900 Geschichte und Geografie
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Was soll es bedeuten, dass etwas geschichtlich ist und nicht nur vergangen? Diese nur scheinbar harmlose Frage führt in ein Labyrinth verschiedener Antworten. Hier tut sich eine oft behauptete und ebenso oft bestrittene Beziehung von Geschichtlichkeit und Unsterblichkeit als Leitlinie auf. Im 18. und 19. Jahrhundert entsteht auf eher zufällige Weise eine Ideenkonstellation, in der die Unsterblichkeit der menschlichen Gattung und der einzelnen menschlichen Seele gegeneinander ausgespielt, kombiniert oder auch gemeinsam abgewiesen werden. Erschließbar durch Lektüren geschichtsphilosophischer Beiträge von Leibniz, Nietzsche, Benjamin und anderen, scheint sich für das 20. Jahrhundert zunächst abzuzeichnen, dass die Verschränkung von (Un-)Sterblichkeitsbehauptungen verschwunden ist. Doch tatsächlich hat sie sich vor allem verwandelt und verlagert. Insbesondere zeigt sich im modernen Verständnis von Normen als in die Unsterblichkeit überführten Werten ein unterschwelliger Fortbestand der älteren Konstellation. Die Studie erarbeitet eine neuartige Konzeption von Historizität, Historisierung und deren Zusammenhängen in kulturellen Erscheinungen wie der Totenfürsorge, des Humanitarismus und der Lebensrettung. Damit lassen sich zeitgenössische Welt- und Krisendeutungen bis hin zu derjenigen des Anthropozäns neu erklären.
Der eurozentrische Blick des 18. und 19. Jahrhunderts, den es hier zu untersuchen gilt, definiert und interpretiert das Wahrgenommene über vergleichende Studien. Stets steht eine Differenz in der Subjekt-Objekt Beziehung zwischen Beobachtendem und Wahrgenommenem. Dies gelingt am ehesten, wenn das Objekt der Betrachtung abstrahiert und verallgemeinert und zugleich aus einer sicher wirkenden Distanz beschrieben wird. Beschreibungen von Menschen verschiedener Herkunft basieren auf Vergleichen, deren Kriterien die Untersuchungsergebnisse von vornherein festlegen. Sie fokussieren sich auf Körpermerkmale und deren unterstellte Einflüsse auf intellektuelle und kulturelle Entwicklungsmöglichkeiten. Sie betrachten gesellschaftliche Strukturen und ziehen daraus ihre verallgemeinernden Schlüsse. Solche Untersuchungen entstehen auf unterschiedlichen Ebenen: Im bildungsbürgerlichen Haushalt finden sich populärwissenschaftliche Publikationen wie Lexika für Erwachsene und Kinder. Die sich etablierende Anthropologie bedient sich ebenfalls der Vergleichsmodelle in der Beschreibung des Andersseins. Versuche, die Perspektive zu ändern und einen kulturellen Transfer überhaupt erst zu denken, lenken den Blick auf ein weiteres wichtiges Phänomen der Wahrnehmung in Selbsterkenntnis. Als Quellentexte und Anschauungsmaterialien sind solche Publikationen zusammengestellt, in welchen die Differenz zwischen Europäer:innen und Afrikaner:innen herausgearbeitet wird. Der afrikanische Kontinent gewinnt im 19. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung. Das Innere des Kontinents lockt Forschungsreisende, Missionare und später Kolonialmächte an. Aus den Begegnungen und Beschreibungen leiten sich nicht nur Bilder, sondern zugleich Argumentationslinien für europäische Handlungsstrategien ab, die bis heute nachwirken.
Honey and other bee products were likely a sought-after foodstuff for much of human history, with direct chemical evidence for beeswax identified in prehistoric ceramic vessels from Europe, the Near East and Mediterranean North Africa, from the 7th millennium BC. Historical and ethnographic literature from across Africa suggests bee products, honey and larvae, had considerable importance both as a food source and in the making of honey-based drinks. Here, to investigate this, we carry out lipid residue analysis of 458 prehistoric pottery vessels from the Nok culture, Nigeria, West Africa, an area where early farmers and foragers co-existed. We report complex lipid distributions, comprising n-alkanes, n-alkanoic acids and fatty acyl wax esters, which provide direct chemical evidence of bee product exploitation and processing, likely including honey-collecting, in over one third of lipid-yielding Nok ceramic vessels. These findings highlight the probable importance of honey collecting in an early farming context, around 3500 years ago, in West Africa.
