Schwangerschaft eine auf normativen Axiomen basierende Scheingewissheit ist, orientieren sich die Frauen selbst an individuellen Erfahrungsmustern, Wunsch- bzw. Abwehrdenken und der Kommunikation mit anderen. Die historische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Deutungsmustern körperlicher Vorgänge, die auch auf medizinischer Seite weit von heutigen Vorstellungen abweichen, und die Ungewissheit über einen Zustand, der sich erst mit (k)einer Entbindung klärt, führt zur Auflösung scheinbar transhistorischer Gewissheiten. Damit eng verknüpft sind sich wandelnde Definitionen über den Beginn des menschlichen Lebens.
Thomas Meinecke proklamiert seit seinem ersten Roman 'The Church of John F. Kennedy' (1996) das Bild einer nicht-essentialistischen Gesellschaft, in der Kategorien wie nationale Identität oder ethnische Homogenität aufgelöst werden.
In seinem zweiten Roman 'Tomboy' (1998) wird die Dekonstruktion von Identitäts-Postulaten auf Gender-Ebene fortgeführt. Literarisch äußert sich das in einer Dekonstruktion formaler Prinzipien des philosophischen Romans. Philosophische Fragen werden nicht wirklich diskutiert in dem Sinne, daß diskursiv verschiedene philosophische Standpunkte ausgeführt würden. Statt dessen werden Philosophie und Welt als Diskursereignisse dargestellt - was selbst wieder eine quasi-philosophische These ausmacht.
Diese wird vor allem formal umgesetzt, was Prinzipien des 'philosophischen Romans' aus dem Grenzbereich der klassischen Moderne und der historischen Avantgarde entspricht, in dem sich in der Fortführung Nietzsches das Ende des essentialistischen Philosophierens bereits niedergeschlagen hat. Zu nennen wären hier etwa die Gaunergeschichten Walter Serners aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts oder Carl Einsteins Bebuquin (1906/09), dessen Figuren "in erster Linie Repräsentanten erkenntnistheoretischer und philosophischer Positionen" sind. Auch hier werden Philosopheme nicht diskursiv erörtert, sondern performativ ausgeführt.
Gut zwei Jahrzehnte nach dem Werther schrieb Johann Wolfgang Goethe nach Ansicht der enthusiastischen Zeitgenossen mit ‚Alexis und Dora‘ eine "seiner besten Compositionen". Schiller, Friedrich Schlegel, Jean Paul, Wieland, sie alle feierten in Alexis und Dora eine in altgriechischen Distichen abgefaßte Hymne auf die Liebe. Sie verstanden den Inhalt als Idylle, eine Kategorisierung, die der Autor am 7. Juli 1796 in einem Brief an Schiller, wie auch im Untertitel des Erstdruckes im 'Musen Almanach für das Jahr 1797', zunächst übernahm. Drei Jahrzehnte später, am 25.12.1825, bezeichnete Goethe das Gedicht im Gespräch mit Eckermann jedoch als Elegie. Für den ehemaligen Präsidenten des Internationalen Germanistenverbandes, den Göttinger Germanisten Albrecht Schöne, verkörpert dieser aus gattungstheoretischen Prinzipien abgeleitete Gegensatz zwischen Idylle und Elegie die Essenz eines bis in unsere Tage fortwirkenden Mißverständnisses dessen, was der Autor poetisch dargestellt habe. Er nennt in seiner Neuinterpretation einiger Goethetexte die auf Schiller und seine kurz zuvor veröffentlichte Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung zurückzuführende Kategorisierung des Gedichtes im Sinne der "poetische[n] Darstellung unschuldiger und glücklicher Menschheit [...], die durch 'innere Notwendigkeit', 'Wahrheit', und 'Schönheit', durch 'Unschuld und Einfalt'" bestimmt ist, eine bis ins 20. Jahrhundert wirksame aber irreführende Rezeptionsvorgabe. Schillers Kategorien, aus ihrem Zusammenhang der ästhetischen Reflexionen herausgelöst, hätten das Verständnis des Werkes präformiert wie verstellt und aufgrund seiner Autorität eine jahrhundertelange Fehldeutung veranlaßt.
