ZfL Blog : Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin
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15.02.2024
Aspekte Schwarzer Geschichte(n) in "Berlin Global" : eine Führungs- und Ausstellungsreflexion
(2024)
Februar ist Black History Month und damit der ideale Zeitpunkt, eine Blogserie über Berliner Orte zu beginnen, die wir - Gianna Zocco und Sandra Folie - im Zuge unseres neuen Forschungsprojekts "Schwarze Narrative transkultureller Aneignung" besuchen: Museen, Theater, Verlage, Archive usw., die für eine afroeuropäisch fokussierte Literatur- und Kulturforschung relevant sind und mit denen wir ins Gespräch kommen wollen. Die erste Exkursion führte mich zur Ausstellung BERLIN GLOBAL im Humboldt Forum, die zu zeigen versucht, "wie die Stadt und ihre Menschen mit der Welt verbunden sind". Sie beruft sich dabei auf eine vielstimmige, partizipative Konzeption und Umsetzung und beschäftigt sich intensiv mit dem Thema des Kolonialismus und seinen Nachwirkungen. Unter dem Titel "Sichtbar werden" führten eine externe afrodeutsche Expertin und eine Museumsvermittlerin im Gespräch - miteinander, aber auch mit der Gruppe - durch die Spuren Schwarzer Geschichte(n) in der Ausstellung. Welche Aspekte Schwarzer Geschichte(n) müssen aber in einer solchen Ausstellung erst im Rahmen einer speziellen Führung "sichtbar werden", fragte ich mich vorab. Und würde sich die Führung mit ihrem Anspruch der Sichtbarmachung als ein Akt des 'narrating back' und damit der partiellen oder temporären Aneignung eines (zu) weiß kodierten Raumes wie des Humboldt Forums begreifen lassen? Die Expertin, die den thematischen Fokus setzte, war Tanja-Bianca Schmidt, freie Kuratorin und Kunsthistorikerin an der TU Dresden mit den Schwerpunkten Black Identity, rassismuskritische Kunstgeschichte, Ästhetik der Migration und Postkoloniale Theorie. Zusätzlich zu ihrer beruflichen Expertise brachte sie ihre persönlichen Erfahrungen als Schwarze Deutsche mit ein. Sophie Eliot, die als Outreach-Spezialistin für das Stadtmuseum Berlin tätig ist und sich in der diskriminierungskritischen und -sensiblen Museumsarbeit verortet, war ihre Gesprächspartnerin.
12.06.2023
19.10.2023
"A.I. or Nuclear Weapons: Can You Tell These Quotes Apart?" - so fragte die New York Times ihre Leser:innen am 10. Juni dieses Jahres. In Form eines metadiskursiven Ratespiels rückte die Zeitung damit eine Analogie in den Blick, die in den jüngsten Debatten um Künstliche Intelligenz zu erheblicher Prominenz gelangt ist. Wenn derzeit die Risiken neuester (Sprach-)Technologien beschworen werden, lässt der Vergleich mit dem Vernichtungspotenzial von Atomwaffen nicht lange auf sich warten. Dies gilt für die in Print- und Onlinemedien ausgetragene Diskussion, ist aber auch innerhalb der wissenschaftlichen Community mit ihren Spezialöffentlichkeiten zu beobachten. Warnungen vor den unabsehbaren Folgen der KI-Entwicklung gleichen in ihrer Drastik und teils bis aufs Wort den Mahnrufen und Appellen, mit denen in der Nachkriegszeit auf die damals neue Gefahr eines drohenden globalen Nuklearkonflikts reagiert wurde. Ob sich die von der New York Times anonymisiert präsentierten Aussagen wie "If we go ahead on this, everyone will die" oder "We are drifting toward a catastrophe beyond comparison" auf unsere Gegenwart oder auf die historische Situation der 1950er und 1960er Jahre beziehen, ist daher tatsächlich nicht immer ohne Weiteres auszumachen. Und erst kürzlich berichtete die Zeitung von einem Mitarbeiter des von Google betriebenen DeepMind-Forschungslabors, der einen Vortrag zum maschinellen Lernen mit einem Zitat aus George Orwells Essay "You and the Atomic Bomb" (1945) eröffnet hatte - ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr die zwischen Künstlicher Intelligenz und Nuklearwaffen gezogenen Parallelen zu einem anscheinend unverzichtbaren Topos in der Auseinandersetzung mit neuronalen Netzen und Large Language Models (LLMs) geworden sind.
07.03.2023
In the retrospect of almost a decade, the year 2015 seems to offer at least two openings which can help us better understand and localize the "end of theory" narratives that began to take hold sometime around the end of the millennium. Rita Felski's much-discussed and much-maligned 2015 book, "The Limits of Critique", construed the long history of "critique" as largely continuous with the more recent (postwar) idea of "theory," which allowed her to question the presupposed progressivity and utility of the dominant critical-theoretical discourses of late 20th-century North American academia. In the same year, Philipp Felsch's "Der lange Sommer der Theorie" (which was recently published in English as "The Summer of Theory") went so far as to assign specific dates, 1960–1990, and tended to define theory not as a purely academic product, but as a much wider cultural movement. Between the two books, questions of the difference between theory and critique, their specific institutional locus within and beyond academia, became objects of acute concern.
28.02.2023
In present-day Germany, research on postwar academia, up through the 1960s and beyond, requires no special justification. But from the North American side, the point of this scholarly activity - including the many new editions and a flood of archive-based publications - is much less obvious. For the most well-established figures of the period, the primary international canonizations were already part of the first waves of the reception, the theoretical tectonics established themselves accordingly, and the theories were established as theories - which are in many quarters presumed to be just as reliable today as they were decades ago. One might say that the international and North American reception of European theory has manifested an overall tendency toward sedimentation, while the dynamic of scholarly research about theory, including the archival unearthing of new sources, tends to complicate and undermine the established corpus of "primary texts."