Diakonie, Mission, Kolonialismus : Ambivalenzen der neueren Christentumsgeschichte auf der Spur
(2023)
Während die Globalgeschichte der christlichen Mission zunehmend kritisch beurteilt wird, gilt das diakonische Handeln einzelner exzeptioneller Persönlichkeiten wie Albert Schweitzer (1875-1965) weiterhin als vorbildlich. Doch so einfach ist es nicht. Ein Rückblick auf kirchenhistorische Erkundungsreisen zu Albert Schweitzers jungen Jahren im Elsass und zur Verflechtung von Kolonialismus und Missionsgeschichte in Windhuk, Namibia.
Aspekte Schwarzer Geschichte(n) in "Berlin Global" : eine Führungs- und Ausstellungsreflexion
(2024)
Februar ist Black History Month und damit der ideale Zeitpunkt, eine Blogserie über Berliner Orte zu beginnen, die wir - Gianna Zocco und Sandra Folie - im Zuge unseres neuen Forschungsprojekts "Schwarze Narrative transkultureller Aneignung" besuchen: Museen, Theater, Verlage, Archive usw., die für eine afroeuropäisch fokussierte Literatur- und Kulturforschung relevant sind und mit denen wir ins Gespräch kommen wollen. Die erste Exkursion führte mich zur Ausstellung BERLIN GLOBAL im Humboldt Forum, die zu zeigen versucht, "wie die Stadt und ihre Menschen mit der Welt verbunden sind". Sie beruft sich dabei auf eine vielstimmige, partizipative Konzeption und Umsetzung und beschäftigt sich intensiv mit dem Thema des Kolonialismus und seinen Nachwirkungen. Unter dem Titel "Sichtbar werden" führten eine externe afrodeutsche Expertin und eine Museumsvermittlerin im Gespräch - miteinander, aber auch mit der Gruppe - durch die Spuren Schwarzer Geschichte(n) in der Ausstellung. Welche Aspekte Schwarzer Geschichte(n) müssen aber in einer solchen Ausstellung erst im Rahmen einer speziellen Führung "sichtbar werden", fragte ich mich vorab. Und würde sich die Führung mit ihrem Anspruch der Sichtbarmachung als ein Akt des 'narrating back' und damit der partiellen oder temporären Aneignung eines (zu) weiß kodierten Raumes wie des Humboldt Forums begreifen lassen? Die Expertin, die den thematischen Fokus setzte, war Tanja-Bianca Schmidt, freie Kuratorin und Kunsthistorikerin an der TU Dresden mit den Schwerpunkten Black Identity, rassismuskritische Kunstgeschichte, Ästhetik der Migration und Postkoloniale Theorie. Zusätzlich zu ihrer beruflichen Expertise brachte sie ihre persönlichen Erfahrungen als Schwarze Deutsche mit ein. Sophie Eliot, die als Outreach-Spezialistin für das Stadtmuseum Berlin tätig ist und sich in der diskriminierungskritischen und -sensiblen Museumsarbeit verortet, war ihre Gesprächspartnerin.
• Zahlen und Maßsysteme sind bereits aus dem antiken Ägypten und aus Mesopotamien belegt. Im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung haben sich mit der hierarchisierten Gesellschaft auch Zahl- und Schriftzeichen entwickelt. Sie dienten vor allem der Zuteilung von Ressourcen.
• Die 13 Bücher der »Elemente« von Euklid (3. Jahrhundert vor unserer Zeit) sind die früheste erhaltene axiomatisch-deduktiv aufgebaute Sammlung mathematischen Wissens. Die Begeisterung für dieses Werk hielt über Jahrhunderte an.
• Die Ordnung von Beobachtungen durch die mathematische Erfassung und Auswertung von Daten ist in Wissenschaft und Alltag selbstverständlich. Mathematische Techniken der Statistik und Kartierung halfen Dr. John Snow im 19. Jahrhundert, die Ausbreitung der Cholera zu erforschen und zu bekämpfen.
