800 Literatur und Rhetorik
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Der in Prag situierte Roman Café Slavia (1985) von Ota Filip, einem deutschschreibenden Autor, der in den 1970er Jahren die Tschechoslowakei aus politischen Gründen verlassen musste und sich nach seiner Ausbürgerung in München niederließ, erzählt die wechselvolle Geschichte Mitteleuropas vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Prager Frühling 1968, eingeleitet durch eine Rahmenhandlung, die sich an der Karlsbrücke in Prag abspielt. Der Beitrag versucht, die Symbolik der im Roman zentralen "Brücke" in ihrer Vielschichtigkeit offenzulegen. Im Mittelpunkt der Analyse steht die Brücke als Erzählkonstruktion, die den Blick von der Gegenwart aus auf die Vergangenheit richtet und dabei sowohl die "kleine" als auch die "große" Geschichte im Blick behält. Dabei bekommt sie als topographischer Verbindungsort zwischen dem rechten und linken Moldauufer weitere Bedeutungszuschreibungen und steht für die Überschreitung nicht nur zwischen Raum und Zeit, sondern auch zwischen Faktualität und Fiktionalität.
The paper engages with the works of Thomas Kling (1957-2005) and elaborates on the specific incorporation of history in Klings poetics. Kling was both known for his wild style of lyrical performance as well as for his vast knowledge of history. Kling aptly puts the style of his lectures in the tradition of the "histrion", the actor in ancient Rome. The paper argues that the connection of history and the theatricality of the histrion becomes fundamental to his poetics. History is for Kling a material that combines linguistic, cultural and literary references that need a performative elaboration. The paper traces this constellation of performativity and history within Klings early poems and essays. It then turns towards a reading of his poems "Manhattan Mundraum" and "Manhattan Mundraum Zwei". In these poems Kling intertwines the performative aspects of his poetics with an inquiry into the history that has shaped the island of Manhattan and the language of its "Mundraum".
Im Beitrag werden zwei filmische Positionen zusammengeführt. In beiden finden sich Inszenierungen von Gemeinschaft und Prekarisierungen als ästhetische Aushandlungen einer Politisierung der Filmform. Während der schwedische Film "Folkbildningsterror" (2014) politische Zustände im Musical zur Disposition stellt, untersucht der US-amerikanische Thriller "The Owls" (2010) die Konsequenzen homophober Entwürfe lesbischer Figuren im Film, die bis in die aktuelle Filmgeschichte reichen.
Der Beitrag unternimmt einen Vergleich zweier Romane, die inhaltlich, erzähltechnisch und sprachlich eng miteinander verknüpft sind, obwohl ihre Entstehungszeiten etwa 50 Jahre auseinander liegen: Juan Rulfos "Pedro Páramo" und Yuri Herreras "Señales que precederán al fin del mundo". Beide Autoren lassen ihre Figuren aus einem Nicht-Ort oder einem "unsichtbaren Ort" (was die wörtliche Übersetzung von 'Hades' wäre) sprechen, aus dem Paradox des "Ich-bin-tot"-Sagens, und verweisen damit auf altmexikanische, altgriechische sowie mittelalterliche Unterweltreisen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass von dort niemand zurückkehren kann, dennoch ist es einigen mythologische Figuren gelungen, die Grenze zwischen Leben und Tod gewissermaßen kurzzeitig außer Kraft zu setzen: Orpheus, Odysseus, Herakles, Aeneas, Dante, bei den Mayas sind es Junajpu und Xbalanq'e, die im Ballspiel die Herren Xibalbas, der Unterwelt der Maya, besiegen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die eigentlich unerlaubte Wiederkehr bzw. Rückkehr hängt eng mit der Schau einer Vergangenheit zusammen, die zentral ist für ein Verständnis der regionalen/nationalen Gegenwart. Den Romanen Rulfos und Herreras ist eine inszenierte Abwärtsbewegung gemeinsam, der schrittweise Abstieg in eine politische Vergangenheit, die die Gegenwart der Protagonist*innen verstehen helfen soll. Beide Romane verbinden damit auch eine Suche nach einem abwesenden Familienmitglied. Zudem greift Herrera auf die besondere Erzählweise Rulfos zurück, die sich erst aus einem Sprechen aus dem Tod ergeben kann.
Auch wenn die hier skizzierten Aspekte von Geschichtstransformation als eines funktionalisierten produktiv-variierenden Reproduktionsakts notwendig vorläufig und schematisch geblieben sind, dienen sie doch als heuristische und begriffliche Hilfsmittel, die es erlauben, die einzelnen Transformationsfälle miteinander in Beziehungen zu setzen und innerhalb eines potentiellen Spektrums historischer Rezeption zu verorten, denen die vier Sektionen des Bandes Rechnung tragen. Dies ist umso wichtiger, als ein wesentliches Anliegen darin bestand, die Vergangenheitsaneignung in ihrer historischen Breite sowie ihrer formalen Variabilität zu erfassen: So reichen die Beispiele von der Vormoderne bis in die jüngste Gegenwart - mit Konzentration auf Zeiten intensivierter Geschichtsbezogenheit wie Renaissance und Frühe Neuzeit (Rau,Schirrmeister), Vormärz und Historismus (Immer, Jäger) oder Klassische Moderne (Meid, Modlinger, Wiegmann-Schubert). Der Verfahrens- und Funktionsvielfalt entsprechen die gewählten methodisch-theoretischen Paradigmen: Dass sich die einzelnen Konkretisierungen aus der Perspektive des Linguistic Turn (de Dobbeleer/Russell) ebenso erschließen wie im Rekurs auf narratologische (Geilert/Voorgang,Suslak), mythentheoretische (Lammel) oder postkoloniale (Sieber) Ansätze, indiziert die spezifische Anschlussfähigkeit des transdisziplinären Kulturphänomens "Geschichtstransformation".
Editorial
(2021)
Fragen zur Metaphorologie bildeten bereits mehrfach einen Schwerpunkt dieser Zeitschrift. In den Beiträgen und Rezensionen der vorliegenden Ausgabe geht es mit 'Epoche', 'Tradition', 'Geschichte' sowie 'Kristallisation'/'Verflüssigung' um Begriffsmetaphern, also um solche, in denen begriffliche und metaphorische Gehalte untrennbar verbunden sind, und die zugleich konstituierend für allgemeinere geschichts- und zeittheoretische Fragestellungen sind. Den Anstoß für das Thema lieferte die internationale Tagung "Metafóricas espacio-temporales para la historia", die vom 9. bis 11. September 2019 unter der Leitung von Faustino Oncina Coves und Javier Fernández Sebastián an der Universität Bilbao stattgefunden hat und zu der Barbara Picht, Ernst Müller und Falko Schmieder Beiträge beisteuerten, die hier in überarbeiteter Form abgedruckt sind.
Falko Schmieders Beitrag zur Geschichte der Geschichtsmetaphorik versteht sich als Auseinandersetzung mit Koselleck. Obwohl in den "Geschichtlichen Grundbegriffen" die Metaphorik nicht programmatisch berücksichtigt wurde, spielt sie eine wichtige Rolle. Koselleck hat allgemein die Metaphernpflichtigkeit von auf Zeit bezogenen Darstellungen herausgestellt und speziell an die verzeitlichten Kollektivsingulare die These der Bildbedürftigkeit und Bildanziehungskraft geschichtlicher Grundbegriffe geknüpft. Schmieder geht den metaphorischen Dimensionen bei Koselleck auf der Ebene seiner Untersuchungsgegenstände und der Interpretationssprache nach und diskutiert damit verbundene Widersprüche, zum Beispiel zwischen der von Koselleck der Geschichtsphilosophie zugeschriebenen Entdeckung der Machbarkeit von Geschichte und den sowohl zeitgenössisch wie auch bei Koselleck selbst auftauchenden Sprachbildern für ihre Verselbständigung und Unverfügbarkeit. Anhand von Metaphern für Geschichte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (wie dem 'Crashkurs' oder dem 'Realexperiment') werden die historischen Grenzen der "Geschichtlichen Grundbegriffe" ausgelotet.
