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"… lebe fleißig Dein gutes neues Leben" : Rainer Maria Rilke als Gesundheits-Ratgeber seiner Mutter
(2012)
Im Gespräch Rainer Maria Rilkes mit seiner Mutter scheint deren körperlich-seelisches Befinden zu allen Zeiten eine zentrale Rolle gespielt zu haben, zumindest enthalten nahezu alle Briefe, die der Dichter an seine Mutter zwischen dem 5. Dezember 1896, einen Tag nach seinem 21. Geburtstag, und dem 29. November 1926, einen Monat vor seinem Tod, schrieb (wie übrigens auch die noch unveröffentlichten Jugendbriefe) Reaktionen auf dieses 'Befinden', das überwiegend wohl ein zu wünschen lassendes war. Es mag der allein lebenden Sophie Rilke ein besonderes Bedürfnis gewesen sein, sich über ihren Gesundheitszustand mit ihrem Sohn auszutauschen, doch auch Rilke selbst ermunterte, ja ermahnte seine Mutter, ihm hierauf bezogen nur nichts zu verschweigen: "ich bitte Dich immer ausführlich und aufrichtig davon zu erzählen", schrieb er ihr, denn "schließlich" sei das Befinden "die Grundlage von allem und der Hintergrund für jedes Ereignis und jede Freude".
"Mais pourquoi, Madonna, ma pensée était-elle souvent inquiète de vous et sou-cieuse, bien que je fisse effort pour imaginer que vous étiez auprès de cette femme admirable, dont le visage s’est associé malgré moi dans mon âme au souvenir de grandes oeuvres d’art!" So heißt es in einem Brief, den Rilke Madeleine Annette de Broglie im August 1906 von der Sommerresidenz seines Gönners Karl von der Heydt aus zukommen ließ. Mit feiner Feder ist ihm eingeschrieben, wie die Adelige mit italienischen Wurzeln auf den Dichter gewirkt haben mag, sie, die "Madonna", wie Rilke sie nannte. Über mehrere Jahre – die Korrespondenz erstreckt sich von 1906 bis 1909 – stand Rilke mit ihr, deren zweite Ehe mit Prince Robert de Broglie 1906 gerichtlich für ungültig erklärt wurde, in Verbindung.
Daniel Weidner kann am Beispiel der Goethe-Studie Georg Simmels (1913) nachweisen, dass der epistemologische Rückgriff auf Goethe die Geistes- und Kulturwissenschaften auch produktiv herauszufordern vermag. Anders als Dilthey und anders v. a. als Gundolf oder Spengler versuche Simmel theoretische Probleme oder Begründungsnöte des eigenen Diskurses anhand Goethes nämlich nicht zu verschleiern oder stillzustellen, vielmehr werfe er solche Probleme in seiner lebensphilosophisch wie kulturtheoretisch interessierten Monographie überhaupt erst systematisch auf. Zwar entstehe die große Faszination Goethes auch für Simmel zunächst durchaus aus einem klassischen Einheitsbegehren. Das Versprechen einer Vereinigung 'absolut' scheinender Gegensätze in der Figur Goethes führe Simmel aber nicht in die Sackgasse einer Monumentalisierung, sondern in eine "Art heiße Zone", in der "verschiedene Oppositionen und Begrifflichkeiten" verdichtet, reflektiert und permanent neu justiert werden müssten. Weidner zeigt dies v. a. anhand der drei für die zeitgenössische Kulturwissenschaft zentralen Konzepte von 'Individuum', 'Wert' und 'Leben'. Am Beispiel der Wert-Kategorie etwa stoße Simmel immer wieder auf das Problem, dass Werte zwar relativ seien, dass sie aber immer auch dazu neigten, sich in neue Endzwecke zu verwandeln. Und die Relation von Leben und Kunst gebe in Simmels Umkehrungen und in einer an Goethe selbst zurückgespielten Dialektik den Blick auf Prozesse der Konstruktion von Relationen als solcher frei. Es sei in letzter Instanz die Einsicht in die "Übergängigkeit zwischen verschiedenen Werten oder Wertgebieten", die Simmel als Goethes größte Leistung herausstelle. Zu fragen wäre, ob die von Simmel am Beispiel Goethes kategorisch aufgeworfenen Probleme der Letztbegründung, der Relationalität sowie der konsequenten Reflexion des Verhältnisses von Phänomen und Theorie sich nicht auch für die heutige Kulturwissenschaft nach wie vor stellen.