• Trotzdem stößt die Mathematik bei der Schaffung von Ordnungen auch an Grenzen: Denn es gibt weder eine Garantie noch eine Anleitung für deren bestmögliche Nutzung. Dies zeigen nicht zuletzt Krisen wie die Coronapandemie oder die Klimakrise.
Irgendwann ist jede Revolution zu Ende. An die Stelle revolutionärer Unordnung tritt eine neue Ordnung. Wann das genau passiert, ist nicht einfach festzustellen. Das liegt nicht nur daran, dass die Forschung sich viel mehr für die Ursachen und Anlässe von Revolutionen interessiert. Es liegt auch daran, wie Revolutionen enden.
Newsletter Wintersemester 2023/2024 / Frobenius-Institut für kulturanthropologische Forschung
(2023)
Im Folgenden soll ein kurzer Überblick gegeben werden über die schiitische Sicht der frühislamischen Geschichte sowie über einige Phänomene, die sich daraus ergeben haben. Sie sind Hindernisse einer islamischen Einheit und müssten, sollte ein ernsthafter Versuch einer solchen verfolgt werden, mit deutlich mehr Mut angegangen werden. Dabei geht es hier weniger darum, alle Unterschiede zwischen Schia und Sunna aufzuzeigen, als sich auf die wirklich problematischen Felder zu konzentrieren, die nicht Folgen späterer, oft zufälliger Entwicklungen sind, sondern Weichenstellungen, die in der Frühgeschichte zu verorten sind. Bisher werden diese neuralgischen Punkte bei den Versuchen einer islamischen Ökumene, um diesen sehr christlich belegten Begriff an dieser Stelle doch einmal zu verwenden, meist umgangen, weil man um ihre Brisanz und Sprengkraft weiß. Doch müsste die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Geschichtsbildern erfolgen, da sie ein wichtiges innerislamisches Differenzkriterium bilden; zumindest sollte man sich klar darüber sein, dass es unterschiedliche Geschichtsbilder gibt und sie ein Differenzkriterium bilden.
Die Organisation SOS Children's Villages (im Folgenden: SOS) ist eine der größten und ältesten nicht-staatlichen, überkonfessionellen Kinderhilfsorganisationen der Welt. Heute sind mehrere Generationen in Einrichtungen der in 136 Ländern tätigen Organisation aufgewachsen oder haben von ihren Hilfsprogrammen profitiert. Seit der Gründung im Jahr 1949 liegt der Schwerpunkt auf "Kindern und Jugendlichen, die keine elterliche Fürsorge haben oder Gefahr laufen, diese zu verlieren". Trotz der langjährigen weltweiten Präsenz haben sich bisher nur wenige ethnologische Arbeiten mit der Organisation SOS, ihrem Modell und vor allem ihren Teilnehmern beschäftigt.
Die vorliegende Arbeit will diese Lücke schließen. Sie zeigt anhand exemplarischer, biographisch-narrativer Interviews und auf einer multi-sited ethnography basierenden Analysen, wie einzelne Akteure im SOS-Kontext ihrer Vergangenheit begegnen, wie sie Erfahrungen - aus der Zeit unter der Obhut von SOS, aber auch aus der Zeit davor - einordnen und wie diese ihre Gegenwart und auch Zukunft beeinflussen bzw. wie sie heute mit diesen Erinnerungen umgehen. Ziel dieser Arbeit ist es außerdem, am Beispiel von SOS als Entwicklungszusammenarbeit (EZ) im Bereich Kinder, Jugend und Familie zu untersuchen, wie sich EZ-Projekte auf das Leben, die Sichtweisen und Biografien verschiedener Akteure sowie auf bestimmte lokale Zusammenhänge auswirken und wie wiederum Handlungen und individuelle Einstellungen von Akteuren sowie bestimmte lokale Kontexte solche Projekte beeinflussen.
Hierfür habe ich über einen Zeitraum von elf Monaten zwischen Juni 2019 und Mai 2020 an vier Standorten der Organisation in Kenia und Tansania rund 150 Interviews mit verschiedenen Zielgruppen (mit SOS-Mitarbeitern, ehemaligen SOS-Teilnehmern, aktuellen SOS-Teilnehmern sowie Gemeindevertretern) geführt.
