830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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"Oft sagte er aus dieser Stimmung heraus: Unser Gespräch mit Franzosen bleibt doch immer das Bankett des Fuchses mit dem Storch - ewiges Mißverständnis".
Die Quelle dieses von Hofmannsthal - laut Zeugnis von C. J. Burckhardt - häufig zitierten Vergleichs der Deutschen und Franzosen mit dem Verhältnis der beiden Tiere zueinander ist bekannt; es ist die Fabel La Fontaines: "Le Renard et la Cigogne", die ihrerseits auf Äsop und Phaedrus zurückgeht. Weniger bekannt ist dagegen, daß Hofmannsthal die Fabel nicht als erster auf die beiden Völker bezogen hat, sondern daß er den Vergleich bereits bei Madame de Staël und bei Goethe vorfinden konnte. Es ist reizvoll, die jeweiligen Ausführungen miteinander zu konfrontieren und an der unterschiedlichen Akzentuierung des Vergleichs nicht nur die kulturellen Positionen der Autoren abzulesen, sondern zugleich verschiedene Spielarten des Fremdverstehens kennenzulernen.
Die "Elektra" von Hofmannsthal und Strauss veranlaßte Carl Dahlhaus zu einem Plädoyer für die klassische Tragödie sophokleischer Prägung, die weder durch die Sprachkunst Hofmannsthals noch durch die Musik von Strauss in der Oper zur Gänze wieder zugänglich wurde, ja der Musik recht eigentlich überhaupt nicht erreichbar ist. Lapidar fiel ein Satz, als stammte er selbst aus einem antiken Drama oder aus der aristotelischen Poetik: "denn an die tragische Dialektik reicht Musik nicht heran." So viel Musik - entweder für sich genommen oder in der Oper - vermag, so wenig kann sie alles ausrichten. Entgegen einer verbreiteten Überzeugung war und ist Theater mehr, als Oper sein kann. Reicht Musik indessen an die komische Dialektik heran? Diese Frage läßt sich an den 1911 in Dresden uraufgeführten "Rosenkavalier" stellen, der nicht nur das nach "Elektra" zweite Ergebnis der Gemeinschaftsproduktion von Hofmannsthal und Strauss war, sondern auch, wie man weiß, zu einem beispiellosen, weltweiten Publikumserfolg geworden ist. Opern, die danach noch Welterfolge wurden, waren, so scheint es, für lange Zeit in den allermeisten Fällen keine Komödien mehr.
Das Erfahrungsmodell, durch dessen Vermittlung in der europäischen Kultur Wirklichkeit aufgefaßt und dargestellt wird, ist dasjenige der "Lesbarkeit der Welt". Niemand war sich dessen genauer bewußt als der junge Hugo von Hofmannsthal, der in der kulturgesättigten Atmosphäre der Jahrhundertwende aufwuchs: einer Welt aus Schriftzeichen, einer Welt der Aufzeichnungen und Archive, einer Welt schließlich der universellen Verfügbarkeit allen Wissens aus allen Kulturen. In der Gestalt des Wunderkindes Hofmannsthal war auf vollkommene Weise die Sprach-, Wahrnehmungs- und Wissenskrise der Jahrhundertwende repräsentiert, die - wie keine andere Epoche der Kulturgeschichte - aus Glanz und Last der Überlieferung ihr Selbstbewußtsein wie ihre tödliche Melancholie bezog.
Um die Frage des Lesens dessen, was nie geschrieben wurde, und jene andere Frage der Nicht-Lesbarkeit der Welt, wie sie auf vielfache Weise im Werk des frühen Hofmannsthal zum Ausdruck kommen, soll es in den hier angestellten Überlegungen gehen. Im Jahr 1909, also schon im Rückblick auf jene Zeit früher Verwirrungen der neunziger Jahre, macht Hofmannsthal sich eine Reihe merkwürdiger Notizen. Sie nehmen ihren Ausgang von der Idee des Schöpferischen und der Möglichkeit solchen Schöpferturns in einer übersättigten Kultur und mögen wohl Vorstudien zu einem geplanten Aufsatz über dieses Thema sein.
