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Rippoldsau ist nicht nur biographisch bedeutungsvoll als einer der vielen Orte, an denen Rilke Erholung suchte. Das Kurbad im Schwarzwald zählt auch zu jenen Fluchtpunkten einer räumlichen Ordnung, die die Forschung als 'innere Geographie' namhaft gemacht hat. Im Folgenden soll diese Topographie von Fluchtlinien unter dem Aspekt ihrer Modellhaftigkeit in den Blick genommen werden - allerdings nicht im Hinblick auf poetologische Aspekte, auf die vieldiskutierte, komplexe Verräumlichung in Rilkes lyrischen Szenarien. Am Leitfaden von Rilkes 'innerer Geographie' lässt sich auch sein Konzept von Autorschaft erschliessen. Denn Rilke ist in vielerlei Hinsicht repräsentativ für ein bestimmtes Autorschaftsmodell; ein Modell, das so erfolgreich ist, dass es nicht nur die klassische Moderne über weite Strecken prägt, sondern auch den unüberschaubaren Kunstbetrieb des 20. Jahrhunderts.
Das Gedicht "Die Liebenden" wurde wahrscheinlich im Sommer 1908 in Paris verfasst und war als Widmungsgedicht für Walter Heymel für den zweiten Teil der "Neuen Gedichte" vorgesehen. Seinem Freund und Gründer der Zeitschrift "Die Insel" hatte Rilke schon 1907 ein anderes Gedicht gewidmet, "Tage, wenn sie scheinbar uns entgleiten", das im ersten Teil der "Neuen Gedichte" seinen Platz hätte finden sollen. Beide Texte zählen heute, wenn auch in den "Sämtlichen Werken" unter zwei verschiedenen Kategorien eingeordnet, zu den "verstreuten und nachgelassenen" Gedichten, die Rilke zwischen 1906 und 1911 verfasst hat. "Die Liebenden" wurde als Pendant zu dem berühmten "Liebeslied" in den "Neuen Gedichten entworfen", vom Autor aber vielleicht als zu subjektiv und darum als nicht geeignet für die Sammlung betrachtet. Das im Titel des Zyklus markierte "Neue" sollte dennoch das Subjektive nicht völlig verbannen, sondern ein Zusammenspiel zwischen sinnlicher Wahrnehmung und subjektiver Reflexion entstehen lassen.
Die Werke Ralph Waldo Emersons und die seines Schülers und Freundes Henry David Thoreau (1817-1862) hat Rilke schon vor der Jahrhundertwende kennengelernt und studiert und sie haben ihn in entscheidenden Positionen seiner Lebensführung, seiner Weltsicht und seiner Dichtung mindestens bestätigt und bestärkt. Dass Rilke auf die "amerikanischen Transzendentalisten" aufmerksam wurde, ist nicht verwunderlich, denn die führenden Köpfe, allen voran Emerson, waren um die Jahrhundertwende beinahe unübersehbar. [...] Wer Rilke und den "dichterischen Prediger" aus Boston nebeneinander liest oder auch nacheinander, wird immer wieder von dem einen auf den anderen verwiesen.
"[…] Scheffel hat hier Spuren hinterlassen, die peinlich sind, ist offenbar hier zu Kräften gekommen und hat sofort fürchterlich gereimt." Die Passage stammt bekanntlich aus dem späteren der beiden Briefe, die Rilke aus Bad Rippoldsau an die Fürstin Marie von Thurn und Taxis geschrieben hat. Wenn man sie liest, fragt man sich vielleicht, wer es war, der ihn bereits durch Spurenelemente seines Lebens und Dichtens so peinigen konnte; und man fragt sich weiter, in welchem Kräfteverhältnis Dichtungs- und Lebensspuren dabei standen. Dass Joseph Victor von Scheffel (1826-1886) in der Zeit zwischen 1870 und 1920, also bis weit über sein Lebensende hinaus, zu den erfolgreichsten Autoren aus dem Geist des 19. Jahrhunderts zählte, ist im heutigen kulturellen Panorama kaum mehr wahrnehmbar. Dementsprechend problematisch ist es, Rilkes Äußerung aus heutiger Sicht angemessen einzuordnen. Jörg Paulus versucht, die Disproportion, mit der wir - in Folge der erwähnten kulturgeschichtlichen Verschiebung - die beiden so unterschiedlichen Dichter heute wahrnehmen, etwas auszugleichen. Ein solcher Ausgleich zielt natürlich nicht auf eine Revision mit Blick auf den künstlerischen Niveauunterschied, der Scheffel und Rilke trennt, wohl aber auf eine Revision ihrer Stellung in der literarischen Welt, der sie zumindest in einer kulturhistorischen Überlappungsphase beide zugehörten. Rilkes Äußerung gegenüber der Fürstin von Thurn und Taxis ist dabei in ihrer Bezogenheit auf die angedeutete Konfrontation mit unerwünschten Spuren Scheffels vielleicht noch zu impulsiv, um daraus weiterreichende Rückschlüsse zu ziehen. Es erscheint sinnvoll, diesen Impuls in einem weiteren zeitlichen Radius zu betrachten.
Es ist beinahe eine Ewigkeit her, dass mich der damalige Präsident der Rilke-Gesellschaft, Jacob Steiner, gebeten hat, einen kurzen Bericht über die neueste Rilke-Literatur zu liefern. Ich sagte unbekümmert und sofort "ja", wahrscheinlich sogar "ja gerne". Jacob Steiner hatte gewissermaßen beiläufig und undramatisch gefragt, wie es seine Art war, ich fühlte mich geehrt und ich hatte keine Ahnung von dem, was da auf mich zukommen sollte. [...]
