830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Rudolf Kassner schrieb in einem "Avis für die künftige Philologie Hofmannsthalscher Texte", der Dichter habe das Wort "Wirklichkeit ... fast nie" gebraucht: "Um so häufiger die Worte: Gebärde, Ton, Sprache, Leben ... ". Was hier als apercu ausgesprochen wird, hat inzwischen die Qualität methodischen Verfahrens gewonnen; eine kulturwissenschaftlich geöffnete Germanistik, die den Leibraum nicht nur dichterischer, sondern selbst diskursiver Texte anvisiert, wird gerade bei Hofmannsthal auf eine Prägnanz und zugleich auf einen Variantenreichtum von Gebärden stoßen, die, auch nach den Arbeiten von Mauser und Austin, weitere Erforschung lohnen. Bezieht man in die Lektüre nicht nur die abgeschlossenen Texte, sondern auch die im Rahmen der Kritischen Ausgabe vorgelegten Dramen- und Erzählungsfragmente ein, dann wird zudem deutlich, dass Hofmannsthal mit gestischen Mustern arbeitete, die in den unterschiedlichsten narrativen Kontexten eine gewisse Stabilität bewahren und sich damit für die Beantwortung der Frage, welche schriftstellerische Strategie denn eigentlich die auseinanderstrebenden Fragmente noch zusammenhält, geradezu anbieten. Aus der Vielzahl jener Muster soll im folgenden ein relativ elementares vorgestellt werden, das seine textstrukturierende Kraft über weite Teile des Werks verbreitet.
Im Jahr 1895 verherrlichte Annunzio bei irgend einem festlichen Anlaß die Stadt Venedig in einer Rede, die sich nicht mit den Reden vergleichen läßt, welche man bei ähnlichen Anlässen zu halten pflegt. Er gab dieser Rede, als sie später veröffentlicht wurde, die Überschrift: "Allegorie des Herbstes", und in der That bildet ihren Inhalt die Vision und Schilderung einer hochzeitlichen Vereinigung Venedigs mit dem Herbst. Man fühlt sich an jene frostigen Personificationen erinnert, an jene Kunstform, deren sich drei vergangene Jahrhunderte bis zur völligen Erschöpfung ihres Reizes, ja über die Grenze des Erträglichen bedienten.
Und wirklich scheinen sich die gewaltigsten visionären Augen und der kühnste an unerhörten Gleichnissen reichste Freund, den die lateinischen Völker im jetzigen Zeitraum besitzen, endgültig dieser majestätischen lateinischen Kunstform zugewandt zu haben: der gewaltigen, das gesammte Dasein umschließenden Allegorie, den prunkvoll hinrauschenden Triumphzug, der aus blendenden Gleichnissen aufgethürmten Ehrensäule. Seit einigen Jahren sehe ich kein Werk von ihm entstehen, das nicht dastünde wie eine Trophäe.
Primärtexte und Briefausgaben werden entsprechend dem für das HJb zugrundegelegten Siglenverzeichnis zitiert. Briefe und Notizen, die erstmals in der Kritischen Ausgabe abgedruckt wurden, bleiben hier unberücksichtigt. Jede bibliographische Angabe erhält eine Ordnungsnummer, ausgenommenn davon sind in der Regel Rezensionen. Einzelkritiken zu aktuellen Inszenierungen sind nur in Ausnahmefällen aufgenommen.
Im Frühjahr 1900 verbrachte Hugo von Hofmannsthal einige Wochen in Paris. Der Aufenthalt in der französischen Metropole, die ganz im Zeichen der Weltausstellung stand, wurde für Hofmannsthal zu einer Phase dichter Erlebnisse und Begegnungen. Die hier gewonnenen Impulse schlugen sich in einer Flut von Einfallen nieder, deren Verflüchtigung Hofmannsthal nur mit Mühe vorbeugen konnte, wie es in einem Brief vom 19.1.1900 an Ria Schmujlow-Claassen heißt: Ich habe die Skizze von 4 oder 6 Erzählungen wie im Fieber hingeschrieben, ein Ballet entworfen, ein Vorspiel zur Antigone in Versen ausgeführt (für Berlin), von andern kleinen lyrischen Stücken ein Scenarium gemacht und sitze zwischen Trümmern, halbfestgehaltenen Gestalten, Details wie Rodin zwischen Gypshänden, Füßen und abgebrochenen Flügeln [ ... ]
Seine Rückkehr aus Paris kündigte Hofmannsthal in demselben Schreiben "auf einem Wagen voll Manuscripten im Mai" an. Zu den "Trümmern", die Hofmannsthal auf seinem 'Musenwagen' aus Paris mitbrachte, gehören die Bruchstücke eines "dreitheiligen Spiegels": die dramatischen Entwürfe "Leda und der Schwan", "Das Festspiel der Liebe" und "Der Besuch der Göttin", die gleichzeitig nebeneinander entstanden sind. Unter dem Titel "Spiele der Liebe u. des Lebens" sollten diese Dramen im letzten von drei geplanten Bänden mit Werken aus den Jahren 1889 und 1900 zusammengefaßt werden.