Hugo von Hofmannsthal und Julius Meier-Graefe : Briefwechsel / herausgegeben von Ursula Renner
(1996)
Hugo von Hofmannsthal - Robert und Annie von Lieben : Briefwechsel / herausgegeben von Mathias Mayer
(1996)
Das Gewicht, das der Begegnung zwischen dem "Naturforscher und Erfinder" Robert von Lieben und Hofmannsthal zukommt, ist ihrer hier vorgelegten Korrespondenz nicht zur Gänze zu entnehmen. Zu wenig ist über ihr persönliches Verhältnis aus Zeugnissen Dritter bekannt, zu viele Briefe - vor allem nach der Jahrhundertwende - müssen wohl verlorengegangen sein. Was aber den Rang dieser Berührung der Sphären unmißverständlich dokumentiert, ist die Rolle, die die Figur Robert von Liebens im Werk Hofmannsthals eingenommen hat. Dreimal, so scheint es, hat sich Hofmannsthal daran gemacht, Züge des Freundes entweder in einen fiktiven Kontext hinüberzuspiegeln oder - im ergreifenden Nachruf auf den Frühverstorbenen - sein "geistiges Antlitz" für die Nachwelt festzuhalten. Die Werke, in denen Liebens Physiognomie verwandelt aufscheint, sind durch mehr als dreißig Jahre getrennt und zeigen die anhaltende Faszination durch einen Mann, der nicht zu den engsten Freunden des Dichters zählte.
Die Beschäftigung mit den bildenden Künsten ist schon für den frühen Hofmannsthal, und nicht nur in seinem Erstlingsdrama, prägend. Es dürfte also nicht überraschen, daß er dann in der späteren Phase, wo er über die Stellung des modernen Dichters prinzipiell nachdenkt, auch dessen Beziehung zur bildenden Kunst miteinbezieht. Neu ist nach der Berührung mit der italienischen Renaissance seit der Jahrhundertwende das Rembrandt-Erlebnis. Davon zeugen mehrere ab 1903 erworbene Monographien in seiner Bibliothek, Anspielungen in zahlreichen Aufsätzen wie "Shakespeares Könige und große Herren" (1905) und nicht zuletzt die Entwürfe zu dem Monolog "Rembrandts schlaflose Nacht".
In einem bislang unveröffentlichten Manuskriptblatt, das wohl auch aus dieser Zeit stammt, bringt Hofmannsthal einen Vergleich mit der Technik Rembrandts, um den Arbeitsprozeß des Dichters anschaulich zu verdeutlichen:
Ahnung und Darstellung des Dunstkreises um den Menschen herum: wie die sich kreuzenden (und das Ganze formenden) Lichtcentren bei Rembrandt, wodurch anderes als die Gestalten hervorgerufen wird.
Der Dichter ist in seinem Schaffen bestrebt, den größeren Lebenszusammenhang des Menschen zu eruieren.
In der "Allgemeinen Kunst Chronik" (Wien) findet sich in der 24. Nummer (zweites Novemberheft, S. 661f.) des Jahrgangs 1891 eine Buchbesprechung Hugo von Hofmannsthals, die er in der Folge nicht wieder erwähnt hat (etwa brieflich oder in einer der Titellisten für eigene Ausgaben). Dadurch ist sie der Aufmerksamkeit der Forschung bislang entgangen und weder bibliographisch erfaßt noch jemals wieder gedruckt worden. Es handelt sich um eine Besprechung von Ola Hanssons Aufsatzsammlung "Das junge Skandinavien". Hofmannsthal hatte im Sommer desselben Jahres in der "Kunst Chronik" bereits seinen Bericht über "Die Mozart-Zentenarfeier in Salzburg" veröffentlicht.
Alle weiteren Aufsätze aus dem Jahr 1891, soweit wir von ihnen wissen, sind in der "Modernen Rundschau" erschienen. Bemerkenswert ist der hier mitgeteilte kleine Aufsatz insofern, als er das Spektrum der von Hofmannsthal schon in seinen frühesten Arbeiten mit Aufmerksamkeit bedachten nichtdeutschsprachigen Literaturen um den Bereich der skandinavischen Literaturen erweitert. Es zeigt sich, daß sich sein Blick von Anbeginn seiner kritischen Tätigkeit auf ganz Europa richtet.
Hofmannsthal 4/1996
(1996)
Primärtexte und Briefausgaben werden entsprechend dem für das HJb zugrundegelegten Siglenverzeichnis zitiert. Briefe und Notizen, die erstmals in der Kritischen Ausgabe abgedruckt wurden, bleiben hier unberücksichtigt. Jede bibliographische Angabe erhält eine Ordnungsnummer, ausgenommenn davon sind in der Regel Rezensionen. Einzelkritiken zu aktuellen Inszenierungen sind nur in Ausnahmefällen aufgenommen.