Fragen zur Metaphorologie bildeten bereits mehrfach einen Schwerpunkt dieser Zeitschrift. In den Beiträgen und Rezensionen der vorliegenden Ausgabe geht es mit 'Epoche', 'Tradition', 'Geschichte' sowie 'Kristallisation'/'Verflüssigung' um Begriffsmetaphern, also um solche, in denen begriffliche und metaphorische Gehalte untrennbar verbunden sind, und die zugleich konstituierend für allgemeinere geschichts- und zeittheoretische Fragestellungen sind. Den Anstoß für das Thema lieferte die internationale Tagung "Metafóricas espacio-temporales para la historia", die vom 9. bis 11. September 2019 unter der Leitung von Faustino Oncina Coves und Javier Fernández Sebastián an der Universität Bilbao stattgefunden hat und zu der Barbara Picht, Ernst Müller und Falko Schmieder Beiträge beisteuerten, die hier in überarbeiteter Form abgedruckt sind.
In seinem Aufsatz rekonstruiert der Literatur- und Medienwissenschaftler Nicolas Pethes die Verwendung des Experimentbegriffs in Benjamins Schriften und verfolgt seine Entwicklung von dessen frühen Untersuchung "Über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" bis zum "Passagen-Werk". Dabei soll nicht nur die Bedeutung der Idee des Experiments, sondern auch der experimentelle Charakter von Benjamins eigener Schreibweise herausgearbeitet werden. Das Experiment, das eng verwandt ist mit Test und Spiel, ist Teil einer Darstellungsstrategie, mit der Benjamin die Diskontinuität der Kunst- und Gesellschaftsgeschichte beschreiben will.
Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Kyung-Ho Cha widmet sich in seinem Beitrag Benjamins Reaktion auf die Entdeckung der Kernspaltung im Jahre 1938. Den Ausgangspunkt des Aufsatzes bildet der Vergleich zwischen der Methode, die seiner Arbeit am Passagen-Werk zugrunde liegt, und der "Methode der Atomzertrümmerung", womit er sich auf die Kernspaltung bezieht. Im Aufsatz wird gezeigt, wie Benjamin mit dem Begriff aus der Kernphysik die in der Geschichte verborgenen und unsichtbaren Energien zu erfassen versucht.
Anna Simon-Sickley zeigt in ihrem Beitrag die historischen Verflechtungen des Begriffs des 'Anthropozäns' mit den Diskursen von Energie und Entropie. Die Gefahren einer semantischen Rückprojektion reflektierend, kann sie deutlich machen, wie die heute 'totalisierende Metapher' des Anthropozäns bis in die Diskurse der Energie und Entropie zurückreicht. Energie erscheint dabei begrifflich als Einheitswährung, mittels deren Natur einzig als auszubeutende Ressource (fossile Brennstoffe) thematisiert wird. Mit der Thermodynamik legt die Umweltforschung den Schwerpunkt auf Effizienz, Produktion und Abfall. Das wachsende Bewusstsein, dass Energie Geschichte strukturiert, erweist sich als eine Perspektive, die für die Geschichtsschreibung des Anthropozäns von entscheidender Bedeutung geworden ist. Mit ihm soll sich das wissenschaftliche Thema des Menschen vom Kontext der Geisteswissenschaften zum Kontext der Wissenschaften verschoben haben. Menschliche Systeme und Kulturen werden im Anthropozändiskurs als geologische Kräfte verstanden und erscheinen als geochronologische Epochen naturwissenschaftlich exakt berechenbar.
Energy
(2020)
Der Beitrag zur Begriffsgeschichte von 'Energie' von Ernst Müller stellt neben der Ausstrahlung des Begriffs in verschiedene Wissenschaften vor allem heraus, wie sich dieses zentrale Konzept für die Physik eng verbunden mit dem - meist getrennt von ihm untersuchten - Begriff der (kapitalistischen) Arbeit herausbildet. Um 1900 erscheinen alle Bereiche des menschlichen und kulturellen Lebens auf ihre energetischen Grundlagen hin untersuchbar. Daran knüpfen fortschrittsorientierte Weltanschauungen ebenso an wie Ängste des 'fin de siècle' vor einer sterbenden Sonne und vor der Erschöpfung der menschlichen Arbeit.
Entropy
(2020)
Im Zentrum steht der Begriff der Entropie, den Christian Hoekema in seinem Beitrag untersucht. Seine Stichproben zur Freilegung der semantischen Schichten des Begriffs gehen von der Kontextualisierung der Thermodynamik in der britischen und deutschen industriellen Revolution aus. Wurde die Rezeption des Entropiebegriffs in Literatur und Philosophie bislang vor allem im viktorianischen Großbritannien untersucht, so richtet Hoekema seinen Blick auf den deutschsprachigen Kontext und damit auf drei der wirkungsvollsten Theoretiker der Moderne, auf Marx, Nietzsche und Freud. Ein weiteres Feld der Entropie-Aneignungen bilden die Informationstheorie und Kybernetik, die ebenso wie der Strukturalismus und die Systemtheorie den Prozess der Formalisierung der Sprache beschleunigt haben. Hoekema zeigt, wie tief stochastische Konzeptionen der Welt in unsere wissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Praktiken und Theorien eingebettet sind. Seine letzte 'Autopsie' schließlich thematisiert die in den 1970er Jahren entstehende Forderung nach einem "vierten" Hauptsatz der Thermodynamik. Er beleuchtet damit einen Ansatz, der die Biosphäre und das Leben in Kategorien der Entropie beschreibt und der bis in heute virulente Debatten um das Anthropozän reicht.
Editorial
(2020)
Diese Ausgabe des "Forums Interdisziplinäre Begriffsgeschichte" vereint zwei Themenschwerpunkte, die, unabhängig voneinander entstanden, auch inhaltlich zunächst nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. In drei englischsprachigen Beiträgen des ersten Teils geht es um die sich semantisch und in ihrer historischen Genese überlappenden Begriffe 'Energie', 'Entropie' und 'Anthropozän'. Der zweite Themenschwerpunkt behandelt begriffshistorische Verschiebungen im Theoriegebäude der Sprachwissenschaft. Die Ausgabe wird beschlossen durch den Politikwissenschaftler Kari Palonen (Universität Jyväskylä, Finnland), der einen Band zur Geschichte der politischen Ideengeschichte rezensiert.
Diese Ausgabe des "Forums Interdisziplinäre Begriffsgeschichte" vereint zwei Themenschwerpunkte, die, unabhängig voneinander entstanden, auch inhaltlich zunächst nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. In drei englischsprachigen Beiträgen des ersten Teils geht es um die sich semantisch und in ihrer historischen Genese überlappenden Begriffe 'Energie', 'Entropie' und 'Anthropozän'. Der zweite Themenschwerpunkt behandelt begriffshistorische Verschiebungen im Theoriegebäude der Sprachwissenschaft. Die Ausgabe wird beschlossen durch den Politikwissenschaftler Kari Palonen (Universität Jyväskylä, Finnland), der einen Band zur Geschichte der politischen Ideengeschichte rezensiert.
