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Wissensarchäologie statt Bologna-Falle : Annäherungen an die russische Germanistik als Wissenschaft
(2008)
Der fremdkulturelle Blick der Deutschen auf die Germanistik in Russland wird vor allem durch die Tätigkeit der großen Mittlerorganisationen, allen voran des DAAD und des Goethe-Instituts, geprägt. Beide haben größte Verdienste daran, dass das kollegiale Netz zwischen Ost und West inzwischen ein wenig engmaschiger geworden ist, sie ermöglichen durch Wissenschaftsaustausch und Kulturtransfer allererst die gegenseitige Wahrnehmung der Germanistiken in beiden Ländern, aber sie definieren in dieser Stellung auch in einer gar nicht zu vermeidenden Weise die Logik, durch die die kulturelle Fremdwahrnehmung auf deutscher Seite gesteuert wird.
Die deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen sind historisch in einer Weise fundiert, die bis heute ihre Wirkungsmacht bewahrt hat. Als Peter der Große in Russland nicht nur ein Fenster nach Europa öffnete, sondern seinem Land eine Modernisierungsrevolution von oben nach westeuropäischen Mustern auferlegte, waren es auch und vor allem Deutsche, die er ins Land holte, um das Bildungsund Wissenschaftssystem der europäischen Neuzeit zu importieren. Deutsche waren es, die ganz wesentlich an der Konzeption und ab 1724 am Aufbau der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg beteiligt waren, das deutsche Universitätssystem stand Pate, als 1755 in Moskau die erste Universität unter anderem durch den in Marburg ausgebildeten Michail Lomonosov gegründet wurde. Mag es auch in der Geschichtswissenschaft umstritten sein, ob der Anteil der Deutschen am Aufbau des Wissenschafts- und Bildungssystems so extraordinär war, wie es in der Überlieferung oft behauptet wird, in jedem Fall ist diese Frage im kollektiven historischen Gedächtnis zugunsten der Deutschen fest entschieden.
Die Geschichte der Beziehungen zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik im Rahmen der Germanistik in den letzten 50 Jahren ist durchaus wechselvoll: einer zunehmenden Abkühlung, ja Entfremdung auf der einen Seite steht auf der anderen das wachsende Interesse an gemeinsam fruchtbar zu beackernden Arbeitsfeldern gegenüber. Ein Streifzug durch die Jahrgänge der Siegener Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) seit den frühen 70er Jahren gibt davon ebenso Zeugnis wie aktuelle Projekte kritischer Kooperation (Kasten/Neuland/Schönert 1997, Hoffmann/Kessler Hrsg. 2003) oder der Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen Aufarbeitung des Verhältnisses der beiden Fächer durch das Marbacher Literaturarchiv (Haß/König Hrsg. 2003). Im folgenden Beitrag wird ein kurzer Blick auf die diesbezügliche Situation in der Schweiz geworfen und ein konzeptueller Zugriff auf mögliche Berührungspunkte exemplarisch skizziert.
Meine Überlegungen auf diesen Seiten drehen sich um ein von Walter Benjamin handbeschriebenes Blatt Papier, an dem sich die "performative" Dimension von Benjamins Poetik paradigmatisch illustrieren lässt. Das Manuskriptblatt (Benjamin-Archiv Ms 931) wurde von Gershom Scholem auf ca. 1935 datiert und gehört thematisch in den Umkreis des etwa zwei Jahre vorher verfassten sprachtheoretischen Essays "Lehre vom Ähnlichen". Dort heißt es, dass die "Einsicht in die Bereiche des 'Ähnlichen' [...] weniger im Aufweis angetroffener Ähnlichkeiten [zu gewinnen sei] als durch die Wiedergabe von Prozessen, die solche Ähnlichkeiten erzeugen" (GS II, 204). In Benjamins Beschriftung von Ms 931 wird dies in die Tat umgesetzt: wir können uns den Schreibprozess, dem sich der handschriftliche Text auf jenem Blatt verdankt, als Selbsterforschung eines solchen Prozesses denken. In dem vorliegenden Versuch scheint jedoch, neben der Erzeugung von Ähnlichkeiten, die "Überwindung des Mythos" (Ms 931) als zweiter Pol am Horizont auf. Zusammen stecken jene beiden Pole ein dialektisches Spannungsfeld ab, in welchem sich sowohl Benjamins Schreibprozess als auch der meinige bewegen, und dessen Gesetzlichkeit das eigentliche Objekt dieser Überlegungen ausmacht. ...
Wie Enzensberger […] verdeutlicht, eröffnen literarische Texte […] einen Raum, in dem unterschiedliche und kontroverse wissenschaftliche Theorien […] miteinander kollidieren, wodurch ihre Bedingtheit und Relativität erkennbar wird. Die modernistische […] Vorstellung, Literatur sei subversiv, stelle in Frage, was immer sich als absolute Wahrheit ausgebe, relativiere die Ordnungen des Wissens und insbesondere alle sich verbindlich gebenden Theorien über den Menschen und die natürliche Welt, hat an Aktualität nicht verloren. […] Philosophen und Literaturtheoretiker verschiedenster Denkrichtungen kommen […] darin überein, daß Literatur subversiv ist: Gegen falsche Sicherheiten und gegen die Illusion absoluter Wahrheit gerichtet, deutet sie auf die Vieldeutigkeit aller Dinge und die Vielzahl inkompatibler Betrachtungsperspektiven hin, indem sie selbst vieldeutige und multiple Welten erzeugt. In dieser Eigenschaft ist das literarische Schreiben durch keinen anderen Diskurs ersetzbar. Die ihr hier zugeschriebene subversive Rolle als Instanz kritischer Reflexion über Begriffe, Theoriebildungen und Wissenschaft kann die Literatur allerdings nur dann spielen, wenn sie in engem und dauerhaften Kontakt zu den Wissenschaften bleibt. Die Kritik an Wissensdiskursen setzt einen ständig zu aktualisierenden .Informationsstand voraus: über die jeweils dominanten wissenschaftlichen Paradigmen, Kernbegriffe und Moden, die Strategien wissenschaftlicher Konstruktion und Darstellung dessen, was ist.