Rudolf Kassner schrieb in einem "Avis für die künftige Philologie Hofmannsthalscher Texte", der Dichter habe das Wort "Wirklichkeit ... fast nie" gebraucht: "Um so häufiger die Worte: Gebärde, Ton, Sprache, Leben ... ". Was hier als apercu ausgesprochen wird, hat inzwischen die Qualität methodischen Verfahrens gewonnen; eine kulturwissenschaftlich geöffnete Germanistik, die den Leibraum nicht nur dichterischer, sondern selbst diskursiver Texte anvisiert, wird gerade bei Hofmannsthal auf eine Prägnanz und zugleich auf einen Variantenreichtum von Gebärden stoßen, die, auch nach den Arbeiten von Mauser und Austin, weitere Erforschung lohnen. Bezieht man in die Lektüre nicht nur die abgeschlossenen Texte, sondern auch die im Rahmen der Kritischen Ausgabe vorgelegten Dramen- und Erzählungsfragmente ein, dann wird zudem deutlich, dass Hofmannsthal mit gestischen Mustern arbeitete, die in den unterschiedlichsten narrativen Kontexten eine gewisse Stabilität bewahren und sich damit für die Beantwortung der Frage, welche schriftstellerische Strategie denn eigentlich die auseinanderstrebenden Fragmente noch zusammenhält, geradezu anbieten. Aus der Vielzahl jener Muster soll im folgenden ein relativ elementares vorgestellt werden, das seine textstrukturierende Kraft über weite Teile des Werks verbreitet.
In ihren Memoiren "Mein Leben" schreibt Alma Mahler-Werfel über ihren ersten Mann Gustav Mahler:
Er war ein Zölibatär und fürchtete das Weib. Seine Angst, 'heruntergezogen' zu werden, war grenzenlos, und so mied er das Leben ... also das Weibliche!
In diesem Satz spiegeln sich die im Wien der Jahrhundertwende zirkulierenden Weiblichkeitstheorien. Da ist die große magische Chiffre der Zeit: das Leben, als eine untere, gefährliche Macht, der man erliegen kann. Da ist ferner der Dualismus, dessen vielfaltige Varianten das Denken der Zeit bestimmen: Geist und Leben, Sittlichkeit und Sinnlichkeit, Über-Ich. Es sind die Antipoden, in denen die Jahrhundertwende die überkommenen Prinzipien der Moral und den kulturellen Bestand der Tradition den natürlichen, triebhaften Kräften des Lebendigen entgegensetzt. Da werden schließlich diese Antipoden in einer räumlichen Opposition angeordnet und in einer simplen Gleichung auf die Geschlechter verteilt. Man könnte meinen, Almas Urteil über Mahler sei inspiriert von Otto Weiningers "Geschlecht und Charakter" von 1903, besonders von dessen Vorstellung, daß das Leben den Mann von seiner Pflicht, von der Befolgung des kategorischen Imperativs abhalten könne und daß dieses Leben im Weiblichen inkarniert sei; dieses führt nach Weininger ein seelenloses, rein triebhaftes Dasein und zieht den Mann herunter, sofern er nicht zölibatär - in Weiningers Terminologie "keusch" - lebt.
"Meine Heimat habe ich behalten", schrieb der 52jährige Hofmannsthal 1926 an den Schweizer Diplomaten Carl Jakob Burckhardt, "aber Vaterland habe ich keins mehr, als Europa" - und er fügte hinzu: "ich muß dies fest erfassen, nur die Klarheit bewahrt vor langsamer Selbstzerstörung. " Selbstzerstörung meint: "den Rest [des] Lebens in unfruchtbarer Verbitterung" darüber zu verlieren, daß mit dem Zusammenbruch Österreichs so viel Erhaltenswertes und Bewahrenswertes vernichtet wurde. Das Kriegsende hatte Hofmannsthal tief erschüttert: "Welche Welt, in die wir geraten sind", schrieb er: "Das nackte Gebälk tritt hervor und zittert bis in die Grundfeste." In den Jahren, die folgten, wurde ihm zur Gewißheit, daß sich nicht nur die europäische Landkarte verändert hatte, sondern daß die politischen und sozialen Umwälzungen, die dem verlorenen Krieg gefolgt waren, eine neue geistige Fundierung des alten Kontinents erforderten. Unablässig bewegte ihn die Frage: Was kann politisch und kulturell den Weg in die Zukunft weisen? Die Antwort führte ihn immer wieder zu Europa. Die 'Idee Europa' wurde für ihn zum "umfassendsten und wichtigsten Begriff" seiner Existenz: "[...] ich sehe nicht, welcher der Ströme des wirklichen geistigen Lebens [...] nicht durch eine mutige und nüchterne Geistesoperation gezwungen werden könnte, in das Becken dieses großen Begriffes zu münden."
