900 Geschichte und Geografie
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Es lag, jedenfalls seit dem 43. Historikertag im Jahr 2000, in der Luft: Geschichte hat etwas mit Gehirn zu tun. Für das Gehirn zuständig ist Wolf Singer, für die Geschichte Johannes Fried. Das Rendezvous der beiden Wissenschaften und Wissenschaftler hat für beträchtlichen Wirbel in der Tages- und Fachpresse gesorgt, hat in der Historikerzunft Beckmesser ebenso auf den Plan gerufen wie Trittbrettfahrer und Beifallklatscher. Im Jahr 2002 haben Singer und Fried – sorgsam getrennt – die Quintessenz ihrer Erkenntnisse publiziert. Der von beiden konsentierte Befund ist so schlicht wie richtig: Alle Wahrnehmung beruht auf hochselektiven neuronalen Schaltungen im Gehirn; alles Erinnern ist das ebenfalls hochselektive Ergebnis von Vergessen. Das gilt für historische Akteure ebenso wie für spätere und gegenwärtige Beobachter, so dass "es keine sinnvolle Trennung zwischen Akteuren und Beobachtern gibt, weil die Beobachtung den Prozess beeinflusst, selbst Teil des Prozesses wird". Eine infinite, hin und wieder durch willkürliche Zeitsetzung scheinbar unterbrochene Kette von Beobachtungen und Beobachtungen von Beobachtungen – das nennt man "Geschichte". ...
Nach Hause…
(2004)
Read only memory. Eine CD ROM ist ein Festwertspeicher. Die Daten kann man lesen, aber nicht verändern, ergänzen oder löschen. Man kann die Scheibe zertrümmern oder die Platte zerstören, aber die Daten manipulieren kann man nicht. Eine CD ROM schützt sich selbst vor Variation. Die Erfindung dieser Technik hat eine neue, kleine Gewissheit in der chronisch unsicheren Welt geschaffen. Was auf der CD ROM steht, steht fest. Und da viel auf ihr stehen kann – ganze Bibliotheken der Vergangenheit –, steht viel fest. Das macht Historiker glücklich. Drohen ihnen schon die Fakten abhanden zu kommen, verfügen sie immerhin noch über Festwerte, die aus einer zuverlässigen "Quelle" (Oexle, S. 165) fließen. ...
Es muss die Steuererklärung von 1982 oder 1983 gewesen sein. Unter den steuermindernden "Werbungskosten" befand sich eine Liste mit wissenschaftlichen Büchern, darunter Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Das Finanzamt teilte mir mit, dieser Titel könne die Steuerschuld nicht reduzieren, da es sich "offenkundig um einen Roman" handele. So aussichtslos es war, das Finanzamt zu überzeugen, dass das Buch etwas mit Systemtheorie und Systemtheorie etwas mit Wissenschaft zu tun habe, so hoffnungslos erschien es lange, mit Historikern über Systemtheorie ins Gespräch zu kommen. ...
Drei wissenschaftshistorische Analysen haben sich in je unterschiedlicher Methodik den Feldern der Kriminologie und der Kriminalistik genähert. Silviana Galassi, Richard F. Wetzell und Peter Becker bieten den überzeugenden Beleg dafür, dass die Analyse der Kriminalität und ihrer gesellschaftlichen Verarbeitung weder den Kriminologen noch den Strafrechtlern allein überlassen werden darf. Die historischen Forschungsarbeiten zwingen die traditionelle Kriminologie und die normative Strafrechtswissenschaft zur Kenntnisnahme, dass die Wissenschaftsrichtung "Kriminologie" (Entstehungsbedingungen und Verarbeitung von Kriminalität) und schon gar die "Kriminalistik" (polizeiliche Tatnachweistechnologien) seit jeher im Ordnungsdienst des Staates stehen und – jedenfalls in den zugrunde gelegten Untersuchungszeiträumen – nicht den Anspruch selbst bestimmter Wissenschaft erfüllen. ...