Mitteilungen
(2012)
Rilke und der Wald
(2012)
"Du siehst, ich stecke mitten im Wald": Rilkes Kuraufenthalte in Bad Rippoldsau in den Jahren 1909 und 1913, vor allem die zahlreichen Briefzeugnisse, legen die Frage nach Rilkes Wald-Erfahrungen in unterschiedlichen biographischen Phasen und ihre Spiegelungen in seinen Briefen und Gedichten nahe. Die frühesten Quellen und die Epochenzäsur des Ersten Weltkriegs sollen dabei den zeitlichen Rahmen bilden, der Schwerpunkt wird auf den Briefen liegen. Bad Rippoldsau und der Schwarzwald bieten aber noch einen zweiten Impuls für diese Thematik: Schon im 19. Jahrhundert waren die Themen Wald und Lyrik eng verbunden, die Pläne zur Aufforstung des Schwarzwalds und ein "neu[es] poetisch[es] Wald-Interesse" entstammten derselben historischen Situation. Ausläufer und Reste dieser "Waldromantik" lassen sich, wie zu zeigen sein wird, auch bei Rilke, bis in seine Münchner und Berliner Zeit hinein, verfolgen.
Zu den Vielen, die im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts in den Bann jenes Malers gezogen wurden, der in neuerer Zeit und noch bis heute vornehmlich (wenn auch zu Unrecht) unter dem Namen des Matthias Grünewald firmiert, gehört auch Rainer Maria Rilke. Recht genau in Rilkes Lebensspanne fällt nicht nur die Wiedererkennung und Neuentdeckung des weitaus größten Teils von Grünewalds erhaltenen Werken; zu seiner Zeit wurde nicht nur die wahre Identität dieses Künstlers - als des in Würzburg, vermutlich um 1480, geborenen Mathis Gothart Nithart - ans Licht gebracht; in Rilkes zweiter Lebenshälfte kam es überdies zu einer geradezu enthusiastischen Wertschätzung dieses Zeitgenossen Albrecht Dürers und der Reformation, der zu den Hauptexponenten einer einzigartigen Blütezeit der Kunst in Deutschland, kurz vor deren abruptem Ende, zählt.
Rilkes Verfassung ist 1913 weder seelisch noch körperlich die beste, und er sucht erneut in Rippoldsau Erholung, neue Kraft und Inspiration. Die 24-jährige Schauspielerin Hedwig Bernhard kommt am 22. Juni 1913 in Rippolddsau an. Die Abreise erfolgt am 5. Juli, nach vierzehn Tagen, während derer sie Rilke kennenlernt, der, wie erwähnt, die vielleicht größte Krise seiner Dichterexistenz durchlebt. [...] Einen interessanter Ansatz zur Betrachtung der wenn auch kurzen, so doch wichtigen Beziehung zwischen Rilke und Hedwig Bernhard bietet die Analyse der Literatur, die die beiden in Rippoldsau gelesen haben. [...] Danach wird der Briefwechsel zwischen Rilke und Hedwig Bernhard kurz skizziert, der ausführlicher bei Schmid (1984) und Storck (2000) kommentiert ist. Rein statistisch betrachtet, finden sich die meisten Briefe verständlicherweise zu Anfang, im ersten Monat ihrer Begegnung: im Juli 1913 schreibt Rilke vier Briefe, im August zwei, von September bis Dezember jeweils einen Brief monatlich an Hedwig Bernhard. Dann dünnt die Korrespondenz aus. Dieses allmähliche Abklingen hat verschiedene Gründe, allen voran wohl die Tatsache, dass Rilke am 22. Januar 1914 den ersten Brief von Magda von Hattingberg, seiner berühmten 'Benvenuta', erhielt und damit eine briefliche Leidenschaft und Liebe begann, die ihn das folgende halbe Jahr vollauf beschäftigte.
Das Faszinierende an Rilke geht weit über sein Werk hinaus: es ist dieses radikale Leben als Dichter, diese extreme Vereinzelung, die sich doch in den Priester-Dienst am Allgemeinsten stellt, das Menschen überall verbindet: die Sprache, die Natur, das Gefühl, die Kunst. Christusgleich, dornengekrönt, vaterlos, elternenttäuscht, die Mutter mehr Last und Pflicht als Halt, muss Rilke sich seine Gläubigen erst erschaffen, muss um sie werben, redet jeder Einzelnen zu, als sei sie die Einzige, unvergleichlich , unerreicht, jeder Hingabe wert - wenn nur die begrenzten Kräfte nicht wären und nicht das Werk, die Arbeit, die es jeden Tag zu beginnen gilt, die alle schön finden sollen, während das Ich des Dichters sich an keinem der erreichten Erfolge dauerhaft erfreut oder auch nur soviel Halt gewinnt, dass die Ängste weichen und die Abgründe sich schließen. Wer sich einer solchen Person psychologisch nähert, sollte jeden seiner Begriffe kritisch prüfen, ehe er ihn auf sie anwendet. Angesichts von Rilke scheinen hier die Begriffe der Hysterie und der Depression besonders problematisch, aber auch das Konzept der narzisstischen Störung funktioniert nur eingeschränkt.