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Eine Dichterfreundschaft hat zwischen Gerhart Hauptmann und Paul Ernst nicht bestanden, nicht einmal eine kontinuierliche persönliche Beziehung. Dennoch soll hier kein abstrakter Vergleich zwischen zwei Autoren unternommen werden, deren Werke vielleicht zu einer bestimmten Form der Zusammenschau einladen, sondern ist tatsächlich die Rekonstruktion der Bedeutung geplant, die die beiden Generationsgenossen über einen längeren Zeitraum füreinander hatten. Es geht um die wechselseitige Wahrnehmung und Bewertung ihrer Positionen und Personen einschließlich der zugehörigen biographischen Voraussetzungen, und es kann keinesfalls überraschen, dass dabei die Momente der Kritik und Ablehnung, ja Abstoßung überwiegen. Denn natürlich stehen Gerhart Hauptmann und der vier Jahre jüngere Paul Ernst für unterschiedliche literarische Richtungen. Die Literaturgeschichte verbucht den einen als prominentesten Repräsentanten des Naturalismus im deutschen Sprachraum, den anderen als Begründer und charakteristischsten Vertreter der gegen diesen Naturalismus gerichteten neuklassischen Bewegung. Eine andere unsere heutige Auffassung bestimmende Differenz und Disproportionalität ist damit eng verbunden: Während dem Dramatiker Hauptmann schon in jungen Jahren spektakuläre öffentliche Aufmerksamkeit und ökonomische Prosperität zuteil wurden, die auch alle späteren Fehlschläge überstanden, ist Paul Ernst, der sich - jedenfalls bis 1918 - gleichfalls in erster Linie als Dramatiker verstand, zu Lebzeiten nie aus seiner Nischenexistenz herausgetreten.
Zürich, 22. März 1937 - im ersten Stock des renommierten Herrenausstatters "London House" probiert Thomas Mann gerade einen neuen Anzug an, als ihn ein Verkäufer informiert, dass im Erdgeschoss Gerhart Hauptmann eingetroffen sei. "Möchten Sie ihn sehen?" Nach kurzem Zögern lehnt Thomas Mann ab - mit den Worten: "Ach, da wollen wir vielleicht doch andere Zeiten abwarten." Replik des Verkäufers: "Genau das hat Herr Hauptmann auch gesagt." Die Zürcher Nicht-Begegnung der beiden Nobelpreisträger ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Schließlich handelte es sich nicht nur um die international bekanntesten deutschen Schriftsteller, sondern auch um alte Bekannte. Und jeder von beiden hatte dem anderen manches zu verdanken. Warum also wollten die beiden einander nicht begegnen?
Um die literaturgeschichtliche Bedeutung der Situation im Zürcher Herrengeschäft einschätzen zu können, muss man die gesamte Beziehung zwischen beiden in den Blick fassen. Sie könnte wechselvoller kaum sein. Nach dreißig Jahren kollegialer, phasenweise nahezu freundschaftlicher Verbundenheit brach der Kontakt abrupt ab und wurde bis zu Hauptmanns Tod 1946 nicht mehr aufgenommen. Nach dem Ableben des älteren Kollegen ändert sich Thomas Manns Sicht auf Gerhart Hauptmann jedoch wieder. Und – soviel vorweg – dabei spielten Jubiläumsgeburtstage stets eine wichtige Rolle. Ich gehe zunächst auf die Phase der engen Bekanntschaft ein; im zweiten Teil dann auf die Umstände des Abbruchs der Beziehungen. Dabei soll vor allem der letzte Kontaktversuch genauer analysiert werden. Ein resümierender Blick auf die dritte Phase steht am Ende dieser Überlegungen. ...
Von häuslicher Gewalt in der deutschsprachigen Literatur zu sprechen, grenzt an sich an eine Übertreibung angesichts der wenigen Beispiele, die der Kanon enthält. Das gilt umso mehr, wenn man vor 1945 sucht, das heißt zu einer Zeit, in der sich jener Bruch mit dem Vaterland noch nicht vollzogen hatte, der auch literarische Brüche mit Vätern, Müttern und auch Kindern nach sich ziehen sollte (ich denke hier an Peter Weiss' 'Abschied von den Eltern' [1961], Ingeborg Bachmanns 'Malina' [1971] oder auch an Elfriede Jelineks 'Die Klavierspielerin' [1983]). Die längste Zeit wurden körperliche Auseinandersetzungen in der Familie nicht wirklich als Gewalt registriert. Wir müssen aber auf den Realismus warten, dass eine breitere literarische Strömung - und nicht nur vereinzelt ein Autor wie Kleist - die noch relativ neue Institution der Literatur für prosaische Alltagsgeschehnisse öffnet und sich damit auch dem Gemeinplatz der Familie kritisch und als ästhetische Herausforderung annähert. Fredric Jameson gab jüngst zu bedenken, dass erst dann ein neuer Zugang zum Realismus möglich sei, wenn man gleichzeitig die Genealogie des Erzählens und ihre drohende Auflösung in literarischen Repräsentationen von Affekten im Auge behalte. Und wirklich präsentieren realistische Texte ganze Archive, um die Komplexität und Rhetorizität von Affekten im Allgemeinen und von Aggressionen im Speziellen zu studieren. Ein bekannter Text des deutschsprachigen Realismus, der das Phänomen der häuslichen Gewalt in dieser Weise reflektiert, ist Adalbert Stifters Erzählung 'Granit' aus der Geschichtensammlung 'Bunte Steine' (1853); jenen, die an den Grenzen des Kanons lesen, wird Theodor Storms Novelle 'Ein Doppelgänger' (1887) in den Sinn kommen; wohl jeder denkt an Gerhart Hauptmanns naturalistische Studie 'Bahnwärter Thiel', die im darauffolgenden Jahr erschien. Und wenn wir noch Robert Walser als späten realistischen Autor ansehen, dann stellt 'Der Gehülfe' (1908) einen der denkwürdigsten Texte zum Thema häuslicher Gewalt dar.