Science in Wonderland
(2008)
Lewis Carroll's Alice, who first explores Wonderland (1865) and later on the country behind the Looking-Glass (1872), belongs to the most well-known characters in world literature. [...] The scientific reception of Carroll's stories – concerning physics as well as the humanities – has taken place on different levels. On the one hand, […] various Carrollian ideas and episodes obviously correspond to topics, subjects and models that are treated in the contexts of scientific discourses. Therefore, they can be quoted or alluded to in order to represent theories and questions […] – as […] physical models of the world […]or theoretical models of language and communication. […] On a more abstract level of observation, Carroll's stories have been used in order to explain and to discuss the pre-conditions, the procedures, and the limits . of scientific modeling as such. Above all, they make it possible to narrate on the problem of defining and observing an 'object' of research. […] According to Deleuze, the paradox structures of the world that Alice experiences give an idea of all meaning being groundless and all logic being subverted by the illogical. Finally, besides all affinities of Alice's adventures to scientific attempts to explain the world, the absolutely incomprehensible is present in Carroll's books as well. Especially the self proves to be something profoundly incomprehensible […].
Mit der Abwendung von Norm- und Regelpoetiken […] wird der Weg frei für individuell-besondere, dezidiert anti-systematische Reflexionen über Literatur. Im 20. Jahrhundert ist es für die Mehrzahl der Schriftsteller selbstverständlich, das eigene literarische Schaffen theoretisch-reflektierend zu begleiten. Oft knüpft sich die poetologische Reflexion an persönliche Geschichten über Erlebnisse und Erfahrungen des Schriftstellers, unbeschadet der sogenannten poststrukturalistischen Totsagung des Autors (vielfach allerdings in direkter oder indirekter Reaktion auf diese). Erinnert sei an Uwe Johnsons „Begleitumstände“, an Peter Härtlings „Finden und Erfinden“, an Peter Bichsels „Der Leser, Das Erzählen“, an Hermann Lenz' „Leben und Schreiben“ als einige Vorlesungsreihen aus der Folge der Frankfurter Poetikvorlesungen, die hier stellvertretend für viele andere stehen können. Erscheint vielen Autoren das eigene Œuvre als nachhaltig durch persönliche Erfahrungen geprägt, so ist es nur folgerichtig, wenn Auskünfte über dieses Œuvre sich mit Berichten über eigene Erlebnisse verbinden. […] Zwischen Autobiographie und Fiktion bestehe allenfalls eine fließende Grenze, so […] Hermann Lenz in seiner (programmatisch betitelten) Vortragsfolge „Leben und Schreiben“; entsprechend sei das Schreiben über die Genese der eigenen Fiktionen reflexive Selbstdarstellung. Die Vortragssituation wird zur Spiegelfläche, auf der das Gesicht des Schriftstellers erscheint. Aber was für ein Gesicht ist das?
Goethe wie Hugo machten gelegentlich Gebrauch von Bruchstücken der Alchemie, die bei den Adepten früherer Zeiten zur Rezeptur des Okkulten zählten. Das Interesse der beiden Schriftsteller an der Ars Magna galt weniger den Ritualen magischer Operationen, als der in alten Bildern und Schriften enthaltenen häretischen Symbolik. Verankert war diese im geozentrischen Weltbild und in einem kosmosophischen Ideenhimmel, dessen Grund eine geheimnisvolle, zu allerlei Deutungen herausfordernde Verschmelzung der Erkenntnis mit der Imagination bildete. Der wahre Alchemist sah sich daher selber gern in der Rolle des Demiurgen, der mehr als nur eine Kunst zu beherrschen wusste, um mit ihrer Hilfe eigenwillige Werke hervorzubringen, in denen – wie flüchtig auch immer – Unsichtbares sichtbar und das Trübe ins Lichte verwandelt werden sollte. Rege Geister vom Schlage Goethes und Hugos konnten sich in diesem Selbstverständnis durchaus wiedererkennen und frei nach eigenem Gutdünken Figuren wie Faust und Claude Frollo schaffen, die – auch wenn sie von einem anderen Zeitgeist beseelt waren – ihre Verwandtschaft mit den antiquarischen Masken nicht verbergen.
Die Rede von einer ‚Berliner Frühromantik’ ist falsch, wenn damit das ‚Athenaeum’ der Berliner Salonkultur angegliedert und die frühromantische Forderung nach Urbanität mit der zeitgenössischen Berliner Wirklichkeit verbunden werden sollen. Das ‚Athenaeum’ ist vielmehr ein Zeugnis akademisch gelehrter Schriftsteller, deren eigene Formen der Geselligkeit – die Berliner Wohngemeinschaft und der gemeinsame Jenaer Hausstand – nichts mit großstädtischer Salonkultur zu tun haben, sondern ganz im Gegenteil homogene Exklusivgemeinschaften sind: ein einseitiger, enger Umgang, müsste man mit Nicolai und Garve sagen, der das kleinstädtische Risiko trägt, sich an sich selbst zu ermüden und zu frustrieren. So ist es dann ja auch gekommen.