Der Erforschung der Bronzestatuetten der Frühen Neuzeit im 19. Jahrhundert wurde bisher wenig Beachtung geschenkt. Die erste umfassende stilkritische Gattungsmonographie mit dem Titel „Die Italienischen Bronzestatuetten der Renaissance“ wurde von Wilhelm von Bode (1845 - 1929) verfasst. Er veröffentlichte diese kurz nach der Eröffnung des neu gebauten Kaiser-Friedrich-Museums in Berlin 1904. Maßgeblich durch Bode geprägt, zeigte dieses Museum erstmals Bronzestatuetten der Renaissance und des Barock als eine eigenständige Skulpturengattung. Die wissenschaftshistorische Frage nach der Entstehung der stilkritischen Kleinbronzenforschung zwischen 1871 und 1904 steht daher im Kontext der Berliner Museums- und Sammlungsgeschichte, mit dem Schwerpunkt auf der Erwerbung der Kleinbronzen, deren Zuschreibung und Präsentation. Ein 1883 veröffentlichtes Konzept für ein Berliner „Renaissancemuseum“ verknüpfte mit der Sammlungspräsentation die Erwartung, der ästhetischen Selbstvergewisserung ihrer Betrachter zu dienen. Die Kunst der Renaissance, darunter auch die Bronzestatuetten, war dabei Sinnbild des modernen bürgerlichen Autonomiebestrebens. Diesem Leitbild stand die Arbeitsorganisation ihres Erforschers Wilhelm von Bode gegenüber, die seine historische Theorie und stilkritische Methode prägte. Neben dem Einfluss Jakob Burckharts und dessen „Kunstgeschichte nach Aufgaben“ geben Bodes Briefwechsel mit Theodor von Frimmel, Louis Courajod und dem Sammler Fürst Johann II. von und zu Liechtenstein Aufschluss über sein Forschungsinteresse. So fokussierte er seine Forschung auf die Statuetten des Bildhauers und Bronzemodelleurs Bertoldo di Giovannis. Hier lässt sich der Wandel von einer kulturgeschichtlichen Perspektive hin zu einer historisch-kritischen Analyse der Statuetten verfolgen. Mit der Transformation der so genannten „Kopienkritik“ aus der klassischen Archäologie und mit Hilfe der Fotografie entwickelte Wilhelm von Bode eine Methode für die stilkritische Analyse der kleinformatigen Skulpturen.
Auf welche Weise offenbart sich der Einfluss bildungsadministrativer Vorgaben und fachwissenschaftlicher Diskurse im Geschichtsschulbuch? Die vorliegende Studie geht dieser Frage anhand einer diachronen Längsschnittuntersuchung zum mittelalterlichen "Lehnswesen" in hessischen Geschichtsschulbüchern zwischen 1945 und 2015 auf den Grund. Nach der Entwicklung eines möglichst repräsentativen Untersuchungskorpus wird auf Basis der verschiedenen Lehrpläne und mediävistischen Grundlagen ein Fragenkatalog für die anschließende Schulbuchanalyse entwickelt auf dessen Basis Veränderungen in den Schulbuchdarstellungen offengelegt und exemplarisch konkretisiert werden. Abschließend setzt die Studie die verschiedenen Einflussfaktoren bei der Erstellung neuer und der Überarbeitung alter Geschichtsschulbücher miteinander in Bezug und bewertet diese hinsichtlich ihrer Bedeutung für Veränderungen in Schulbüchern.
