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Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (KBW) wird seit vielen Jahren intensiv erforscht, das Werk Aby Warburgs in einer Studienausgabe herausgegeben. Das Interesse an seiner Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts reißt nicht ab. Umso erstaunlicher ist es, dass bislang Studien zu den an der KBW gehaltenen Vorträgen fehlten. Die von Fritz Saxl 1921 initiierten Abendvorträge spiegeln das intellektuelle Netzwerk der KBW und ihren wissenschaftlichen Anspruch wider und wurden bis 1931 in einer eigenen Reihe publiziert. Eingeladen waren wichtige Vertreter ihrer Fächer, die dennoch heute außerhalb ihrer jeweiligen Disziplinen oft in Vergessenheit geraten sind. In diesem Band werden die Vortragenden daher vorgestellt, bevor die Aufsätze sich auf das an der KBW referierte Thema konzentrieren. Gemeinsamer Bezugspunkt ist der erste in der Reihe der Vorträge, mit dem Saxl der Zuhörerschaft Warburgs Forschungsanliegen und -ansätze vorgestellt hatte. Wie nah ist der jeweilige Vortrag diesem Programm, wo setzt er sich davon ab, und welche der gedruckten Vorträge können als eine Erweiterung und Fortführung des Warburg'schen Ansatzes angesehen werden?
Franz Dornseiff ist heute kaum bekannt. Wenn überhaupt, dann kennen Nichtgräzisten sein Buch "Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen", das bedeutendste, von Thomas Mann, Peter Hacks u. a. hochgelobte und viel genutzte onomasiologische Wörterbuch der deutschen Sprache, das gegenwärtig in 8., erweiterter Auflage und auch digital vorliegt. Wenig deutet in seinem gedruckten Werk darauf hin, dass Dornseiff mit Aby Warburg und der KBW zu tun hatte. Warburg-Zitate sucht man vergeblich, und auch der Vortrag von 1924 über "Das Beispiel" erscheint zunächst merkwürdig erratisch. Immerhin wurde in dem Sammelband "Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen" Dornseiffs Vortrag 2007 erneut, aber kommentarlos abgedruckt. In der ausführlichen biographischen Darstellung durch seinen Leipziger Schüler Jürgen Werner fehlt ein Warburg-Bezug Dornseiffs, bis auf einen Hinweis auf die Vorträge der KBW, völlig. Dieser Ausgangsbefund hat sich im Laufe meiner Recherchen und Lektüren geradezu ins Gegenteil verkehrt: Dornseiffs Werk, so würde ich jetzt sagen, ist eng am Forschungsprofil von Warburg und der KBW angelehnt, viele seiner Themen lassen sich auf diesen Diskussionskontext beziehen. Im Nachlass von Dornseiff finden sich nicht nur sieben ungedruckte, zum Teil ausführliche Briefe sowie acht Postkarten Warburgs an Dornseiff, sondern auch die Briefwechsel mit Fritz Saxl und Gertrud Bing, den beiden wohl wichtigsten Organisatoren der KBW.
Erich Rothackers Vortrag von 1927 nimmt gegenüber den anderen Vorträgen in der KBW eine Sonderstellung ein: zum einen, weil es ein privatissime, also ein nicht öffentlicher, nur vor einem ausgewählten Publikum gehaltener und von vornherein nicht zum Druck geplanter Vortrag war; zum anderen, weil an diesem Tag mehrere Vorträge gehalten wurden, die offenbar in einem thematischen Zusammenhang standen. Aus dem Tagebuch der KBW geht hervor, dass Warburg um diese Zeit die Form der regulären Vorträge und deren Publikation als erschöpft ansah und mit neuen Formen experimentieren wollte. Vielleicht zeigt sich in der konstellativen Anordnung verschiedener Vorträge an einem Tag ein solches experimentelles Herangehen. Deswegen werde ich mich in meinen Ausführungen nicht allein auf Rothackers Vortrag, sondern auf den gesamten Vortragstag, den 16. Juli 1927, und die beiden anderen Vorträge dieses Tages beziehen.
Editorial
(2023)
Das Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte hat in seiner zwölfjährigen Geschichte immer wieder Begriffe an der Schnittstelle von Biologie sowie Gesellschaft und Kultur, insbesondere aber solche des ökologischen Diskurses thematisiert. [...] Das vorliegende, von der Slawistin Tatjana Petzer (Universität Graz) als Gastherausgeberin gestaltete Schwerpunktthema "Ecology in Eastern European Terminology" lässt sich als Fortsetzung dieser Thematiken verstehen. Die Beiträge verdeutlichen, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler osteuropäischer Länder und der Sowjetunion, die oftmals zunächst im engen Kontakt mit westeuropäischen Wissenschaftsentwicklungen standen, aufgrund der späteren, vor allem im Kalten Krieg forcierten Abkoppelung eigenständige Terminologien und Konzepte entwickelten, deren Zusammenhang mit westlichen Ideen dadurch verdeckt waren, und doch mitunter auch wieder auf sie zurückwirkten. Viele der behandelten interdisziplinären Begriffe (Biogeochemie, Biogeozönose, Metabolismus, Regulation oder Geocryologie) thematisieren den heute so intensiv diskutierten Zusammenhang zwischen Ökologie und Geologie.