21.11.2023
'Aktivismus' wird heute kontextabhängig in vielen Bedeutungen verwendet: als deskriptive Bestimmung, positiver Identifikationsbegriff, Begriff der polemischen Abwertung oder Zielscheibe jargonkritischen Spotts. Im Kern des Begriffs behauptet sich aber stets die individuelle Partizipation am kollektiven gesellschaftlichen Handeln, insbesondere an der Politik. Meist wird als Aktivismus die emphatische Teilnahme an sozialen Bewegungen emanzipatorischer Art bezeichnet. Es geht dabei häufig um marginalisierte Gruppen und Anliegen. Forderungen nach Ermächtigung und Gleichberechtigung sowie die Herausstellung besonderer Schutzbedürftigkeit stehen im Zentrum. [...] Bedeutungskonstituierende Kriterien für 'Aktivismus' wären demnach erstens politische Partizipation jenseits einer bloß passiven, handlungsfernen Zustimmung oder Ablehnung sowie zweitens das Vorhandensein eines kollektiven Handlungsmusters, das im Hinblick auf Rechte und deren Beschränkungen lesbar ist. Der Begriff setzt drittens ein Grundverständnis von Asymmetrien innerhalb der politischen Partizipation voraus. [...] Allerdings erlegen diese drei Kriterien den historischen Konstellationen eine allzu große Einfachheit auf.
10.03.2022
06.12.2022
Frankreichs Seenotrettungsgesellschaft, die Société Nationale de Sauvetage en Mer (SNSM), geht auf einen Zusammenschluss zweier Einrichtungen zurück, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ursprünglich unterschiedlichen Zielsetzungen entstanden sind: Die Société Centrale de Sauvetage des Naufragés (SCSN) wurde 1865 unter der Schirmherrschaft von Kaiserin Eugénie speziell zur Rettung Schiffbrüchiger gegründet. Der 1873 im bretonischen Rennes gegründeten Société des Hospitaliers Sauveteurs Bretons (SHSB) hingegen ging es allgemein um die Rettung von Menschen, die unverschuldet in Not geraten waren. [...] Doch schon nach wenigen Jahren konzentrierte sich die SHSB entgegen ihrer ursprünglichen Zielsetzung fast ausschließlich auf die Rettung schiffbrüchiger Seeleute. In dieser Entwicklung zeigt sich eine Spannung, ein erklärungsbedürftiges Missverhältnis zwischen dem ursprünglichen, allgemeinen humanitären Anspruch und der praktischen Umsetzung konkreter Maßnahmen.
21.12.2022
Die erste Monografie, die sich ausdrücklich und titelgebend mit der "begriffsgeschichtlichen Methode" befasste, stammt von dem jüdischen Religionswissenschaftler Lazar Gulkowitsch (1898–1941). Vier Jahre vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten veröffentlichte er 1937 "Zur Grundlegung einer begriffsgeschichtlichen Methode in der Sprachwissenschaft" in einer deutschsprachigen, der Wissenschaft des Judentums gewidmeten Reihe, die an der Universität Tartu (Dorpat), dem Ort seines estnischen Exils, erschien. Obwohl sich in den letzten Jahren verschiedene Publikationen Gulkowitsch und seinem Werk widmeten, ist seine Schrift zur Begriffsgeschichte selbst dem Fachpublikum dieser geisteswissenschaftlichen Methode unbekannt geblieben, ebenso wie die zahlreichen Untersuchungen, in denen er die Begriffsgeschichte auf den Begriff 'Chassid' (Frommer) sowie den Chassidismus anwandte. Gulkowitsch entwickelte dort an Konzepten der jüdischen Geistesgeschichte eine speziell auf die Geschichte des Judentums bezogene Theorie der Begriffsgeschichte, die aber zugleich mit dem Anspruch einer universalistischen Metatheorie der Geistesgeschichte für verschiedene Kulturen antrat.
19.12.2022
Als 2008 die Finanzkrise eskalierte, vollzog sich eine irritierende Veränderung in der Semantik von 'Rettung'. Während nämlich einerseits unbedingte Imperative der Rettung finanzieller und fiskalischer Institutionen aufkamen, 'whatever it takes', wurde andererseits der Rettungsimperativ für Menschen in Seenot immer problematischer. Insbesondere im Kontext von Flucht und Migration im Mittelmeerraum begannen Regierungen, humanitäre Rettungsbemühungen zu kriminalisieren, während sie doch zugleich unterlassene Hilfeleistungen ebenfalls strafrechtlich verfolgten. Über lange Zeit hatten Schiffbrüchige im öffentlichen Diskurs die Stelle als privilegierte Zielobjekte unbedingter Rettungsimperative besetzt, die sogar das Risiko eines Selbstopfers in Kauf zu nehmen verlangten. Nun schien es, als sei diese Stelle umbesetzt worden. Dass eine solche Umbesetzung aber überhaupt möglich war, warf nicht zuletzt die Frage danach auf, wie es eigentlich um die Geschichtlichkeit derartiger Imperative insgesamt bestellt ist. Diesem Problemzusammenhang geht das Forschungsprojekt "Archipelagische Imperative.Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800" nach, indem es unter anderem untersucht, wie die Schiffbrüchigen überhaupt dazu gekommen waren, die fragliche Stelle zu besetzen.