So schnell der Dichter und die Schauspielerin sich gegenseitig schätzen lernen, so kurz währt die Freundschaft. Nach einer kurzen, intensiven Beziehung bleibt nur eines übrig: die zwei Gedichte, die Rilke in der Nacht des 4. Juli in Geschenkexemplare des "Buch der Bilder" beziehungsweise des "Stunden-Buchs" eingetragen hat. Man kann zwar die zwei Gedichte als Denkmäler einer flüchtigen, dafür aber intensiven Begegnung begreifen, doch führt dieser hier kurz skizzierte biographische Kontext bei einem so innigen Dichter wie Rilke in die Irre. Denn das erste, längere Gedicht hat mit der vermeintlichen Geliebten gar nichts zu tun; wie so oft in seinem Leben nimmt Rilke die Beziehung zu einem anderen vielmehr zum Anlass, seine eigenen Gefühle zu erkunden. Was Sigmund Freud wohl als narzisstische Selbstliebe bezeichnet hätte, mag man etwas wohlwollender als die nötige Selbstbesessenheit des lyrischen Dichters verstehen. Wie dem auch sei: dem ersten Gedicht bleibt das Zwiegespräch, das "Du", vorenthalten. Dafür wendet sich das zweite, knappere Gedicht direkt an die Geliebte. Dass dieses Gedicht mit "Rainer", jenes mit der formelleren Unterschrift "RM Rilke", unterzeichnet ist, scheint die These einer Zuspitzung der Liebesgefühle, einer Öffnung des solipsistischen Ichs zugunsten einer wahren 'Begegnung', zu bestätigen. Was geschieht also im Übergang vom ersten zum zweiten Gedicht? Wie sind diese beiden Gedichte - sowohl innerhalb als auch außerhalb ihres unmittelbaren biografischen Kontextes - zu verstehen?
"Zwischen den Stühlen" : Warburgs Bildersprache als Positionsbestimmung seiner Kulturwissenschaft
(2017)
Zuallererst ein besessener Büchersammler und ein ebenso leidenschaftlicher Philologe wie Kunsthistoriker, hat Warburg die Bibliothek, die er als Privatgelehrter begründete, bald zu einem veritablen Forschungsinstitut ausgebaut, in dem Detailforschungen aus Kunstgeschichte, Philologie und Archäologie, aus Religionswissenschaft, Orientalistik und vielen anderen Fächern in ein gemeinsames Vorhaben eingebracht wurden. Mit der Leitfrage nach den psychischen Energien und den phobischen Motiven, die in die Rituale und Bilder, in die Gebärden und symbolischen Formen des menschlichen Ausdruckswillens eingegangen und darin gebunden sind, ist Kulturwissenschaft im Sinne Warburgs heute so brisant wie nie. Ebenso mit ihrer Aufmerksamkeit für die archaischen Ursprünge und außereuropäischen Korrespondenzen europäischer Kultur. Die Untersuchung der widerstreitenden Energien, wie Sigmund Freud sie für die Erinnerungen und Träume, für die Objekt- und Symptombildungen des Einzelnen erschlossen hat, verfolgen die von der Warburg-Bibliothek angestoßenen Studien im Feld der Kulturgeschichte und des Bildgedächtnisses. Wenn Warburg diese Arbeit als "kulturwissenschaftliche Zusammenhangskunde" charakterisiert, dann deshalb, weil sie tatsächlich nur aus einer Position 'zwischen den Stühlen' entstehen konnte und nur in Gestalt einer kollektiven Anstrengung realisierbar ist - und sein wird.
Im Ganzen gesehen verfügen Rilkes verstreute Widmungsgedichte nicht über eine defizitäre, sondern über eine andere Poetik als die in Gedichtsammlungen veröffentlichten, aber auch als die verstreuten nicht-gewidmeten Texte. Gründe genug also, im Folgenden einmal genauer nach einer Typologie und der Poetik von Rilkes verstreuten Widmungsgedichten zu fragen - zumal sich die Rilke-Forschung bisher weder mit diesen noch mit anderen Widmungen näher beschäftigt hat.
Einen einzelnen Satz aus der Bibel übersetzen: Dies ist die Aufgabe, an der die Protagonistin von Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan, die Simultandolmetscherin Nadja, scheitert. Der Satz, der auf Italienisch zitiert wird und ins Deutsche übersetzt werden soll, hat es offenbar in sich. Er lautet: "Il miracolo, come sempre, è il risultato della fede e d’una fede audace" – das Wunder ist, wie immer, das Ergebnis des Glaubens und eines kühnen Glaubens. Mit genau diesen Worten übersetzt Nadja den Satz; sie erkennt aber zugleich, dass sie ihn nicht wirklich übersetzen kann. Diese Paradoxie einer Übersetzung des Unübersetzbaren geht mit einer zweiten, intertextuellen Paradoxie einher. Nadja findet nämlich den Satz in einem Buch, das als "Il Vangelo" (das Evangelium) und "bloß die Bibel" bezeichnet wird. Doch der Satz lässt sich dort nicht nachweisen. Die Bachmann-Forschung, einschließlich der Kritischen Ausgabe zum Todesarten-Projekt, bezieht dazu keine Stellung und schenkt so dem Verweis auf die Bibel stillschweigend Glauben. Nur wenige Simultan-Interpretationen fällen das Urteil: Dies ist kein Bibelvers.
Im Folgenden werden zunächst punktuell symbolische und literarische Codierungen des Schwarzmeerraumes aus russischer bzw. sowjetischer Perspektive skizziert, um dann erneut auf Brodskys Entwurf einer mentalen Topographie in "Flucht aus Byzanz" zurückzukommen. Die (sowjet-)russischen Erfahrungen und Einschreibungen konnotieren den gesamten Essay. Brodskys antiöstliches Pathos erweist sich vor dem autobiographischen Hintergrund als eine antiimperiale Geste, als Abrechnung mit der Unfreiheit des Sowjetimperiums.