One of the theoretical tensions that has arisen from Anthropocene studies is what Dipesh Chakrabarty has called the 'two figures of the human', and the question of which of these two figures of the human inheres in the concept of the Anthropocene more. On the one hand, the Human is conceived as the universal reasoning subject upon whom political rights and equality are based, and on the other hand, humankind is the collection of all individuals of our species, with all of the inequalities, differences, and variability inherent in any species category. This chapter takes up Deborah Coen's argument that Chakrabarty's claim of the 'incommensurability' of these two figures of the human ignores the way both were constructed within debates over how to relate local geophysical specificities to theoretical generalities. This chapter examines two cases in the history of science. The first is Martin Rudwick's historical exploration of how geologists slowly gained the ability to use fossils and highly local stratigraphic surveys to reconstruct the history of the Earth in deep time, rather than resort to speculative cosmological theory. The second is Coen's own history of imperial, Austrian climate science, a case where early nineteenth-century assumptions about the capriciousness of the weather gave way to theories of climate informed by thermodynamics and large-scale data collection.
A different take on knowledge, history, and totalization is presented in Jamila Mascat's essay 'Hegel and the Ad-venture of the Totality', which aims at exploring the controversial notion of the Hegelian totality. Countering Louis Althusser's critique of Hegel's 'expressive totality', where every part is thought to expresses the whole, it proposes to consider such a speculative figure as a temporalizing instance situated at the entanglement of Knowing and History. Firstly, it illustrates the paradoxical inclination of Hegel's totality to being both complete and a never-ending task. Secondly, it analyses the accomplishment of totality at the peak of the Science of Logic, focusing on the temporal circularity of the Concept ('Begriff'). Thirdly, drawing on the readings of Alexandre Koyré, Alexandre Kojève, and Jean Hyppolite, the essay illustrates the peculiar relation between becoming and eternity that is located at the heart of Hegel's conception of time. Finally, it approaches the last section of the "Phenomenology of Spirit" devoted to Absolute Knowing in order to highlight the twofold movement of seizure ('Begreifen') and release ('Entlassen') that characterizes the activity of the Spirit and that is constitutive of the contingent ad-venture of the totality as a philosophical achievement. In other words, it is by embracing contingency as its limit that Absolute Knowing reaffirms the status of its absoluteness precisely because of its capacity to sacrifice itself and let it go. Critically engaging with Catherine Malabou's reading of plasticity in Hegel, Mascat highlights that Absolute Knowing is a process of totalization that entails cuts and interruptions. The essay shows that the Hegelian totality may be interpreted and actualized as a theoretical construct densely charged with temporal and historical implications: on the one hand, totality expresses a timely standpoint for thought - the standpoint of Hegel's age, which is, as claimed by the philosopher at the end of his "Lectures on the History of Philosophy", 'for the time being completed', as well as the standpoint of the present time to be speculatively accomplished; on the other hand, Hegel's idea of a speculative totalization sets for the philosophies yet to come the never-ending task of constituting and re-constituting wholes.
Angestoßen und beschleunigt durch eine Reihe von Emanzipationsbewegungen, an deren Anfang der bürgerliche Liberalismus mit seinem Kampf um Gleichberechtigung und Rechtsgleichheit in einer noch zu schaffenden Staatsbürgergesellschaft steht, verändern sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in entscheidender Weise die Spielregeln politischer Theorie und Praxis. Die Vielfalt der sich in ganz divergenten Bereichen (Universitäten, Straßen, Fabriken, Literatur, Theater etc.) ereignenden und von jeweils unterschiedlichen Akteuren getragenen Interventionen macht es notwendig, sowohl liberale, demokratische, republikanische und frühsozialistische als auch konservative Positionen genauer innerhalb der zeitgenössischen religiösen, sozialen, philosophischen und staatstheoretischen Debatten über Institutionen, Gesetz, Recht und Ordnung zu verorten. Das setzt voraus, das Feld der Politik in seiner Heterogenität als eines komplexer Transfervorgänge - vom Sozialen ins Symbolische (Theorie) und vom Symbolischen ins Soziale (Praxis) - ernst zu nehmen und von hier aus die gewohnten Operationen der Unterscheidung (gute vs. schlechte Staatsform) und mit ihnen die Funktion und Bedeutung politischer Kunst noch einmal auf den Prüfstand zu stellen.
Weltschmerz
(2018)
"Nur sein [Gottes] Auge sah alle die tausend Qualen der Menschen bei ihren Untergängen - Diesen Weltschmerz kann er, so zu sagen, nur aushalten durch den Anblick der Seligkeit, die nachher vergütet." Und so kommt er in die Welt, dieser eigentümliche Schmerz, der im Kontext seiner literarischen Geburt zunächst ein rein göttliches Befinden auszudrücken scheint, als 'Genitivus objectivus' vielleicht aber auch den Schmerz der Welt postuliert. Sein Schöpfer Jean Paul (1763−1825) hat den Begriff im Text nicht eigens markiert, ihn weder formal noch erklärend als Neuschöpfung konstituiert. Der Weltschmerz tritt eher beiläufig auf (das "so zu sagen" im Zitat bezieht sich auf das göttliche Aushalten desselben); er fügt sich in den Text, als wären Autor und Leser gleichermaßen vertraut mit ihm. Und tatsächlich wird der 'Weltschmerz' im Nachhinein als eine Art Begriffsvehikel für ein weitgehend älteres Befinden gedeutet - eine innere Zerrissenheit und Trauer über die Unzulänglichkeit der Welt -, das keiner zusätzlichen Erläuterung bedurfte und in der Spätromantik lediglich ein neues sprachliches Gewand erhielt.
Weltmusik
(2018)
Der Begriff der Weltmusik produziert Fremdheit. Die Erzählung seiner Geschichte beginnt üblicherweise mit der Verwendung durch den Musikwissenschaftler Georg Capellen, der 1905 für einen 'neuen exotischen Musikstil' plädiert: Waren 'exotische' Motive bislang nur als "Kuriosum" in der europäischen Musik vertreten, erhofft sich Capellen, "falls unsere Komponisten sich in die neuen Ausdrucksformen einzuleben und die fremdartige Nahrung in eignes Blut umzuwandeln vermögen", die Etablierung eines "exotisch-europäische[n] Mischstil[s] oder (um mich phantastisch auszudrücken) eine[r] 'Weltmusik'". Dabei spielt für Capellen keine Rolle, dass in dieser Reduktion auf die Harmoniestrukturen europäischer Kunstmusik gerade die Charakteristika zahlreicher außereuropäischer Musiken ausgestrichen bleiben müssen; zu schweigen von der Inkommensurabilität der europäischen Taktordnung mit anderen Formen der Rhythmik. Bereits 1902 verweist Friedrich Spiro indes auf eine verwickelte Geschichte des Begriffs.