Im Frühjahr 1900 verbrachte Hugo von Hofmannsthal einige Wochen in Paris. Der Aufenthalt in der französischen Metropole, die ganz im Zeichen der Weltausstellung stand, wurde für Hofmannsthal zu einer Phase dichter Erlebnisse und Begegnungen. Die hier gewonnenen Impulse schlugen sich in einer Flut von Einfallen nieder, deren Verflüchtigung Hofmannsthal nur mit Mühe vorbeugen konnte, wie es in einem Brief vom 19.1.1900 an Ria Schmujlow-Claassen heißt: Ich habe die Skizze von 4 oder 6 Erzählungen wie im Fieber hingeschrieben, ein Ballet entworfen, ein Vorspiel zur Antigone in Versen ausgeführt (für Berlin), von andern kleinen lyrischen Stücken ein Scenarium gemacht und sitze zwischen Trümmern, halbfestgehaltenen Gestalten, Details wie Rodin zwischen Gypshänden, Füßen und abgebrochenen Flügeln [ ... ]
Seine Rückkehr aus Paris kündigte Hofmannsthal in demselben Schreiben "auf einem Wagen voll Manuscripten im Mai" an. Zu den "Trümmern", die Hofmannsthal auf seinem 'Musenwagen' aus Paris mitbrachte, gehören die Bruchstücke eines "dreitheiligen Spiegels": die dramatischen Entwürfe "Leda und der Schwan", "Das Festspiel der Liebe" und "Der Besuch der Göttin", die gleichzeitig nebeneinander entstanden sind. Unter dem Titel "Spiele der Liebe u. des Lebens" sollten diese Dramen im letzten von drei geplanten Bänden mit Werken aus den Jahren 1889 und 1900 zusammengefaßt werden.
Am Anfang allen literarischen Sprechens steht eine Schwellenerfahrung: der Schritt aus der erlebten Welt, dem vorsprachlichen Ereignis, aber auch dem abgenutzten Alltagsdiskurs in den Raum des Textes, der zunächst ein Raum des Schweigens ist. Es scheint, als gewinne, je weiter der Prozeß der Moderne voran schreitet, diese Schwellenerfahrung zunehmend an Intensität und als wüchsen parallel hierzu die Schwierigkeiten auf seiten des Autors, den Raum des Schweigens mit der Sprache seines Textes zu füllen. Die Erfahrung der Schwelle kann so stark werden, daß der Schritt in den Text die Qualität eines mystischen Durchbruchserlebnisses gewinnt, so etwa bei Peter Handke: "da ist noch jedesmal neu und vielleicht sogar gesteigert, eine Schwelle zu überwinden, von der ich glaube, daß sie eine verbotene Pforte ist - nicht 'glaube', sondern von der ich empfinde. Was ich mir eigentlich nicht erklären kann." Wenn Handke im Fortgang des großen Gesprächs mit Herbert Gamper dennoch einen Eindruck von der Anstrengung zu vermitteln versucht, ...
Im Jahr 1895 verherrlichte Annunzio bei irgend einem festlichen Anlaß die Stadt Venedig in einer Rede, die sich nicht mit den Reden vergleichen läßt, welche man bei ähnlichen Anlässen zu halten pflegt. Er gab dieser Rede, als sie später veröffentlicht wurde, die Überschrift: "Allegorie des Herbstes", und in der That bildet ihren Inhalt die Vision und Schilderung einer hochzeitlichen Vereinigung Venedigs mit dem Herbst. Man fühlt sich an jene frostigen Personificationen erinnert, an jene Kunstform, deren sich drei vergangene Jahrhunderte bis zur völligen Erschöpfung ihres Reizes, ja über die Grenze des Erträglichen bedienten.
Und wirklich scheinen sich die gewaltigsten visionären Augen und der kühnste an unerhörten Gleichnissen reichste Freund, den die lateinischen Völker im jetzigen Zeitraum besitzen, endgültig dieser majestätischen lateinischen Kunstform zugewandt zu haben: der gewaltigen, das gesammte Dasein umschließenden Allegorie, den prunkvoll hinrauschenden Triumphzug, der aus blendenden Gleichnissen aufgethürmten Ehrensäule. Seit einigen Jahren sehe ich kein Werk von ihm entstehen, das nicht dastünde wie eine Trophäe.