Ursula Renner rezensiert Waltraud Wiethölters Tübinger Habilitationsschrift "Hofmannsthal oder Die Geometrie des Subjekts", in der ein Zugang zu Hofmannsthals Erzählprosa erprobt wird, der über die Grenzen der abgeschlossenen Texte hinausgreift und sie als ein chronologisch sich entwickelndes Textkontinuum versteht. Neben den Erzählungen werden die essayistische Prosa und die Notizen aus dem Nachlaß einbezogen, welche in ihrem Umfang - und auch ihrer Bedeutung - erst nach und nach durch die Bände der kritischen Ausgabe ans Licht kommen. Die Verfasserin macht einen Zusammenhang sichtbar, der von dem frühen autobiographischen Fragment "Age of Innocence" und dem "Märchen der 672. Nacht" und den vieldiskutierten "Brief" des Lord Chandos, das Kunstmärchen "Frau ohne Schatten" bis hin zum "Andreas"-Fragment reicht, an dem Hofmannsthal seit 1907 bis zu seinen letzten Lebensjahren "laborierte". Die Anlayse dieses Romanentwurfs beansprucht den größten Raum - mehr als 100 Seiten - in Wiethölters Untersuchung.
Das Jahrbuch der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft tritt an die Stelle der Hofmannsthal-Blätter und der Hofmannsthal-Forschungen, die Quellen und Dokumente zu Hofmannsthals Leben und Werk vorgelegt und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem CEuvre gefördert haben. Es führt deren Konzeption weiter, soll aber zugleich den Gesprächsraum für alle jene Themen eröffnen, die sich mit dem Namen dieses Autors verbinden. Zur Diskussion steht also Hofmannsthals Schaffen und mit ihm die sogenannte klassische Moderne, ihre Herkunft und ihre Fortschreibung bis heute. Mit Hofmannsthal und seinem Werk sind Genese und Ausbildung der Moderne in besonderer Weise verknüpft. Seine Texte bilden den Ort eines Gesprächs der Kulturen. So sind methodisch Interdisziplinarität und komparatistisches Verfahren gleichermaßen vorgegeben.
In der Thematik der Beiträge präsentiert sich das breite Spektrum dessen, was Hofmannsthals Rolle in seiner Zeit ausmacht: Aufnahme der Tradition und Entwurf des Künftigen. Dieses Spektrum reicht von der Literatur in allen ihren Gattungen bis zur Philosophie, Psychologie und Psychoanalyse genauso wie von bildender Kunst, Architektur, Musik und Film zu Geschichte und Sozialgeschichte, Technik und Technikgeschichte; es bezieht Fragen der Lebenswelt und Politik ebenso ein wie Probleme der Bewusstseins- und Religionsgeschichte, der Bildungs- und Wissenschaftshistorie. So steht nicht das Werk Hofmannsthals allein im Vordergrund, sondern die Literatur in ihren Beziehungen zu anderen Literaturen und den genannten angrenzenden oder weiter entfernten Bereichen.
Hofmannsthal 1/1993
(1993)
Auch hier beweget sich in reiner Luft
nachdenklich und ergriffene Gestalt:
allein sie hängt nicht bange am Bezirk
des Tempels, hebt den leichten Fuß hinweg
und wagt sich einsam in das starrende
befremdliche Gefilde und empor
und drängt tiefathmend, einsam, großen Strom
des schicksalvollen Aethers sich ins Herz.
H.H.