Die Begriffsgeschichte ist vom Singular besessen. Pluralformen kommen nur unsystematisch und am Rande vor. Darin gleichen die mehrbändigen Lexika, Gumbrechts "Pyramiden des Geistes", den allgemeinen Wörterbüchern, in denen der Plural gemeinhin nur abgekürzt und kodiert zwischen Klammern vorkommt: "(-en, ‑en)". Der Obergrundbegriff ist für Koselleck bezeichnenderweise der "Kollektivsingular", ein Wort, das die Fähigkeit verloren hat, einen Plural zu bilden. Begriffe wie 'Geschichte' und 'Fortschritt' sind im Plural vorgekommen und haben damit verschiedene Prozesse und Zeitverläufe beschreiben können. Aber im Laufe des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts haben eine Verengung und eine Vereinheitlichung stattgefunden, die zur Verdrängung der Pluralbildungen führten. Plötzlich haben sie nicht mehr die Kraft, distributive Pluralformen in die Welt zu bringen, 'Geschichten' und 'Fortschritte', die eine mehrzeitige Welt voraussetzen. Nunmehr treten sie nur im Singular, mit kollektivem Subjekt auf. 'Fortschritt' heißt jetzt immer Fortschritt der Menschheit. Ein für alle Mal grenzt die Begriffsgeschichte Parallelwelten, Multiversen, die Realität der Quantenphysik aus der Semantik der Begriffe aus, im selben Moment, als sie zu "unseren Begriffen", so Koselleck, werden. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, sollte über ein Lexikon des Plurals, der Pluralbildungen nachgedacht werden, ein Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe 'pluralis'", oder "Geschichtliche Grundpluralbildungen".
Weltanschauung
(2018)
In einem leicht zugeschnittenen Sinn kann die Einsicht, dass "Welt je schon übersetzt" ist, als gedanklicher Kern der im 19. Jahrhundert sich durchsetzenden 'Weltanschauung' betrachtet werden. Dass die Welt dem Menschen niemals gar nicht und niemals vollständig gegeben ist, dass sie immer schon da und doch immer neu zu perspektivieren ist, hat in diesem Wort Ausdruck gefunden. Dadurch wird nun allerdings weniger verständlich als umso verwirrender, dass auch 'Weltanschauung' den 'Untranslatables' angehört. Als lexikalische Instanz eines modernen Pluralismus kann dieses Wort in seiner einzelsprachlichen Unbeugsamkeit nicht recht überzeugen.
Ur
(2018)
Die Partikel 'Ur' gehört zu den unheimlichen 'intraduisibles' der deutschen Sprache. Die Wörter, denen sie vorsteht, erscheinen archaisch, allerdings auf eigentümlich standardisierte Weise. Sie geraten "ins barbarisch Wilde oder in industrielle Reklame" - so Theodor W. Adorno in einem kleinen Beitrag für die Süddeutsche Zeitung aus dem Jahr 1967. Dort bekundet er sein Erschrecken über das Wort 'Uromi' in einer Todesanzeige, das er nicht nur als "Grimasse" vermeintlicher Nähe, sondern sogar als "Maske von Unheil" kritisiert. Das Unheil liegt für ihn in einer schamlosen Familiarität, die sich der eigentlich gebotenen Trauer versagt. Gerade darin hat das unpassend platzierte Ur-Wort einen historischen Index, allerdings einen, der aus der Geschichte direkt in die Vorgeschichte weist: "Das Uromi ist ein prähistorisches Monstrum."
Troika
(2018)
Im (west-)europäischen politisch-administrativen Sprachgebrauch der Gegenwart finden sich kaum russische Wörter. Die Karriere des russischen 'Troika' ist so ein seltener Fall, der auch in Russland Aufmerksamkeit weckte. Ins öffentliche Bewusstsein gelangte der Begriff erst nach 2000, als die EU eine Dreiergruppe - die Troika - aus Vertretern der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Kommission einsetzte, um die Sparmaßnahmen der griechischen Regierung während der Staatsschuldenkrise zu überwachen. Die begriffliche Assoziation zu den unter gleichem Namen bekannten außergerichtlichen Straftribunalen in der Sowjetunion der Stalinzeit war wohl zu offensichtlich, weshalb die EU auf Drängen Griechenlands die Bezeichnung 'Troika' später durch den neutralen Begriff 'Institution' ersetzte. Warum die EU einen politisch derart kompromittierten Begriff überhaupt in ihren Sprachgebrauch aufnahm, scheint nur schwer nachvollziehbar. Reduziert man allerdings die Begriffsgeschichte der 'Troika' allein auf die semantische Spur des Straftribunals, bleiben die Registerwechsel zwischen höchst unterschiedlichen kulturellen Bereichen im 20. Jahrhundert ausgeblendet.
Vielleicht denken derzeit die meisten zuerst an das Auto, wenn von 'Trabant' die Rede ist. Vielleicht sogar an dessen himmelblaue Ausführung, selbst wenn sie im Straßenbild inzwischen fremd geworden ist. Und wenn man 'fremd' mit 'unbekannt' übersetzt, dann trifft das den Trabanten nicht nur, weil der Begriff ein Fremdwort ist, sondern auch, weil unbekannt ist, aus welcher Fremde es stammt. Seine Herkunft ist nicht zweifelsfrei belegt. So hat man seinen Ursprung im Italienischen, im Deutschen oder im Türkisch-Persischen vermutet, von wo es über das Ungarische und Rumänische in die westeuropäischen Sprachen gelangt sein könnte. Im Grimm'schen Wörterbuch werden diese Annahmen jedoch samt und sonders als nicht stichhaltig verworfen. Umso wahrscheinlicher aber sei seine Herkunft aus dem Tschechischen, woher es zur Zeit der ersten Hussitenkriege entlehnt wurde, wobei dem dort schon im 15. Jahrhundert nachweisbaren 'dráb', dem 'fuszkrieger', im Deutschen die Endung '‑ant' hinzugefügt worden sei, ein Muster, wie es auch bei 'sarjant' oder 'brigant' verwendet worden war.
"Toughness has been rather out of fashion, as a masculine virtue", so William Gibson schon 2002. Die 'toughe Frau' scheint dagegen noch in aller Munde: zumindest im deutschsprachigen Raum gilt 'tough' als reflexartig einspringende Vokabel für die Kennzeichnung weiblicher Erfolgstypen: "kämpfende Amazone", "eiserne Lady" oder 'superwoman' bleiben als denkbare Synonyme ohne jede Chance. In hoffnungslos inflationärem Gebrauch schreiben die Titelzeilen der Lifestyle- und Frauenmagazine nahezu jeder in den Fokus gerückten Person das Epitheton zu, das zumindest in dieser Verwendung als unübersetzbar gelten muss, vielleicht aber auch gar keiner Übersetzung bedarf: handelt es sich doch - entgegen allem Anschein - um ein deutsches Wort, vermutlich so urdeutsch wie 'Handy'.
Synergie
(2018)
'Synergie', von griech. 'syn' ('mit', 'zusammen') und 'en-ergeia' ('Wirken'), beschreibt heute kooperative Effekte in der Natur, Wissenschaft und Gesellschaft, für die der aristotelische Satz "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" gilt. Doch 'Synergie' ist nicht nur ein Wort der Gegenwart. Mitte des 19. Jahrhunderts wird 'Synergie' (Adj. 'synergetisch') als Fremdwort in der deutschen Sprache mit der Bedeutung "Mitwirkung, Hilfe" angeführt. Bereits früher in die Bildungssprache eingegangen ist der 'Synergismus' (Adj. 'synergistisch'), die "Lehre von der freien Mitwirkung der Menschen zu ihrer Seeligkeit". Beide Einträge verweisen zunächst auf die Philosophie und christliche Theologie der Antike.