Diese begrenzte, wenn auch in keiner Weise vollständige Beispielreihe zeigt, dass Gewalt in der Familie längste Zeit ein Un-Thema war - was natürlich nicht bedeutet, dass es sie nicht gab oder gibt. Vielmehr kann die Seltenheit ihres literarischen Vorkommens entweder als Zeichen dafür gedeutet werden, dass häusliche Gewalt ein so alltägliches Phänomen darstellte, dass es nicht weiter erwähnenswert war oder aber, dass häusliche Gewalt ein solches Tabu war, dass sie nicht thematisiert werden konnte.
Jenny Mautner (1856-1938), verheiratet mit dem jüdischen Großindustriellen Isidor Mautner (1854-1930), führte seit den 1890er Jahren in Wien einen bedeutenden Salon, zu dessen Gästen neben vielen anderen bedeutenden Kulturschaffenden wie Richard Strauss, Max Reinhardt oder Arthur Schnitzler mitunter auch Gerhart Hauptmann zählte.
Dass dessen gelegentlichen Besuchen mehr als nur berufliche Kontaktpflege zugrunde lag, zeigte sich, als im Jahr 1926 das Ehepaar Mautner die goldene Hochzeit beging. Es trafen zahlreiche Glückwunschschreiben ein, die sorgfältig gesammelt und zu einem repräsentativen Werk gebunden wurden. In dieser bisher unerschlossenen Sammlung findet sich auch ein Gedicht aus der Hand Gerhart Hauptmanns.
Die vorliegende Arbeit stellt diesen überraschenden Fund vor, erläutert den historischen Kontext und geht der Frage nach, wieso Gerhart Hauptmann es für angezeigt erachtete, für dieses Ereignis eigens ein Gedicht zu verfassen. Es wird aufgezeigt, dass es seit 1909 persönliche und briefliche Kontakte zwischen Jenny Mautner und Gerhart Hauptmann bzw. dessen zweiter Ehefrau Margarete gab. Anhand der bislang unveröffentlichten Briefe Jenny Mautners wird deutlich, dass sie Gerhart Hauptmann über den prekären Gesundheitszustand des von ihm hoch geschätzten Burgschauspielers Josef Kainz (1858-1910), der zu den engsten Freunden der Familie Mautner gehörte, auf dem Laufenden hielt. Doch auch nach dem Tod des bedeutenden Schauspielers blieb der Kontakt über Jahrzehnte erhalten, eine letzte persönliche Begegnung mit Jenny Mautner fand im Herbst 1937 in Wien statt.
Der bürgerliche Kalender des 19. Jahrhunderts schafft eine eigene Zeitordnung. Wer 25 Jahre sein Unternehmen durch den Zeitenwechsel bringt, darf diesen Zeitraum mit goldenem Lorbeer umrahmen, ebenso derjenige, der dem Staat als Beamter ein Vierteljahrhunderts gedient hat. Eine goldene Uhr wird ihn fortan daran erinnern. Für die Ehe gleicher Dauer muß man sich mit Silber begnügen, das Goldene Zeitalter beginnt in diesem Fall erst nach fünfzig Jahren. Nicht nur das Ereignis, auch der Zeitraum selbst wird, skaliert von 25 bis 1000, kulturell erinnerungswürdig und -fähig. Wer die Jahre zählt, läßt die Verbindung zum Vergangenen nicht abreißen. Vergangenheit erhält ihren Ort und ihren Tag im Alltag der Gegenwart. Die Erinnerung der Individuen wird an Jubel- und Gedenktagen durch ein kollektives Gedächtnis abgelöst. Der 1. Mai z.B will an etwas erinnern und läßt sich dennoch auf kein ursprüngliches Ereignis zurückführen. ‘Denkmal’ kann im 19. Jahrhundert fast alles werden, nicht nur Gebilde aus Stein und Bronze, auch Profanes wie Bierkrüge, Gläser, Teller, Zigarrenkisten, Hüte: das kollektive Gedächtnis muß an ihnen nur ausreichende Flächenhaftung finden oder sich eingravieren lassen.