Im November 1992, vier Jahre nach dem Abschluß der Abteilung 'Gedichte' in der Kritischen Ausgabe Sämtlicher Werke Hugo von Hofmannsthals, erwarb das Freie Deutsche Hochstift ein Exemplar der Erstausgabe von Rudolf Alexander Schröders erstem Gedichtband: "Unmut. Ein Buch Gesänge", mit dem Druckvermerk: "Erschienen im Verlage der Insel bei Schuster & Loeffler. Berlin SW. 46 im Oktober 1899. Gedruckt in der Officin W. Drugulin in Leipzig". Auf das Vorsatzblatt schrieb Hofmannsthal das zitierte Gedicht und versah es mit seinen Initialen. Weitere Handschriften zu diesem Text sind nicht bekannt. Offenbar hat der Dichter Schröders Lyrikband verschenkt und ihn mit seinem eigenen Gedicht für den Empfänger kommentiert. Wer der Beschenkte gewesen ist, wissen wir nicht.
[...]
wie dünn ist alles Glück! ein seichtes Wasser:
Man muß sich niederknieen, daß es nur
bis an die Schultern reichen soll.
[...]
merk auf, merk auf! Einmal darf eine Frau
so sein, wie ich jetzt war, zwölf Wochen lang,
einmal darf sie so sein!
[...]
und Wangen haben, brennend wie die Sonne.
Hofmannsthal: "Die Frau im Fenster".
Dianora zu Braccio
Trotz aller seelischen Zwiespalte habe ich nie im Leben
ein stärkeres Lebensgefühl, eine wildere Lebensfreude,
ein größeres Bedürfnis, mich ganz und gar an alles
Schöne hinzugeben gefühlt, wie jetzt. Wie nahe stehen
einem in solchen Augenblicken die Verse der "Frau im
Fenster"! Man liest sie wie eigene hinaus geschrieene
Bekenntnisse.
Alfred Walter Heymel an Eberhard von Bodenhausen.
Berlin, 3. April 1912
Eine Notiz Hofmannsthals aus dem Jahr 1918 lautet:
Takt - den wunderbarsten Takt hat die Natur in ihrer unaufhörlichen Chiffernsprache, den Tieren. Die wundervolle Uebereinstimmung bei einem Reh zwischen der Intellektualität, der horchenden neugierigen Weise, der bestimmten Geschlechtlichkeit, der Aufmerksamkeit auf alles - der Abstand vom Reh zum hinbrütenden Raubtier - die Singvögel, die unaufhörliche Sprache, dies sich Hergeben in der kleinen Geschäftigkeit, die Unsichtbarkeit des Geschlechtes.
1921 zeichnet er auf:
Tiere haben mit dem Menschen das Werk gemeinsam, aber die Rede und die Tat, diese beiden Magieen sind dem Menschen vorbehalten.
Diese beiden Bestimmungen, einmal der Eigenart der einzelnen Tier-Chiffern, einmal dem Verhältnis von Mensch und Tier geltend, sollen Orientierungshilfen bieten bei dem Versuch, die Besonderheit der Tierbilder innerhalb von Hofmannsthals poetischer Zeichensprache zu erfassen. Der Versuch ist nicht einfach.
Im Frühwerk Hugo von Hofmannsthals folgen die dramatischen Revenants einander dicht auf dem Fuße. Totentänze, Moralitäten, Lehrgedichte, platonische Dialoge - Formen vorbürgerlicher Theaterkunst, mit dem Odium des Undramatischen sämtlich behaftet, wagen sich nach langem Schweigen wieder auf die Bühne. Wiederbelebt gehen sie aus dem dramatischen Laboratorium eines frühreifen Alchimisten hervor und fordern flüchtige Aufmerksamkeit dort, wo der feste hölzerne Halt des großen Dramas zu schwanken begann. In der Reihe der poetischen Wiedergänger ist dem "Prolog", oder, in unscharfer Trennung von diesem, dem "Vorspiel" ein nicht geringer Platz angewiesen. Eigenen und fremden Stücken setzt Hofmannsthal einleitende, einstimmende Verse voran, Prologe und Vorspiele erweisen sich als irreduzible Bestandteile seiner Dramatik. So ist das Fragment »Der Tod des Tizian«, so sind "Der Tor und der Tod", "Die Frau am Fenster" mit einem poetischen Vorspann ausgestattet, so wird Schnitzlers "Anatol" eine sanfte Ouverture vorangestellt, so werden Pagen, Studenten und Dramaturgen mit einer Rede an das Publikum beauftragt und die Aufführungen griechischer Tragiker und Komödiendichter mit einem prologischen Kommentar versehen.