Der georgischen Sprache fehlt es nicht an mehr oder weniger alltäglich gebrauchten deutschen Fremdwörtern. Den meisten haftet ihr Umweg durch das Russische an, den sie während der kaiserlichen und späteren sowjetischen Herrschaft über Georgien gemacht haben. [...] Allerdings stößt man in dem prägenden sowjetgeorgischen Fremdwörterbuch, das zwischen 1964 und 1989 dreimal aufgelegt wurde, gerade beim Eintrag 'schtraikbrecheri' auf eine durchaus seltsame Bestimmung: "schtraikbrecher-i (dt. 'Streikbrecher') - in kapitalistischen Ländern: eine Person, die während des Streiks arbeitet und den Streik stört." Die stillschweigende Voraussetzung, Streikbrecher existierten nur "in kapitalistischen Ländern", weil es in den sozialistischen keine Streiks gebe, wirft in ihrer Verlogenheit erst recht die Frage nach der Vor- und Nachgeschichte dieses Begriffs auf.
Die programmatische Allgegenwart des 'Sozialen' nährt den Verdacht, wir hätten es hier mit einem leeren und nichtssagenden Plastikwort zu tun, das vielleicht gebildete Dignität und moralisches Engagement vortäuscht, aber semantisch durchaus nicht zu fassen ist, weil es eben nichts Bestimmtes zu bedeuten vermag. Clemens Knoblochs These ist hingegen, dass 'sozial' in den Jahren um 1900 zu einer semantischen Chiffre wird, in der sich die Erfahrung reflexiv verdichtet, dass die dringlichsten Probleme der industriekapitalistischen Entwicklung diejenigen sind, die durch diese Entwicklung selbst erst hervorgebracht werden. Platt gesagt: die unbeabsichtigten Nebenfolgen des allgemeinen Fortschritts: Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten, Landflucht, Proletarisierung, Stockungen im Warenabsatz, Armuts- und Elendsseuchen, Analphabetismus etc. müssen sowohl 'staatlich' als auch 'gemeinschaftlich' bearbeitet werden. Mittels 'sozial' erhalten all diese (im Schlagwort der "sozialen Frage" resümierten) Probleme so etwas wie eine Adresse. Und fortan wird 'sozial' programmatischer Bezugspunkt all dessen, was sich auf die unerfreulichen Folgen und Begleiterscheinungen der kapitalistischen 'Entwicklung' bezieht. Es wird kompensatorisch, es wird (linguistisch gesprochen) nicht nur zum Relationsadjektiv, sondern zu einem pauschalen Verweis darauf, dass die qua 'sozial' modifizierten Nominalphrasen (bzw. das, was sie nennen) einen Bezug auf das Problem der gesellschaftlichen Kohäsion haben. Diese Facette fehlt naturgemäß völlig im lateinischen 'socialis', das die ausdrucksseitige Quelle des heute in vielen Sprachen vertretenen Internationalismus 'sozial' ist.
Software
(2018)
Software regiert die Welt. Software hat die alte Unterscheidung von Geist und Materie - aufgemischt. Im engeren, in der und durch die Informatik terminologisch gewordenen Sinn meint der Begriff die Programme, die auf Universalrechenmaschinen (als der Hardware) zum Laufen gebracht werden können. Aber auch deren Bedienungsanleitungen wurden weiland dazu gezählt. Ebenso sind auch die gemäß den Befehlen der Programme verarbeiteten Daten und Adressen nicht Hard-, sondern Software. Die ganze heutige Bilderwelt im Web und auf den Milliarden Handys, alle gestreamte und downgeloadete Musik, nicht anders als dieser Text hier (bevor er in Druck gegangen sein wird): Alles ist Software. Und nichts ist Software. Weil ja auch jenseits der Schrift auf Papier, der Spur im Vinyl, des Granulats von Silbersalzen, kurzum: im sogenannten Digitalen nichts ohne die physikalisch-elektrischen Zustände der es prozessierenden Schaltkreise geht. Insofern gilt: Es gibt keine Software. Es gibt nur das Milliardengeschäft der Illusion, dass alles Software sei. Vielleicht könnte man sagen, dass 'Software' zu nichts anderem ge- und erfunden wurde, als um genau diese 'coincidentia oppositorum' von Alles und Nichts zu bezeichnen - oder hinter ihrer Bezeichnung zu verstecken. Beide Seiten machen jedenfalls erklärlich, dass es ein eigenes Wort für die Sache brauchte. Als Fremdwort außerhalb des englischen Sprachraums kann die einmal etablierte Vokabel, ebenso Unklarheiten mit sich führen, wie sie als 'terminus technicus' (im Englischen wie in anderen Sprachen) auch für das genaue Gegenteil, nämlich wissenschaftliche Präzision, einstehen kann.
Theodor W. Adornos berühmt-berüchtigte Verteidigung des Fremdworts als "Exogamie der Sprache" wirft neben anderen Fragen auch die auf, ob denn hier Fremdsprache gleich Fremdsprache sei. [...] Immerhin lenkt Adornos Vergleich die Aufmerksamkeit auf einen in der Begriffsgeschichte unterschätzten Aspekt: Bedeutungsveränderungen, die eine Terminologie durchläuft, sind nicht selten mit sich wandelnden emotionalen Konnotationen verbunden. Begriffsgeschichte ist auch eine Geschichte der 'languages of emotion'. Besonders deutlich wird das an Begriffen wie 'Roboter'.
Rettungsschirm
(2018)
Macht sich die Zweideutigkeit des "Rettungsschirms" im Deutschen vor allem in Gestalt seiner visuellen und metaphorischen Figurationen bemerkbar, fällt sie im Englischen schon auf wörtlicher Ebene auf. Denn das Englische kennt zwei unterschiedliche Worte für die benannte Sache, sodass der Schirm entweder als 'umbrella' ("Regenschirm") oder als 'parachute' ("Fallschirm") auftreten muss. So finden sich denn auch beide Varianten in der englischsprachigen Berichterstattung über die Eurokrise. Die entsprechenden Formulierungen 'rescue umbrella' oder 'rescue parachute' lassen sich dabei in der Regel als Übersetzungsversuche aus dem Deutschen erkennen. Darüber hinaus finden sich beide Varianten häufig in englischsprachigen Einlassungen deutscher Krisenkommentatoren, die für diese Einrichtung werben oder sie kritisieren wollen. Viele englischsprachige Fachpublikationen, in denen explizit von 'rescue umbrella/parachute' die Rede ist, stammen auch aus der Feder deutscher Autorinnen und Autoren. Dieser Befund lässt die Vermutung zu, dass es sich bei dem Rettungsschirm um eine genuin deutsche Wortschöpfung handeln könnte. Die Vermutung lässt sich durch eine Reihe sprachwissenschaftlicher Untersuchungen bestätigen, die sich mit der Metaphorik der Finanzkrise beschäftigt haben. Das Gesamtbild der unterschiedlich angelegten empirischen Studien lässt recht klar erkennen, dass der Rettungsschirm eine der dominierenden Metaphern im deutschen Krisendiskurs und offenbar auch ein spezifisch deutsches Sprachgebilde ist.