Die Studie liefert also Ergebnisse auf mehreren Ebenen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Akteure meiner Untersuchung ihrer Vergangenheit und den Erinnerungen daran im Erwachsenenalter durch Aneignungsprozesse begegnen, die es ihnen ermöglichen, diese Erinnerungen und Erfahrungen kohärent in ihre eigene Biografie einzuordnen. Dieser Umgang mit der eigenen Geschichte ermöglicht es den ehemaligen SOS-Teilnehmern, sich die Struktur, die ihrer Kindheit zugrunde lag, nämlich die der internationalen Hilfsorganisation SOS, anzueignen und darüber Handlungen und Verhaltensweisen auch in ihrer Gegenwart und Zukunft zu definieren und zu legitimieren, und SOS als Zentrum ihrer Kindheit auch im Erwachsenenalter auf unterschiedliche Weise in Besitz zu nehmen. Dabei erfüllen sie nicht immer die Erwartungen, die von organisatorischer Seite an ihr Verhalten oder ihre Interpretation von Organisationskonzepten und -prinzipien gestellt werden. Da durch das Organisationsmodell evozierte Probleme wie fehlende Zugehörigkeiten oder Schwierigkeiten beim Übergang in die Selbstständigkeit durch lebensweltliche Diskrepanzen im Vergleich zu lokalen Kontexten über die Lebenswege und Erfahrungen der (ehemaligen) Teilnehmer sichtbar werden, schreibe ich nicht zuletzt den Teilnehmern und ihrem Umgang mit diesen Erfahrungen einen Anteil an den Transformationsprozessen zu, in denen sich die Organisation aktuell befindet.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben rasante technologische Entwicklungen die Seefahrt insgesamt und damit auch das nautische Rettungswesen von Grund auf verändert. Mit motorisierten Booten, Funk- und Radartechnik - und später Rettungsflugzeugen - wird es möglich, neue notlindernde und lebensrettende Praktiken zu etablieren, die Effizienz der Maßnahmen zu steigern und zudem den geografischen Radius der Einsätze erheblich auszuweiten. Weniger offenkundig ist, in welcher Weise diese Entwicklungen auf das Gefüge der Normen und Werte zurückwirken, das der humanitären Seenotrettung zugrunde liegt, und inwiefern sie daran beteiligt sind, den Schiffbruch als einen bestimmten "Situationstyp" zu definieren. Diese Aspekte bilden den Ausgangspunkt meiner Untersuchung, die der Frage nachgeht, wie sich die Herausbildung von Normen und normsetzenden Paradigmen alternativ zu den großen Erzählungen des Humanitarismus beschreiben lässt.
'Die Tradition der Unterdrückten', schreibt Walter Benjamin in seiner achten These "Über den Begriff der Geschichte", 'belehrt uns darüber, daß der 'Ausnahmezustand', in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht'. Die nachstehenden Bemerkungen sind der Versuch, einen solchen Begriff zu entdecken. Weil sie um ein Problem der Hermeneutik kreisen, teilen sie in gewisser Weise die unangenehme, aber notwendige Eigenschaft der Hermeneutik, immer anzusetzen, nie aber anzukommen. Die Gefallenen haben ihr Vorrecht auf die Wahrheit verloren. Ich unternehme Streifzüge, keine Vermessungen der Welt unter dem Mond.
This article explores some of the moral meanings vested in the concept of historicization. With the help of a discussion of Jules Michelet's notions about the "duty of the historian" - to rescue the dead from oblivion - it becomes possible to flesh out these moral meanings and to insert them into a series of historical contexts. These contexts comprise the cultural history of humanitarian morality in the eighteenth and nineteenth centuries; and the intellectual and cultural histories of ideas of immortality, memory, forgetting, and the valorization of the human life. The resulting meaning of historicization is that of a humanitarianism for the dead, with all the ambiguities this position entails.