Hofmannsthals vielleicht dunkelste Verse, in ihrem Wortlaut auf vielerlei Weise verstanden und mißverstanden, enthalten doch eines, das nicht widerleglich ist: die Gebärde des Spätgeborenen, der nimmt und vergeudet, in dessen Händen das Überlieferte flüssig wird und sich in neuer Fülle verströmt. Dies gilt für Themen und Motive des kulturellen Erbes, dies gilt vielleicht noch mehr für die Traditionen der Gattungen, die in HofmannsthaIs Werk noch einmal aufleben. Der Einakter als literarische Form ist kein nationales, er ist ein europäisches Phänomen. Vielleicht gibt es keinen Autor der Jahrhundertwende, dem diese Tradition verfügbarer wäre als gerade Hugo von Hofmannsthal: die spanische Welt des Theaters und seiner Entreméses aus dem Goldenen Zeitalter, die französische Überlieferung von Rousseau über Musset und Carmontelle bis zu Mallarme und zu dem Flamen Maeterlinck, die englischen wie die italienischen Quellen - sie flossen für den jungen Österreicher gleichermaßen, wie ihm gleichermaßen auch die Zeugen der großen musikdramatischen Überlieferung gegenwärtig waren. Alle diese Elemente sind es, die, aus fremden Händen in seine übergehend, sich an die neue Form verschwenden, mit der er auf die Wahrnehmungskrise der Jahrhundertwende schreibend und verwandelnd reagiert: an den Einakter in seiner wiedererstandenen Gestalt als 'lyrisches Drama'.
Mit den Worten: "Die Zeit ist auf der Flucht" charakterisiert Ernst Moritz Arndt 1807 den 'Geist der Zeit'. Er diagnostiziert damit zugleich ein Welt- und Lebensgefühl, das zur bestimmenden Signatur der Moderne werden sollte; neue, immer schnellere Verkehrsmittel, die Geschwindigkeit des technischen Fortschritts und der Lebensrhythmus der modernen Metropolen führen zur Allgegenwart des 'Prinzips vitesse'. Wenn sich Marcel Proust in der Figur seines Erzählers am Ende eines geschwindigkeitsbesessenen (oder auch: geschwindigkeitsgeschädigten) Zeitalters auf die Suche nach der verlorenen Zeit macht, wirft dieser Schreib-Vorgang ein bezeichnendes Licht auf das Phänomen der Modernität. Müsste sich nicht auch die Kunst im Prozess der Geschwindigkeit auflösen und das Schicksal der Moderne teilen, mit der Zeit unmodern werden? Prousts Antwort ist hier nicht unser Thema; ihr Problemhorizont aber bestimmt das Verhältnis der Moderne zur flüchtenden Zeit.
Primärtexte Hofmannsthals und Briefausgaben werden entsprechend dem für das HJb zugrundegelegten Siglenverzeichnis zitiert. Briefe und Notizen, die erstmals in der Kritischen Ausgabe abgedruckt wurden, bleiben hier unberücksichtigt.
Einzelkritiken zu aktuellen Inszenierungen sind nur in Ausnahmefallen aufgenommen.
Für die Literatur der Jahrhundertwende werden Werke der bildenden Kunst auf eine Weise bedeutsam, die sich wesentlich von der Kunstrezeption früherer Epochen unterscheidet: Im Zusammenhang mit den literarischen Neigungen zur Symbolisierung kommt dem Bild bzw. der BiIdhaftigkeit des Ausdrucks eine zentrale Rolle zu. Bildende Kunst als Medium visueller Vergegenwärtigung erhält einen neuen Stellenwert innerhalb des literarischen Produktionsprozesses. Am Beispiel Hofmannsthals läßt sich dies besonders gut verdeutlichen, da er sich zeitlebens intensiv mit der Kunsttradition auseinandersetzte und Bild"vorgaben" in hohem Maße in sein Werk einbezog. Diese "produktive Rezeption" (G. Grimm) der bildenden Kunst bei Hofmannsthal läßt sich durch sein gesamtes literarisches Schaffen verfolgen. Sie ist nicht nur konkret faßbar in den lyrischen Dramen und den Kunstaufsätzen. Sie ist auch erkennbar in elementaren Erfahrungen (wie dem Van-Gogh-Erlebnis in den Briefen des "Zurückgekehrten" und dem Anblick der archaischen Koren im dritten Teil der "Augenblicke in Griechenland") und schlägt sich nieder in grundsätzlichen philosophischen und kunstästhetischen Fragestellungen.