Reinhart Kosellecks Bildnachlass dokumentiert dessen jahrzehntelange Forschungen zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes und der Geschichte des Reiterdenkmals, einschließlich seiner leidenschaftlichen Fotopraxis. Kaum bekannt und von besonderem Interesse für das hier verfolgte Rahmenthema "Politische Ikonologie - Begriffsgeschichte - Epochenschwellen", zeugt dieser reiche Fundus aber auch von intensiven kunstgeschichtlichen und kunsttheoretischen, mitunter kunstphilosophischen und bildwissenschaftlichen Interessen des Bielefelder Historikers, die dieser Zeit seines Studiums und keineswegs nur parallel zu seiner historischen Arbeit verfolgte. Denn diese Spuren führen tief in das historische Denken Kosellecks hinein, und sie zeigen, dass dessen Blick bei aller konkreten Bildarbeit nie dem Sichtbaren allein galt, sondern immer auch dem Unsichtbaren, dass er sich das Unsichtbare - geschichtliche Strukturen und Prozesse, geschichtliche Zeit und Bewegung, schlicht Geschichte - in der Sichtbarkeit des mentalen wie konkreten Bildes zu vergegenwärtigen und in die Sichtbarkeit des anschaulichen Textes zu überführen suchte. Dabei hat die Aufarbeitung von Kosellecks Bildnachlass mit Blick auf sein historisches Werks ein komplexes Bedingungsverhältnis und eine erstaunliche Verquickung sprachlich-diskursiver und sinnlich-bildlicher Erkenntnis- und Darstellungsweisen ans Licht gebracht, die es unter anderem erlauben, konkrete Verbindungslinien zwischen der spezifisch Koselleck'schen Begriffsgeschichte und bestimmten Bereichen der Kunst, Kunstgeschichte und Kunsttheorie zu ziehen. An dieser Schnittstelle setzt der vorliegende Beitrag an und lenkt dabei die Aufmerksamkeit auf Bedeutung und Einfluss des Wiener Kunsthistorikers Werner Hofmann (1928–2013), dessen zentraler Wirkungsort die Hamburger Kunsthalle werden sollte. Hofmann soll dabei beispielhaft für einen bemerkenswerten Schwerpunkt betrachtet werden, auf den sich Kosellecks Interessen im Bereich der Kunst und der Bilder konzentriert zu haben scheinen: den Zusammenhang von Bild und Zeit.
Zukunft
(2019)
In seiner Monographie zum Konzept der Zukunft hat sich Lucian Hölscher (Die Entdeckung der Zukunft, Göttingen 2016) einer Schlüsselkategorie aus dem Begriffsfeld der Zeit zugewandt, das im Wörterbuch der "Geschichtlichen Grundbegriffe" auffällig wenig bearbeitet ist. Das Thema der Zeitlichkeit ist dem Buch dabei selbst eingeschrieben, weil es sich hier um die aktualisierte und deutlich erweiterte Neuauflage einer Studie handelt, die erstmals im Jahre 1999 publiziert wurde. [...] Das Grundgerüst der Gliederung in vier größere Epochenabschnitte, beginnend mit dem Zeitraum von 1770 bis 1830, hat Hölscher beibehalten. Dem Themenschwerpunkt der vorliegenden FIB-Ausgabe entsprechend soll im Folgenden vor allem die Darstellung der Entwicklungen des 20. Jahrhunderts - also nach Hölschers Einteilung des Zeitraums von 1890 bis 1950 und der Zeit seit 1950 - betrachtet werden, denen etwa zwei Drittel des Buches gewidmet sind.
Die Absicht von Johannes Rohbecks Beitrag ist eine kritische Würdigung der Geschichtstheorie von Reinhart Koselleck. Dabei konzentriert sich Rohbeck auf Kosellecks Untersuchungen über die Historiographie und Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts. [...] Zunächst beginnt Rohbeck mit den Verdiensten Kosellecks um die Geschichtsphilosophie der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Da diese Leistung unbestritten ist, beschränkt er sich bei seiner Würdigung auf einige Hinweise. [...] Danach stellt Rohbeck einige begriffsgeschichtliche Behauptungen infrage; hier handelt es sich um philologische Korrekturen zu den Begriffen Fortschritt und Geschichte. Rohbeck zeigt außerdem, dass diese Korrekturen auf Kosellecks grundsätzliche Positionen verweisen. Sodann zielt seine Kritik auf allgemeine Einschätzungen zur neuzeitlichen Geschichtsphilosophie und Moderne, insbesondere auf die These von der 'Unverfügbarkeit der Geschichte'. Im Gegensatz zu Koselleck glaubt Rohbeck, dass es einige aktuelle und drängende Probleme gibt, die menschliches Handeln erfordern, um wenigstens teilweise in die Geschichte eingreifen zu können.
Dieser Beitrag betrachtet die Verwendung von Fotografien des Brandenburger Tors in Schulbüchern für die gymnasiale Oberstufe in Hessen. US-Präsident Ronald Reagan machte mit seiner Rede 1987 das Tor zum Symbol der deutschen Teilung:
"Mr. Gorbachev, open this gate! Mr. Gorbachev, tear down this wall!"
