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Hofmannsthals vielleicht dunkelste Verse, in ihrem Wortlaut auf vielerlei Weise verstanden und mißverstanden, enthalten doch eines, das nicht widerleglich ist: die Gebärde des Spätgeborenen, der nimmt und vergeudet, in dessen Händen das Überlieferte flüssig wird und sich in neuer Fülle verströmt. Dies gilt für Themen und Motive des kulturellen Erbes, dies gilt vielleicht noch mehr für die Traditionen der Gattungen, die in HofmannsthaIs Werk noch einmal aufleben. Der Einakter als literarische Form ist kein nationales, er ist ein europäisches Phänomen. Vielleicht gibt es keinen Autor der Jahrhundertwende, dem diese Tradition verfügbarer wäre als gerade Hugo von Hofmannsthal: die spanische Welt des Theaters und seiner Entreméses aus dem Goldenen Zeitalter, die französische Überlieferung von Rousseau über Musset und Carmontelle bis zu Mallarme und zu dem Flamen Maeterlinck, die englischen wie die italienischen Quellen - sie flossen für den jungen Österreicher gleichermaßen, wie ihm gleichermaßen auch die Zeugen der großen musikdramatischen Überlieferung gegenwärtig waren. Alle diese Elemente sind es, die, aus fremden Händen in seine übergehend, sich an die neue Form verschwenden, mit der er auf die Wahrnehmungskrise der Jahrhundertwende schreibend und verwandelnd reagiert: an den Einakter in seiner wiedererstandenen Gestalt als 'lyrisches Drama'.
Das Erfahrungsmodell, durch dessen Vermittlung in der europäischen Kultur Wirklichkeit aufgefaßt und dargestellt wird, ist dasjenige der "Lesbarkeit der Welt". Niemand war sich dessen genauer bewußt als der junge Hugo von Hofmannsthal, der in der kulturgesättigten Atmosphäre der Jahrhundertwende aufwuchs: einer Welt aus Schriftzeichen, einer Welt der Aufzeichnungen und Archive, einer Welt schließlich der universellen Verfügbarkeit allen Wissens aus allen Kulturen. In der Gestalt des Wunderkindes Hofmannsthal war auf vollkommene Weise die Sprach-, Wahrnehmungs- und Wissenskrise der Jahrhundertwende repräsentiert, die - wie keine andere Epoche der Kulturgeschichte - aus Glanz und Last der Überlieferung ihr Selbstbewußtsein wie ihre tödliche Melancholie bezog.
Um die Frage des Lesens dessen, was nie geschrieben wurde, und jene andere Frage der Nicht-Lesbarkeit der Welt, wie sie auf vielfache Weise im Werk des frühen Hofmannsthal zum Ausdruck kommen, soll es in den hier angestellten Überlegungen gehen. Im Jahr 1909, also schon im Rückblick auf jene Zeit früher Verwirrungen der neunziger Jahre, macht Hofmannsthal sich eine Reihe merkwürdiger Notizen. Sie nehmen ihren Ausgang von der Idee des Schöpferischen und der Möglichkeit solchen Schöpferturns in einer übersättigten Kultur und mögen wohl Vorstudien zu einem geplanten Aufsatz über dieses Thema sein.
Die deutsche Romantik ist eine Zeit des Aufbruchs, der kühnen und spielerischen Anfangsexperimente; aber sie ist auch eine Zeit der Krise. Zwar herrscht sowohl in der literaturwissenschaftlichen Forschung wie in den weiter gespannten Versuchen einer kulturellen Diagnostik Einverständnis darüber, daß "Modernen" sich in wiederholten Schüben ereignet haben [...] und daß jede dieser neu erscheinenden Modernen an den Errungenschaften der vorangehenden partizipiert. Doch könnte man behaupten, daß die Krise, die sich in der deutschen Romantik abzeichnet, zu den
differenziertesten gehört, und daß sie in den Umbrüchen, die aus ihr resultierten, alle Felder des Wissens, des Imaginierens und des Darstellens nachhaltig affizierte und transformierte.
Fensterszenen in der Literatur haben bislang wenig Interesse geweckt, sie gehören gewissermaßen fraglos zum Inventar des Interieurs und seiner Darstellung. Literarische Fensterszenen sind ja auch bei weitem unscheinbarer als diejenigen, die sich, von der Kunstwissenschaft durchaus beachtet, als 'gerahmte Rahmung' in der Malerei einstellen. Um den Umriß meines Themas anzudeuten, wende ich mich zu Beginn einem der berühmtesten Texte des 20. Jahrhunderts zu; nämlich Franz Kafkas Erzählung "Das Urteil", die mit einer solchen Fensterszene ihren Anfang nimmt. Es heißt da:
Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur in der Höhe und Färbung unterschieden, sich hinzogen. Er hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, verschloß ihn in spielerischer Langsamkeit und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den Fluß, die Brücke und die Anhöhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün. (KKA D,43)
Es war Theodor W. Adorno, der Richard Wagner "den berühmtesten erotischen Künstler der bürgerlichen Welt" genannt hat. Möchte man sich dieses Aperçu zu eigen machen, so wird man sich in erster Linie an den Dichter Richard Wagner halten – und erst in zweiter Linie an den Musiker. Wagner selbst hat es genau so gesehen: genau in solcher Gewichtung. Anlässlich des "Fliegenden Holländers" schreibt er über den Beginn der Arbeit an diesem Werk: "Ich war von nun an in bezug auf alle meine dramatischen Arbeiten zunächst Dichter, und erst in der vollständigen Ausführung des Gedichtes ward ich wieder Musiker." Und in seinen minutiösen Anweisungen für die Aufführung des "Tannhäuser" von 1853 insistiert Wagner vorsorglich, die Dichtung müsse "in ihrem ganzen Umfange" den Darstellern bekannt gemacht werden (vgl. II, 111), und zwar: bevor diese mit der Musik in Berührung kämen. Das Augenmerk der vorliegenden Abhandlung richtet sich also zunächst und vor allem auf den Dichter, den Dramatiker Richard Wagner: als einen Darsteller von erotischen Leidenschaften; als einen Kenner der abendländischen Liebes-Theorien.