Resilienz
(2018)
Im 'Posthistoire', so kann man wohl feststellen, wird die Aufgabe der Abblendung sozialer Risiken von Begriffen übernommen, die dem weiten Feld ökologischer Debatten entnommen sind. In diesem Sinne hat Norbert Bolz unlängst die inflationäre Rede von 'Nachhaltigkeit' oder 'sustainability' analysiert. [...] Die Übertragung des Begriffs der Nachhaltigkeit aus dem Bereich der Forstwirtschaft in den Bereich gesellschaftspolitischer Debatten hat ihren Grund in der utopischen Aufladung ökologischer Ansätze in den Natur- und Ingenieurswissenschaften seit den sechziger Jahren. Das von Bolz benannte Problem ist also nicht allein eines der politischen Rhetorik, sondern darüber hinaus das einer zunehmend undeutlicher werdenden epistemischen Differenz von Natur und Gesellschaft. Dies schlägt sich in der Verwendung von Begriffen nieder, die gleichermaßen natürliche und soziale Prozesse zu beschreiben vermögen und sich dabei zugleich als wirkmächtige Metaphern für die Programmatiken eines soziotechnisch ausgerichteten Regierens anbieten. Exemplarisch lässt sich dies am Begriff der 'Resilienz' studieren.
Trotz der sorgsam gepflegten Begriffsgeschichte (kaum ein geistes- oder sozialwissenschaftliches Fachwörterbuch ohne entsprechendes Lemma) scheint 'Religion' ein auffällig unkonkreter, im Grunde ungeklärter Begriff, der in Anbetracht dessen in seinem Alltagsverständnis erstaunlich wenig erklärungsbedürftig scheint. Das Problem der Religionswissenschaft, ihren Gegenstand zu bestimmen, - dies soll hier als Indiz für das Problem mit dem Begriff 'Religion' dienen - liegt vielsagenderweise u. a. darin, dass keine Definition in der Lage ist, alles, was man als Religion zu bezeichnen gewohnt ist, gleichzeitig abzudecken und jeder Definitionsversuch als einseitig und letztlich als voreingenommen abgelehnt wurde. Es gab nie und gibt bis heute keine konsensfähige Definition und einige Fachvertreter*innen geben gar zu bedenken, so etwas wie Religion gebe es im Grunde eigentlich gar nicht.
Proletarier
(2018)
Der These des Begriffshistorikers Werner Conze – enthalten schon im Titel seines Aufsatzes von 1954: "Vom 'Pöbel' zum 'Proletariat'. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland" - hat der radikale Sozialhistoriker Ahlrich Meyer bescheinigt, im Gewand "neutraler" Begriffsgeschichte im nachhinein bloß ein sozial-eliminatorisches Programm zu sanktionieren, dessen letzte Konsequenzen erst die Nazis endgültig exekutiert hätten - mit tatkräftiger "wissenschaftlicher" Unterstützung von Historikern wie dem Conze-Freund Theodor Schieder oder eben Conze selbst. Die "postnazistische" westdeutsche Geschichtswissenschaft habe letztlich bloß das alte "nazistische Programm der staatlichen Integration der deutschen Kernarbeiterklasse auf die Geschichte projiziert". Wie dem auch sei - auch hier wird einmal mehr deutlich, dass Begriffsgeschichte von Begriffspolitik nicht zu trennen ist. Aber zurück zum Vormärz: Wie immer man die "Conze'sche Integrationsthese" (Meyer) einschätzen mag, mit dem 'Pöbel' und dem 'Proletariat' stehen sich zwei sozialhistorische Protagonisten gegenüber, deren Begriffsgeschichte im Deutschen allemal problematisch ist.
Petra Gehring greift nach einem Ausdruck, der erstens in der Sprache des Faches Philosophie zuweilen in semi-terminologisch wirkender Art und Weise vorkommt, der zweitens, wie man in der Metaphernforschung sagen würde: realsemantisch auf Ingenieurswissen verweist und der drittens auf vielversprechende Weise - was die konkrete Herkunft angeht - changiert: die "Plattform". Ohne in der Wirbelschleppe einer ganz bestimmten Thematik diskursfähig geworden zu sein, hat sich das Wort in der Arbeitssprache der Geisteswissenschaften jedenfalls so weit festgesetzt, dass man es als eingebürgert bezeichnen kann. Um einen "naturwissenschaftlichen" Term handelt es sich nicht, man wird vielmehr an eine begehbare Fläche, an eine Stützpfeilerkonstruktion, die Ausblicke eröffnet, und insofern zuerst und zu Recht an Bautechnik denken. Gleichwohl kennen wir inzwischen auch die Online-Plattform und überhaupt besteht da ein Anfangsverdacht, der in Richtung Kommunikationstechnik weist.
Panisch / Panik
(2018)
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der letzte große Systemphilosoph des deutschen Idealismus, tat sich nicht leicht, die Ursprünge und die Anfänge der eigenen Philosophie zu erzählen. [...] In die Darstellung des griechischen Geistes flicht Hegel eine weitere Anfangserzählung seiner selbst ein, die man mit Fug und Recht "Die Geburt der Philosophie aus dem Geist der Panik" nennen könnte. Der zentrale Stellenwert dieser Geschichte wird schon daran ersichtlich, dass Hegel sie als Korrektiv oder zumindest als Komplement einer prominenten aristotelischen Gründungsfigur auszuweisen versucht. Habe Aristoteles den Anfang der Philosophie auf die "Verwunderung" verpflichtet, so könne allein die "griechische Naturanschauung" die Triftigkeit dieser Behauptung demonstrieren. In Griechenland habe der Geist nämlich zum ersten Mal gelernt, die Natur als eine Art geistig vermitteltes Phänomen zu begreifen, er bleibe im Rahmen solcher Bemühungen aber noch durch und durch ein Geist der "Mitte". [...] Es sind signifikanterweise die 'Panik' und der 'panische Schreck', in denen sich die 'Mitte' des griechischen Geistes gleichsam kondensieren. Denn für Hegel galt noch als selbstverständlich, was der spätere Begriffsgebrauch des 'Panischen' und der 'Panik' vergessen machte. 'Panik' geht auf den griechischen Gott Pan zurück, jenen Gott des Waldes und der Natur, der einen menschlichen Ober- und einen tierischen Unterkörper in Form eines Widders oder Ziegenbocks besitzt.
Messie
(2018)
Erst seit 2004 findet man im Duden zwischen 'Messias' und 'Messing' das neue Lemma 'Messie'. Es bezeichnet eine "Person mit chaotischer Unordnung in der Wohnung". Etwas später ist der Begriff auch in der Medizin zwar nicht gerade heimisch geworden, doch hat er sich zumindest eingenistet: Zwischen 'Mesmerismus' und 'Messung' verweist der "Pschyrembel Psychiatrie, klinische Psychologie, Psychotherapie" 2012 mit dem Lemma 'Messie-Syndrom' auf den Haupteintrag 'Vermüllungssyndrom': "Bez. für zwanghaftes Horten u. Sammeln z. T. wertloser Gegenstände (Sammelzwang) u. die Unfähigkeit, sich davon zu trennen; [...] Wohnungen bzw. Häuser sind kaum begehbar, z. T. entstehen hygienische Probleme (z. B. bei Sammeln v. Joghurtbechern)". Zwar leitet sich der Begriff 'Messie' vom englischen 'mess' - "Unordnung, Durcheinander, Chaos, unübersichtliche Situation" - ab, doch scheint es sich um einen Pseudoanglizismus wie 'Handy' oder 'Fitness-Studio' zu handeln [...] Aber auch wenn englische Muttersprachler den Begriff 'Messie' heute nicht sofort verstehen, stammt er eben doch aus dem Englischen, genauer gesagt, aus dem Amerikanischen.