Adalbert Stifters im Jahr 1857 publizierter Roman "Der Nachsommer" ist oft als Bildungs- und Erziehungsroman, als humanistische Bildungsutopie oder als restaurative Sozialutopie gelesen worden. Im Gefolge dieser Gattungszuordnungen wurden vor allem Fragen der Bildung und Ästhetik, der Sozialgeschichte und Politik zu Deutungszugängen des Texts. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, den Roman aus einer ganz anders gerichteten Perspektive wahrzunehmen: in seiner Bezogenheit auf das Thema des Todes und der Endlichkeit. Bereits das Titelwort "Nachsommer" deutet auf Vergänglichkeit hin. Gelesen als Metapher für Lebensphasen verweist es sowohl auf eine erneut intensivierte Vitalität als auch auf den näher rückenden Tod. Die Jahreszeiten Herbst und Winter fungieren traditionell als Todesallegorien. Unter dem Vorzeichen dieser Allegorik entfalten viele der im Roman dargestellten Zeitphänomene auch eine eschatologische Bedeutungsdimension. [...] Eschatologische Aussagen können als Aussagen über ein Endschicksal der Welt, der Menschheit und / oder eines einzelnen Menschen aufgefasst werden. In der Epoche des österreichischen Spätbiedermeier, das heißt in den mentalitätsgeschichtlichen Milieus Stifters und seiner Leserschaft, steht angesichts dieses Aussagekomplexes nicht zuletzt die Glaubwürdigkeit einer in der Dogmatik der christlichen Religion und des katholischen Lehramts verankerten Glaubenshoffnung zur Diskussion. Können die Menschen auf ein zukünftiges Leben in der himmlischen Gemeinschaft mit Gott hoffen oder sind entsprechende Hoffnungen skeptisch zu verabschieden? Auch wenn konkrete kirchlich-theologische Positionen zum Themenkreis der 'letzten Dinge' in ihrer Komplexität hier nicht differenziert zu entfalten sind, so können sie dennoch als Bezugspunkt für ein Nachdenken über Stifters Pessimismus dienen. Werden die Glaubensinhalte der christlichen Eschatologie skeptisch verneint, so soll diese Negation als zentraler Aspekt des dem Stifter'schen Werk von Sebald attestierten Pessimismus verstanden werden. Sicherlich handelt es sich bei dieser Begriffsbestimmung um eine Hilfskonstruktion mit vorläufigem Charakter. Zumindest gibt sie aber eine erste Definition und vermeidet ein Sprechen in vagen Polysemen. Wie unscharf und wie wenig aussagekräftig die Termini Optimismus / Pessimismus zur Beschreibung des Romans von 1857 letztendlich sind, wird im weiteren Verlauf des Beitrags zu zeigen sein. Im Anschluss an die Lektüre zweier Textpassagen aus dem "Nachsommer" möchte ich hierzu den Blick auf ideengeschichtliche Kontexte des Romans richten. Dabei soll vor allem auf zwei Texte ausführlicher eingegangen werden: auf Bernard Bolzanos "Athanasia oder Gründe für die Unsterblichkeit der Seele" und Johann Gottfried Herders "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit".
In diesem Aufsatz möchte ich untersuchen, wie die Rahmen- und Binnengeschichten in 'Marathon, Eis und Schnee', 'Safari' und 'Johanna' räumlich gestaltet sind, und welche Rückschlüsse die Gestaltung von Räumlichkeit in diesen Texten auf Felicitas Hoppes Poetologie erlaubt. Dabei gehe ich davon aus, dass sich eine Analogie ausmachen lässt zwischen der Raumordnung, der Zeitordnung und der narrativen Ordnung von Rahmen- und Binnenebenen, die auch für Hoppes übriges Werk charakteristisch ist: In allen diesen drei Aspekten bestehen Grenzen, die sich jedoch im Erzählen als zunehmend permeabel erweisen.
This paper aims to demonstrate the hidden place of the surrealist poet, Paul Éluard, in Samuel Beckett's writing process. It will show that Beckett not only read and translated Paul Éluard, as is known, but also quoted him extensively. Moving from Beethoven to the short story "Lessness", the place of quotation as a trace of emotion will be examined.