Untersucht wird die Frage: Werden Fotografien des Brandenburger Tors vornehmlich im Kontext der deutschen Teilung verwendet?
Der im vergangenen Jahr verstorbene britische Philosoph Bernard Williams hat 1993 sein Buch 'Shame and Necessity' vorgelegt. Williams verheißt eine Befreiung der Antike – vor allem aus den Banden einer universalistischen Fortschrittskonzeption von Evolution und Geschichte; nach deren Maßstäben müssen den Griechen "primitive Ideen des Handelns, der Verantwortung, der ethischen Motivation und der Gerechtigkeit" zugeschrieben werden, "die im Laufe der Geschichte durch ein wesentlich komplexeres und feineres Netz von Vorstellungen ersetzt worden sind, in denen sich eine reifere Form der ethischen Erfahrung niederschlägt".
Es geht Williams nicht um die Fortschreibung der Tradition nach dem Muster einer übergreifenden europäischen Entwicklungskontinuität, sondern um die Aufsprengung einer solchen Kontinuität. Er sieht sich in der Schuld der Cambridge Ritualists, die uns daran gewöhnt hätten, an die Gesellschaften des antiken Griechenland mit Methoden heranzutreten, die denen der Kulturanthropologen ähnlich seien und neue Wege zur Entzifferung der Mythen und Rituale gebahnt hätten. Die Anthropologie der Antike habe uns die Griechen fremd gemacht und einen Sinn für ihre Andersheit erzeugt, der erst erlaubt, konkret historisch nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zu fragen. Die Antike aus einer übergreifenden Entwicklungskontinuität herauszusprengen, ist Mittel und Voraussetzung dafür, sie als "historische Formation" wiederzugewinnen. Auch wenn die antike Kultur ihren geschichtsphilosophisch privilegierten Status verloren hat, sieht Williams die Europäer in einem besonderen Verhältnis zu den "alten Griechen". Ohne blind zu sein für das, "was die Geschichte der europäischen Herrschaft zerstört oder beiseitegeschoben hat", sei das, "was wir von den Griechen lernen können", wenn wir sie mit neuen Augen sehen, Bestandteil eines soziokulturellen Selbstverständigungsprozesses, in dem Figuren des Europäischen zur Debatte stehen. Hauptgegenstand von Williams’ Buch ist die Relevanz antiker Personalitätsmodelle für die gegenwärtige Ethikdebatte.
The dissertation studied reused Roman coins (AD 100 – 400) that were found in medieval cemeteries (AD 400 – 1400) in the territory of Serbia. The evaluation process was traced through three different periods and cultural contexts: (1) in the period of Roman domination in the central Balkans (AD 1 – 400), i.e. the “primary context” of their use and circulation; (2) in the time of transition from the late antiquity to early medieval period (AD 400 – 700); and (3) in the high and late Middle Ages (AD 900 – 1400), where the last two were considered to be a “secondary context” in which the Roman coins were no longer a valid currency.
It was observed that the reused Roman coins, as a distinctive category of archaeological finds, impose a necessity for reconsideration of the relationship between the disciplines of archaeology and numismatics; encouraging a greater cooperation and discussion between the two. Considering the use and evaluation of Roman coins in their “primary context”, it is possible to presume that the strength of the political Roman system was the crucial factor in the formation and maintaining the stability of the value of Roman coins. The act of reuse should not be automatically equalized with recycling; implying only to use value, but at the same time it was not possible to assume that the value was formed only on a purely symbolical level. The (re)use of Roman coins in the funeral practices from c. AD 400 to 700 was considered to be a part of wider and occasional practice of incorporating older Roman issues in the coin pool by the “barbarian” or Byzantine authorities. It could be then concluded that the value of Roman coins was understood more as a potential attribute than as a fixed category; enabling one to simultaneously “overvalue “ and “undervalue” these objects. In the period from c. AD 900 to 1400, the reuse of Roman coins was detected only within the cemeteries of the peasantry and in a context of gradual increase of general coin use in the central Balkan communities of the Middle Ages. This was understood as an indicator that the Roman coins were not perceived as particularly valuable per se, but since the were recognized as category of objects that became more important in defining social relationships they were then incorporated in the funeral rituals and reinterpreted by the medieval population.