Hofmannsthal 2/1994
(1994)
Primärtexte Hofmannsthals und Briefausgaben werden entsprechend dem für das HJb zugrundegelegten Siglenverzeichnis zitiert. Briefe und Notizen, die erstmals in der Kritischen Ausgabe abgedruckt wurden, bleiben hier unberücksichtigt.
Einzelkritiken zu aktuellen Inszenierungen sind nur in Ausnahmefallen aufgenommen.
Mit den Worten: "Die Zeit ist auf der Flucht" charakterisiert Ernst Moritz Arndt 1807 den 'Geist der Zeit'. Er diagnostiziert damit zugleich ein Welt- und Lebensgefühl, das zur bestimmenden Signatur der Moderne werden sollte; neue, immer schnellere Verkehrsmittel, die Geschwindigkeit des technischen Fortschritts und der Lebensrhythmus der modernen Metropolen führen zur Allgegenwart des 'Prinzips vitesse'. Wenn sich Marcel Proust in der Figur seines Erzählers am Ende eines geschwindigkeitsbesessenen (oder auch: geschwindigkeitsgeschädigten) Zeitalters auf die Suche nach der verlorenen Zeit macht, wirft dieser Schreib-Vorgang ein bezeichnendes Licht auf das Phänomen der Modernität. Müsste sich nicht auch die Kunst im Prozess der Geschwindigkeit auflösen und das Schicksal der Moderne teilen, mit der Zeit unmodern werden? Prousts Antwort ist hier nicht unser Thema; ihr Problemhorizont aber bestimmt das Verhältnis der Moderne zur flüchtenden Zeit.
Hofmannsthals vielleicht dunkelste Verse, in ihrem Wortlaut auf vielerlei Weise verstanden und mißverstanden, enthalten doch eines, das nicht widerleglich ist: die Gebärde des Spätgeborenen, der nimmt und vergeudet, in dessen Händen das Überlieferte flüssig wird und sich in neuer Fülle verströmt. Dies gilt für Themen und Motive des kulturellen Erbes, dies gilt vielleicht noch mehr für die Traditionen der Gattungen, die in HofmannsthaIs Werk noch einmal aufleben. Der Einakter als literarische Form ist kein nationales, er ist ein europäisches Phänomen. Vielleicht gibt es keinen Autor der Jahrhundertwende, dem diese Tradition verfügbarer wäre als gerade Hugo von Hofmannsthal: die spanische Welt des Theaters und seiner Entreméses aus dem Goldenen Zeitalter, die französische Überlieferung von Rousseau über Musset und Carmontelle bis zu Mallarme und zu dem Flamen Maeterlinck, die englischen wie die italienischen Quellen - sie flossen für den jungen Österreicher gleichermaßen, wie ihm gleichermaßen auch die Zeugen der großen musikdramatischen Überlieferung gegenwärtig waren. Alle diese Elemente sind es, die, aus fremden Händen in seine übergehend, sich an die neue Form verschwenden, mit der er auf die Wahrnehmungskrise der Jahrhundertwende schreibend und verwandelnd reagiert: an den Einakter in seiner wiedererstandenen Gestalt als 'lyrisches Drama'.
Im Frühwerk Hugo von Hofmannsthals folgen die dramatischen Revenants einander dicht auf dem Fuße. Totentänze, Moralitäten, Lehrgedichte, platonische Dialoge - Formen vorbürgerlicher Theaterkunst, mit dem Odium des Undramatischen sämtlich behaftet, wagen sich nach langem Schweigen wieder auf die Bühne. Wiederbelebt gehen sie aus dem dramatischen Laboratorium eines frühreifen Alchimisten hervor und fordern flüchtige Aufmerksamkeit dort, wo der feste hölzerne Halt des großen Dramas zu schwanken begann. In der Reihe der poetischen Wiedergänger ist dem "Prolog", oder, in unscharfer Trennung von diesem, dem "Vorspiel" ein nicht geringer Platz angewiesen. Eigenen und fremden Stücken setzt Hofmannsthal einleitende, einstimmende Verse voran, Prologe und Vorspiele erweisen sich als irreduzible Bestandteile seiner Dramatik. So ist das Fragment »Der Tod des Tizian«, so sind "Der Tor und der Tod", "Die Frau am Fenster" mit einem poetischen Vorspann ausgestattet, so wird Schnitzlers "Anatol" eine sanfte Ouverture vorangestellt, so werden Pagen, Studenten und Dramaturgen mit einer Rede an das Publikum beauftragt und die Aufführungen griechischer Tragiker und Komödiendichter mit einem prologischen Kommentar versehen.