The essay provides a contrapuntal "parallactic" reading of Johann Wolfgang Goethe's "Bildungsroman" Wilhelm Meisters Lehrjahre - with its extensions Wilhelm Meisters theatralische Sendung and Wilhelm Meisters Wanderjahre - and James Joyce's high modernist A Portrait of the Artist as a Young Man (1916) and Ulysses (1922). Derived from astronomy, the term parallax designates, transferred to literary history, a narrative stratagem, a metapoetical rationale, and an interpretive method. Joyce employs it as a key concept and narrative tool in Ulysses to denote a stereoscopic perspective applied to the protagonists’ actions and the world they live in. Leopold Bloom thus refl ects on it and the technique of Ulysses is determined by it. On a higher plane, literary critics, too, engage in literary historical parallax whenever they read texts intertextually — as exemplified in this essay. A parallactic reading of the novels’ protagonists Wilhelm Meister and Stephen Dedalus, as regards not just their identification with Shakespeare’s Hamlet but also the symbolic connotations embedded in their names and mythological pretexts, allows us to shed new light on the roles and significance of narrative irony, chance, and paternity in these novels.
In Franz Hohlers Tschipo (1978), dem ersten Teil einer Trilogie, erlebt ein Schweizer Junge Abenteuer auf seltsamen Inseln. Und in Maggie Stiefvaters Serien The Raven Cycle (2012 – 2016) und The Dreamer Trilogy (2019 – ) bekämpft ein amerikanischer junger Erwachsener mit Namen Ronan Lynch magische Gefahren. Was haben Tschipo und Ronan gemeinsam? Eine seltsame Gabe: Von ihren Träumen bleibt am Morgen etwas zurück...
Auch wenn in der Nachfolge der Aufklärung sowie mit dem Siegeszug der modernen Naturwissenschaften eine Verlustgeschichte des Transzendenzwunders geschrieben wurde und Max Weber in seinem vielzitierten Diktum von 1917 die moderne Welt als 'entzaubert' deklarierte, entpuppte sich das vermeintlich vormoderne Phänomen des Wunders in der literarischen Moderne als Reflexionsgegenstand verschiedener Fachdisziplinen. Gleichzeitig erlebte das Wunder im Drama und Theater der Moderne eine Renaissance: Jener "clamor for miracles", so George Bernard Shaw in seinem Vorwort zu 'Androcles and the Lion', wird im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in England nicht nur diskursiv verhandelt, sondern für das Publikum durchaus bühnenwirksam eingesetzt, wie ich im Folgenden erläutern möchte.
In ihren Arbeiten zu Emily Dickinson und Paul Celan macht Shira Wolosky immer wieder auf die thematischen und linguistischen Gemeinsamkeiten der beiden Autoren aufmerksam. Dabei betont sie beispielsweise die stilistischen Auffälligkeiten in beiden Werken. Zudem beschreibt Wolosky neben den Parallelen eine Art des Austauschprozesses zwischen den Werken, die durch die Übersetzung Celans entstehe. In einer zweiten Arbeit zu Dickinson und Celan führt sie diesen Gedanken weiter aus und sieht in der Übersetzung eine Darstellung von Celans eigener Perspektive auf Dickinsons Werk. Auch in der deutschsprachigen Forschung gibt es Beiträge, die herausgearbeitet haben, dass eine nähere Beschäftigung mit Dickinson und Celan relevant ist, da beide ähnliche Themen in ihren Dichtungen behandeln, darunter "die Beziehung des Ichs innerhalb der Spannungsfelder von Liebe und (zumeist unerfülltem) Begehren, Zeit und Ewigkeit, Schöpfung und Vergänglichkeit, Tod und Unsterblichkeit, Gott und Transzendenz, Offenbarung und verweigerter Theodizee." Trotz dieser vielversprechenden Untersuchungen wurde den Dickinson-Übersetzungen Celans im Allgemeinen in der Forschung wenig Beachtung geschenkt, bzw. wurde der Schwerpunkt vor allem auf linguistische Analysen gelegt (so wie die von Wolosky selbst). Im Folgenden möchte ich daher das Gedicht "Because I could not stop for Death", das in der Übersetzung Celans 1959 im Fischer Almanach erschien, näher betrachten und dabei fragen, auf welche Weise sich Celans Übersetzung von Dickinsons Vorlage unterscheidet. Dabei werde ich an Woloskys These anknüpfen, dass Celan die Gedichte nicht nur übersetzt, sondern auch stark bearbeitet und mit seiner eigenen Dichtung verbindet.
Marie Luise Kaschnitz is not considered to be an experimental author in the usual sense. Her respectful use of traditional forms has been praised, but also criticized, and it was only in her later works that she loosened her strong links with tradition. The beginning of this change is marked by the short story Am Circeo [At Cape Circeo], placed exactly in the centre of her 1960 volume of short stories entitled Long Shadows. The present article examines the experimental elements of this text, attempting to determine what conditioned
them and seeking to reveal their influence on later works.