Totalität
(2022)
Aus dem weiten Bedeutungshorizont des philosophischen Terminus soll im Folgenden 'Totalität' vor allem als Begriff in einer bestimmten neuzeitlichen Theorietradition thematisiert werden, in der er besonders prominent ist, und zwar in der zunächst im deutschen Idealismus verwendeten, dann vornehmlich im westlichen Marxismus prominent werdenden dialektischen Philosophie, wobei Gesellschaft zum paradigmatischen Gegenstand wird. Von Hölderlin über Hegel bis zu Lukács und Adorno lässt sich die Kategorie der Totalität wiederholt als eine dem Ideal des Kunstwerkes entlehnte erkennen. Beim jungen Hegel heißt es: "Jede Philosophie ist in sich vollendet und hat, wie ein echtes Kunstwerk, die Totalität in sich." Dennoch wäre es verfehlt, den philosophischen Gehalt von 'Totalität' allein als eine Übertragung von der Kunst auf die Gesellschaft anzusehen. [...] Bei dem hier interessierenden Begriff der Totalität geht es um die vermittelt gedachte, nicht um die unmittelbar geschaute oder gefühlte Einheit der Welt. Auf andere, seltenere Verwendungen, etwa Alexander von Humboldts eher in der Anschauung gegründeten, panoramatisch auf die "Totalität der Naturanschauung" gerichteten Gebrauch, wird hier nicht näher eingegangen. Hegels berühmtes Diktum: "Das Wahre ist das Ganze" jedoch gehört ganz wesentlich zu dieser Theorietradition, auch wenn er das Wort Totalität an dieser Stelle selbst nicht verwendet. Die Bestimmung: "Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen" ist die wesentliche Denkfigur, die auch Hegel selbst später mit dem Terminus Totalität gefasst hat. Die Debatten um den Begriff sind seit den 1920er Jahren, worauf am Ende einzugehen sein wird, zugleich hochpolitisch, was die morphologische und semantische Nähe von 'Totalität' als philosophischer Kategorie und 'Totalitarismus' als politischem Schlagwort zeigt.
Editorial
(2022)
Die vorliegende Ausgabe des FIB präsentiert in zwei Beiträgen die Geschichte von Begriffen, die in besonderer Weise der Idee des E-journals entsprechen. Denn ihre Bedeutung lässt sich nur Disziplinen überschreitend rekonstruieren. Die Literaturwissenschaftlerin Nicole Rettig untersucht den Begriff der Statik, Lea Watzinger den der Transparenz. Beide Arbeiten geben Einblick in begriffsgeschichtliche Thesen ihrer jüngst abgeschlossenen Qualifikationsschriften. [...] Clemens Knobloch zeigt in seinem Rezensionsessay zu dem von David Ranan herausgegebenen Glossar "Sprachgewalt. Missbrauchte Wörter und andere politische Kampfbegriffe", dass sich hinter dem Titel höchst anregende, gerade die widersprüchliche Pragmatik von politischen Gegenwartsbegriffen herausarbeitende Begriffsgeschichten auffinden lassen.
Die erste Monografie, die sich ausdrücklich und titelgebend mit der "begriffsgeschichtlichen Methode" befasste, stammt von dem jüdischen Religionswissenschaftler Lazar Gulkowitsch (1898–1941). Vier Jahre vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten veröffentlichte er 1937 "Zur Grundlegung einer begriffsgeschichtlichen Methode in der Sprachwissenschaft" in einer deutschsprachigen, der Wissenschaft des Judentums gewidmeten Reihe, die an der Universität Tartu (Dorpat), dem Ort seines estnischen Exils, erschien. Obwohl sich in den letzten Jahren verschiedene Publikationen Gulkowitsch und seinem Werk widmeten, ist seine Schrift zur Begriffsgeschichte selbst dem Fachpublikum dieser geisteswissenschaftlichen Methode unbekannt geblieben, ebenso wie die zahlreichen Untersuchungen, in denen er die Begriffsgeschichte auf den Begriff 'Chassid' (Frommer) sowie den Chassidismus anwandte. Gulkowitsch entwickelte dort an Konzepten der jüdischen Geistesgeschichte eine speziell auf die Geschichte des Judentums bezogene Theorie der Begriffsgeschichte, die aber zugleich mit dem Anspruch einer universalistischen Metatheorie der Geistesgeschichte für verschiedene Kulturen antrat.
Der Beitrag von Ernst Müller wendet sich 'Kristallisation' und 'Verflüssigung' zu, zwei Metaphern zu, die ungeachtet ihrer Gegenläufigkeit in den soziologischen Theorien von Arnold Gehlen und Zygmunt Bauman zum Einsatz gelangt sind, um die These eines Endes der Geschichte zu entfalten. Eine problemgeschichtliche Betrachtung der Vorgeschichte beider Metaphern führt mit Marx auf einen Referenzpunkt, der zugleich geeignet ist, Inkonsistenzen und ideologische Dimensionen der späteren Theorien und der sie grundierenden Metaphern zu beleuchten. Auch die Diskussion um 'Kristallisation' und 'Verflüssigung' ist mit der Frage verbunden, ob es sich um Metaphern oder um Begriffe handelt.
Editorial
(2021)
Fragen zur Metaphorologie bildeten bereits mehrfach einen Schwerpunkt dieser Zeitschrift. In den Beiträgen und Rezensionen der vorliegenden Ausgabe geht es mit 'Epoche', 'Tradition', 'Geschichte' sowie 'Kristallisation'/'Verflüssigung' um Begriffsmetaphern, also um solche, in denen begriffliche und metaphorische Gehalte untrennbar verbunden sind, und die zugleich konstituierend für allgemeinere geschichts- und zeittheoretische Fragestellungen sind. Den Anstoß für das Thema lieferte die internationale Tagung "Metafóricas espacio-temporales para la historia", die vom 9. bis 11. September 2019 unter der Leitung von Faustino Oncina Coves und Javier Fernández Sebastián an der Universität Bilbao stattgefunden hat und zu der Barbara Picht, Ernst Müller und Falko Schmieder Beiträge beisteuerten, die hier in überarbeiteter Form abgedruckt sind.