Mauscheln
(2018)
Der Begriff 'Mauscheln' ist paradox: er existiert in keiner anderen Sprache als im Deutschen und ist unübersetzbar. Als Fremdwort wird er zumindest im Englischen gebraucht, doch aus dem deutschen Wortschatz ist er heute verschwunden, zumindest soweit dieser ein öffentlicher ist. 'Mauscheln' ist verpönt, obwohl der Begriff seit dem 17. Jahrhundert weit verbreitet war. Als Ausdruck des "Verhältnisses zwischen Juden und Christen in Deutschland" haften ihm antisemitische Stereotypen über den betrügerischen Juden an. Seine Geschichte hält die Erfahrung fest, dass die "Verfolgung und Vernichtung der Juden durch sprachliche Agitation vorbereitet" wurde. Sie geht allerdings nicht in dieser Erfahrung auf.
משל [maschal] - Spruch, Gleichnis, Herrschaft, Prägung ... : über die Faszination einer Wurzel
(2018)
In dem 1792 veröffentlichten Aufsatz "Spruch und Bild, insonderheit bei den Morgenländern" entwickelt Johann Gottfried Herder eine Apologie der Spruchdichtung, die zwischen Poesie und Prosa, zwischen Volksdichtung und Kunstliteratur stehe und vor allem im 'Morgenland' - also bei den Persern, Arabern und Hebräern - in Blüte gestanden habe. [...] Dabei bezeichne jenes 'Wort' משל nicht nur Ursprung und Natur der Sprüche, sondern sogar den expressiven Charakter der menschlichen Sprache überhaupt, wie Herder mit einem Hamann-Zitat fortsetzt: "Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts [...]. Sinne und Leidenschaften verstehen nichts als Bilder." Sprüche, Bilder, Sinne, Leidenschaften - all das, so legt der Text nahe, bildet einen Zusammenhang, den Herder und auch andere gerne den des 'Ausdrucks' nennen, der hier aber "mit einem einzigen Wort" umrissen wird, eben mit dem Graphem משל, einem Ausdruck von 'Ausdruck'. Was 'bedeutet' dieser Ausdruck und was bedeutet es, diesen Ausdruck so in den Text einzufügen, wie Herder das tut?
Luftmenschen
(2018)
Wörter können zweifach bewegt werden: wie Erbschaften in der Zeit und wie Güter im Raum. Sie gedeihen nicht nur in ihrer eigenen Sprache, sondern auch in anderen, vor allem dann, wenn dort im Mündlichen oder in der Schriftsprache eine Art Bezeichnungs-"Vakuum" besteht: Wo immer sie dringend benötigt werden, dort haben sie potentiell auch Platz. Die Bewegung selbst erfolgt zuerst mit den Sprechern, und mit diesen bleiben Worte auch im Gebrauch lebendig; gehen sie dann in die Umgangs- oder sogar Hochsprache ein, weitet sich ihr linguistischer Einfluss aus, sie werden beständiger, erscheinen fest verknüpft mit ihrer neuen Umgebung. Mitunter ist dann ihre Herkunft im Rückblick nicht mehr so ohne weiteres zu eruieren. Trotzdem bleiben solche Begriffe Indikatoren für ein Milieu, das zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort bestand und das ihnen ihre erste Ursprünglichkeit eingeschrieben hat. Die deutschen Lehnwörter im Hebräischen sind hierfür ein gutes Beispiel.
Intellectual history
(2018)
Kaum einer der ins Deutsche eingewanderten Termini ist von so vielen Nachbarn umgeben wie 'intellectual history': Ideengeschichte, 'history of ideas', intellektuelle Geschichte, Intellektuellengeschichte, Intellektualgeschichte, Geistesgeschichte, Philosophiegeschichte, Wissensgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, historisch-semantische Epistemologie und einige andere mehr. Das Terrain ist dicht besetzt und teilweise hart umkämpft, und gerade das prädestiniert den Begriff zur Aufnahme in einen Katalog der unübersetzbaren Ausdrücke. Denn einige der Nachbarn erheben Gebietsansprüche, andere grenzen sich ab und errichten Zäune, einige wenige lassen sich entspannt auf keine Grenzstreitigkeiten ein. Bei letzteren - der verlustfrei übersetzbaren 'History of ideas' sowie der Philosophiegeschichte - handelt es sich um alte Bekannte aus Kindertagen. Der Umstand, dass 'intellectual history' sich in einem solchen Umfeld behaupten kann, dass sie weder mittels Übersetzung assimiliert noch überhaupt verdrängt wird, hängt damit zusammen, dass der Ausdruck offenbar über eine spezifische Differenz zu möglichen Übersetzungen oder Kandidaten zur Besetzung seiner Stelle verfügt. Worin diese spezifische Differenz besteht, zeigt die Geschichte dieses begrifflichen Kompositums.
Buchstäblich auf der Flucht rutschte Kurt Goldstein sein Hauptwerk aus der Feder. Im Frühjahr 1934, während eines Zwischenaufenthalts in Amsterdam, schrieb er binnen weniger Monate "Der Aufbau des Organismus: Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen". In diesem Buch entfaltete Goldstein seine auf der Basis von klinischen Erfahrungen gewonnenen physiologischen Anschauungen zu einer allgemeinen Theorie des Organismus. Zentraler Gedanke dieser Theorie war die These, dass sich die Leistungsvielfalt eines Organismus nicht als Summe möglichst exakt zu zergliedernder Einzelreaktionen beschreiben, sondern nur aus dem Gefüge ihres Zusammenwirkens erfassen lasse.
Empathie
(2018)
Die partielle Begriffsgeschichtsvergessenheit mit Blick auf Empathie scheint Effekt ihrer gelungenen Psychologisierung und Übernahme in naturwissenschaftlich orientierte Disziplinen zu sein. Eine Geschichte des Begriffs, die jene antike 'empatheia'-Tradition und die Empathie-Diskurse der letzten 110 Jahre nicht von vornherein separiert, wäre vielleicht eine Geschichte langsamer Affektkontrolle. Der Transfer ginge dann so: 'Empatheia' - mit Gefühl - Mitgefühl. Er beschriebe einen Wandel der Empathie in ein soziales, kommunikatives Geschäft und einen allmählichen 'emotional turn' innerhalb der Empathie-Begriffsgeschichte, der das Erfasstwerden von äußeren, gegebenenfalls dämonischen, Kräften dadurch bannen konnte, dass er aus dem radikalen Kontrollverlust, den die antike 'empatheia' hieß, zuerst ein - modern verinnerlichtes und eingehegtes - 'gefühlvoll' werden ließ. Im 20. Jahrhundert, angereichert mit ästhetischem Einfühlungswissen, gab Empathie, als Begriff und Gegenstand, nicht nur der Psychologie epistemologischen Halt. Sie wurde mit ihrer Vereinnahmung durch die 'psy sciences' zur vergötterten Gabe und menschlichen Natur. "[S]uper-empathizer" sind Idole der Gegenwart, und als pathologisch gilt das Empathie-Defizit. Heute ist Empathie, Gefühl zweiter Ordnung, Übergriff und "Erwartungserwartung", selbst ein Medium der Affektkontrolle.