Partant des conditions de mise en place de l’une des dernières commissions d’historiens bilatérales en date – à savoir la commission germano-italienne en 2008 – et du constat de la nature à la fois ambigüe et excessive des attentes formulées à son encontre, cet ouvrage collectif dirigé par deux historiens du temps présent (l’Allemand Christoph Cornelißen et l’Italien Paolo Pezzino) place au cœur de la réflexion la figure de l’historien confronté à une demande d’expertise croissante dans le contexte de l’après guerre froide. Il examine les usages pratiques (voire politiques) des savoirs académiques historiques et leurs effets sur les standards de production de ces savoirs assurant la légitimité professionnelle et sociale des historiens. ...
Mike Rapport is one of the few scholars who write European history not as the history of a few select countries, but of the entire continent. Rapport is at home in the history of the Balkans as well as France, Italy, Germany, Russia, and Scandinavia, and well versed in the historiography published in English, French, and Italian. Rapport's well-rounded viewpoint is one excellent argument for anyone suffering from "1848 fatigue" after the sesquicentennial celebrations and their aftermath in conference volumes and historiographical reviews to put aside any skepticism regarding the possibility of anyone presenting a novel perspective; the book itself is another. In it, Rapport offers a narrative history of the events of 1848 in those European countries and regions affected directly by the revolution--France, Italy, the German states, Denmark, and Rumania--with some remarks on areas where the impact was more indirect (Britain, Russia, the Ottoman Empire, and Scandinavia). This book is less obviously an academic textbook than Jonathan Sperber's excellent survey of the revolutions of 1848, and less encyclopedic than the survey of national events and overarching themes edited by Dieter Dowe and others for the 1998 anniversary. ...
Andreas Fahrmeirs These lautet, dass die Entwicklung der modernen Form der Staatsbürgerschaft "von einer spezifischen Erfahrung zwischenstaatlichen Wettbewerbs vorangetrieben wurde" (231). Dass alle oder fast alle erwachsenen Männer nach den Prinzipien der Aufklärung und des Liberalismus Rechte besaßen oder wenigstens fähig waren, zur politischen Mündigkeit erzogen zu werden, hat sicherlich auch zur Erweiterung der Rechte und der Zahl der Staatsbürger in vielfältiger Weise beigetragen. Nach Fahrmeir waren aber "Blut und Eisen" wichtiger für die Entwicklung von Staatsbürgerrechten als der Einfluss Lockes und Kants. Krieg oder die Vorbereitung auf einen Krieg haben Staaten angetrieben, eine "homogene, gesunde und produktive Bevölkerung" zu schaffen, um Stabilität und ökonomische Effizienz herzustellen (230). Und hauptsächlich deshalb wurden weitere zivile, politische und soziale Rechte breiteren Gruppen von Einwohnern gewährt und Grenzen zwischen Staatsbürgern und Ausländern schärfer gezogen. Dieser Hypothese folgend, kommt Fahrmeir zum Schluss, dass, da westliche Regierungen seit den 1970er Jahren zunehmend auf die Wehrpflicht verzichten und sich vielmehr auf den wirtschaftlichen Erfolg im Kontext einer globalisierten Ökonomie konzentrieren, sie sich fortan auch weniger um die Opferbereitschaft und um die Rechte ihrer Einwohner kümmern. Deren ökonomische Nutzbarkeit steht im Vordergrund (231 f.). ...
Die geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen haben ihr Spektrum in der jüngeren Vergangenheit um globale Perspektiven erweitert. Auch für das Feld der Intellectual History liegt nun ein Sammelband von Samuel Moyn und Andrew Sartori vor, der die Frage des Globalen diskutiert und dabei viele Beobachtungen enthält, die über das Feld der Ideen- und Geistesgeschichte hinaus Beachtung verdienen. Von rechtshistorischem Interesse sind vor allem die Abschnitte zur Konzeption des Globalen und zur Übersetzung und Verankerung globaler normativer Muster. ...