Newsletter Wintersemester 2022/2023 / Frobenius-Institut für kulturanthropologische Forschung
(2022)
Ṭarīqas (die mystischen Orden) in der Tradition des Sufismus, welche neben der äußeren Dimension der Religion ihre innere, spirituelle Tiefe und ihre Gemütszustände sowie den charakterlichen Reifungsprozess umfasst, treten im Hinblick auf ihre Lehre als auch auf ihren institutionellen Charakter durch mancherlei Begriffe und Elemente hervor. Während der Gründer einer der ältesten ṭarīqas „Rifā`iyya“ Ạhmad ar-Rifā´ī (gest. 578/1182) für seine Armut und Demut berühmt war, sind die treibenden Kräfte der auf Mawlānā Jalāluddīn Rūmī (gest. 672/1273) zurückgehenden Mawlawiyya göttliche Liebe und Sehnsucht. Gottesdienst und Ausdauer in den Handlungen sind Prinzipien, die bei der Naqšbandiyya im Vordergrund stehen. Auch wenn all diese Elemente als unverzichtbare Prinzipien des Sufismus für alle ṭarīqas gültig sind, ist erkennbar, dass sich bei jedem einzelnen Pfad ein bestimmtes Wesensmerkmal hervorhebt. Diese Pfade, die trotz unterschiedlicher Benennungen und Kennzeichen sowie eigenständiger Methoden und Praktiken ein und denselben Geist aufweisen wie auch denselben Zweck verfolgen, werden unter dem Oberbegriff ṭarīqāt al-Muḥammadīyya (die mohammedanischen Wege) zusammengefasst. Sie alle stimmen darin überein, dass sie den Propheten als das einzige und vollkommenste Vorbild ehren. Die im 16. Jahrhundert auf dem Herrschaftsgebiet der Osmanen entstandene ṭarīqa Ǧalwatiyya wird auf den Terminus ǧalwa zurückgeführt. Während ḫalwa die Isolation und Klausur beschreibt, ist mit dem Begriff ǧalwa, was in Erscheinung treten bedeutet, im Sufismus die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gemeint. Gemäß den Sufis kommen die ersten Ausdrucksformen von ḫalwa und ǧalwa an der Person des Propheten zum Vorschein. Während er vor seiner Berufung zur Prophetie die sogenannte ḫalwa in Form vom Rückzug von der Gesellschaft in die Höhle Ḥirā´ bevorzugte, entschied er sich für die ǧalwa und begab sich unters Volk, nachdem er den Auftrag der Verkündung und Einladung erhalten hatte. Die Grundsätze der Ǧalwatiyya, die durch die Person und das Wissen von Mehmed Muhyiddîn Üftâde (gest. 1580) regelrecht verkörpert werden, wurden von dessen Schüler Aziz Mahmûd Hüdâyî (1541-1628), der vielen osmanischen Sultanen, Oberbefehlshabern und Scheichulislams als spiritueller Führer diente, dokumentiert. Das Werk, das in der Zeit der dreijährigen spirituellen Erziehung Hüdâyîs durch seinen Scheich Üftâde in Bursa aus dessen [Hüdâyîs] Notizen in Form von Tagebucheinträgen zustande kommt und unter dem Titel Vâkıât-ı Üftâde bekannt ist, bildet regerecht das Standardwerk der ṭarīqa und bietet die sicherste und umfassendste Quelle über das Leben und die Sufi-Lehren Üftâdes sowie über die Methoden und Grundsätze seines Pfades.
Gemäß Üftâde, der das Prinzip der ǧalwa nahezu mit dem tawḥīd (Bekennen der Einheit Gottes) gleichsetzt, ist es gut, sich in das Gesellschaftsleben einzubringen. Üftâde glaubte fest daran, dass sein Pfad ein prophetischer Pfad sei, er auf die Welt gekommen sei, um der Menschheit nützlich zu sein und dass die Gotteserkenntnis (ma‛rifa) sowie die Vervollkommnung (kamâl) lediglich im Diesseits vollendet werden können.
Souvenir und Andenken
(2006)
Souvenir und Andenken sind [...] Mediatoren einer Umwegerinnerung: und dies, weil sie "mit dem ursprünglichen Sinneseindruck" metonymisch, d.h. als Fragment zusammenhängen. Charakteristisch für Souvenir und Andenken ist, dass sie, als Reststücke einer Person, eines Ortes, einer Situation, eines Erlebnisses, ein Versprechen enthalten, nämlich eine bislang im Rest-Fragment nur angedeutete Geschichte ganz zu erzählen, wiederzubeleben, wiederzuinszenieren. Dass dieses Versprechen nur sehr schwer und selten eingelöst werden kann, ist der Zwischenzeit geschuldet.