Dialektik
(2018)
Was 'Dialektik' nun genau sei, darüber gibt es immer noch sehr verschiedene und auch einander ausschließende Auffassungen. Vor allem auch darüber, ob es eine Dialektik gebe oder geben könne, die sich noch besonders durch das Attribut 'materialistisch' empfehlen würde. Je näher wir hinsehen, desto mehr entschwindet uns der Begriff, der einmal so viele Gewissheiten trug. Vielleicht liegt das auch schon daran, dass sich im Begriff der Dialektik viele Bedeutungsdimensionen gleichsam sedimentiert haben; er trägt schwer an seiner Geschichte und kann sich gerade deshalb immer wieder von einseitigen Fixierungen zurückziehen.
Coming-out / Outing
(2018)
Im Deutschen hat sich ein Anglizismus eingebürgert, der aus zweien eins macht; die ursprüngliche Bedeutung von Coming-out wird dabei auf Outing übertragen. Das "Anglizismen-Wörterbuch" definiert 'outen' als "homosexuelle Personen, insbes. Prominente, gegen ihren Willen in der Öffentlichkeit bloßstellen, indem man ihre Homosexualität preisgibt"; 'Outing' als "Bloßstellen von homosexuellen Personen, insbes. von Prominenten, gegen deren Willen in der Öffentlichkeit". Während der Eintrag zu 'Coming out' im selben Wörterbuch gerade eben eine halbe Seite lang ist, finden sich zu 'outen' und 'Outing' mehr als anderthalb Seiten. So sehen Erfolgsgeschichten aus. Denn das Verb 'outen' hat lexikographisch signifikante Bedeutungserweiterungen erfahren, so dass gleich drei weitere Bedeutungen angegeben werden, "kleine Schwächen, Schönheitsfehler etc. von Prominenten gegen deren Willen öffentlich bekanntmachen", und schließlich: "von sich selbst (unfreiwillig) in der Öffentlichkeit zugeben, daß man in einem best. Bereich in seinem Lebenswandel von der Mehrheit abweicht, bes. Schwächen oder Vorlieben hat". Das Wörterbuch weiß um die Fährnisse des translingualen Verkehrs und fügt erläuternd hinzu, das outen als reflexives Verb in englischen Wörterbüchern nicht existiert, '*to out oneself' ist nicht möglich. Das intransitive 'to come out' lässt sich weder syntaktisch noch semantisch mit dem transitiven 'to out somebody' kurzschließen. Wenn 'outen' aber auch "von sich selbst in der Öffentlichkeit zugeben, daß man homosexuell, bisexuell etc. ist" bedeuten kann, dann wird es nicht mehr lange dauern, bis Outing Coming-out vollständig verdrängt haben wird. Mehr und mehr ist heute so auch schon von Selbst-Outing die Rede.
Charaktermaske
(2018)
Als Kompositum zweier Nomen erscheint der Ausdruck 'Charaktermaske', so wie etwa auch 'Begriffsgeschichte' oder 'Verblendungszusammenhang', "spezifisch deutsch". Aber auch im Deutschen wirkt er sperrig und fremdartig, weil die Bedeutungen der beiden zur Einheit gebrachten Substantive in Spannung zueinander stehen und sowohl historisch wie funktional auseinanderweisen. Marx macht sich in seiner Umwertung des Begriffs diese Spannungen zunutze. Der semantisch neu besetzte Ausdruck wird bei ihm zum "Träger von Dissonanz" und übernimmt damit Funktionen eines Fremdwortes, wie Adorno sie in seinem Aufsatz "Wörter aus der Fremde" beschrieben hat. Dazu gehört die Zerstörung des "Schein[s] der Naturwüchsigkeit", die Marx durch ein Verfahren der Verfremdung des vermeintlich Vertrauten bewirkt. Hergestellt wird sie durch einen frappierenden Terrainwechsel, nämlich die Übertragung aus der Sphäre des Theaters bzw. der Ästhetik in den Kontext der politischen Ökonomie. Die emphatische Metaphorisierung konstituiert eine Art "innersprachliches Ausland", das nicht nur Fremd-, sondern auch Muttersprachlern die Arbeit der 'Übersetzung' abverlangt, um sich den Begriff verständlich zu machen.
Begriffsgeschichte
(2018)
Die jüngeren Aufbrüche und Umbrüche haben den Begriff 'Begriffsgeschichte' nicht unberührt gelassen: "Als undogmatische Sammelbezeichnung für die Erforschung semantischer Veränderungsprozesse hat sich mittlerweile der Terminus historische Semantik interdisziplinär etabliert." Die Ausnüchterung des Begriffs im Terminus, der Begriffsgeschichte in der historischen Semantik, hilft bei der Abwehr prekärer und vielleicht auch gar nicht mehr zeitgemäßer Fragen, zumal der notorischen nach dem 'Begriff des Begriffs' der Begriffsgeschichte. Paradoxerweise drängen sie aber wieder, wenn sich die Begriffsgeschichte selbst historisch zu werden beginnt. Und da neben Interdisziplinarität und Internationalisierung auch Historisierung unabdingbar zum Ausweis wissenschaftlicher Geltung und Aktualität gehört, kommt Begriffsgeschichte um ihre Selbsthistorisierung gerade jetzt, zu Zeiten ihres späten Ruhmes, nicht herum.
Die Wendung 'avant la lettre' führt mitten ins Epizentrum jener Fragen, die sich mit den derzeitigen Öffnungen und Umbrüchen in den Methoden der Begriffsgeschichte stellen. Sie gehört ins Register des Unübersetzbaren, auch wenn man sie in Barbara Cassins "Dictionnaire des intraduisibles" (2004) vergeblich sucht. Denn sie wird im Deutschen oder Englischen gleichbedeutend verwendet wie im Französischen. Es handelt sich zudem um eine metaphorische Formulierung - ein Tatbestand, der allerdings oft hinter ihrem fremdsprachlichen Charakter zurücktritt. Denn es wird nicht vielen bekannt sein, dass die Formulierung in ihrer wörtlichen Bedeutung dem Bereich der Drucktechnik entstammt. Und schließlich verweisen Modus und Bedeutungsgehalt von 'avant la lettre' auf Fragen, die mit dem Vorbegrifflichen oder aber dem Unbegrifflichen zusammenhängen.
Autonomie
(2018)
Bei 'Autonomie' handelt es sich um einen alten Begriff mit altgriechischen und lateinischen Wurzeln, der in der Moderne zu einem politischen Schlüsselbegriff geworden ist. Parallelausdrücke wie 'Selbstbestimmung', 'Selbständigkeit', 'Eigengesetzlichkeit', 'Mündigkeit', 'Unabhängigkeit', 'Autarkie' sowie Komplementär- und Gegenbegriffe wie 'Heteronomie', 'Fremdbestimmung', 'Abhängigkeit', 'Bevormundung' verweisen auf ein weitverzweigtes Wortfeld ('Prädestination-Willkür', 'Determinismus' bzw. 'Naturalismus-Freiheit', 'Dogmatismus-Kritizismus', 'Realismus-Idealismus', 'Transzendentismus-Immanentismus', 'Autarkie-Interdependenz' bzw. 'Globalisierung') mit langer (Verflechtungs-)Geschichte. Der Begriff zirkuliert heute als Nomaden- und Grenzgängerbegriff in verschiedensten, einander gegenseitig befruchtenden Feldern (Politik, Pädagogik, Kunst, Kultur, Ökonomie, Medizin, Ökologie, Robotik etc.). Er interagiert als interdisziplinärer oder transversaler Verbundbegriff in seinen jeweiligen Vernetzungen mit anderen (wie z. B. Identität) und fördert wechselseitige Übertragungen zwischen ethisch-politischen und anderen Semantiken.