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„Man kann zu keinem gebildeten Deutschen von Dantes göttlicher Komödie sprechen“, sagt der Romanist Karl Voßler, „ohne ihn an Goethes Faust zu erinnern.“ Und weiter: „Die Zusammenstellung des größten italienischen mit dem größten deutschen Gedicht ist uns seit den Tagen der Romantik zur Gewohnheit geworden und hat ihre Berechtigung: aber nicht so sehr in einer tatsächlichen und quellenmäßig erweisbaren, als in einer inneren und eben darum tieferen Verwandtschaft der beiden Werke.“ (Karl Voßler: Die Göttliche Komödie. 1. Bd. Heidelberg: 1925, S. 1.)
(...) Was den Begriff ‚Weltliteratur’ betrifft, kann die aktuelle Goethe-Philologie indes geltend machen, daß die von Voßler bezeugte monumentale Auslegung weiter von Goethe entfernt ist als das prozessual-kommunikative Verständnis, das die neuere Forschung herausstellt. (...) Im Kompositum ‚Weltgedicht’ sind (...) im Blick auf Goethes Drama beide Singulare unpassend. (...) So wie in diese, Gedicht eine Pluralität von Dichtungen herrscht (...), so ist das Dargestellte nicht mit dem totalisierenden Singular ‚Welt’, sondern besser mit dem Plural zu benennen. Diese Vielfalt auf die Einheit ‚Weltgedicht’ zu bringen ist (...) der Versuch, Goethes „Faust“ Katholizität zuzusprechen. Dieser Versuch ist heute als Wirkungsgeschichte der suggestiven, doch unpassenden Dante-Analogie zu beschreiben und zu beenden.“
Weltkulturerbe
(2016)
In der 1972 verabschiedeten 'World Heritage-Konvention' der Unesco gelobt jeder der Unterzeichnerstaaten "Erfassung, Schutz und Erhaltung in Bestand und Wertigkeit des in seinem Hoheitsgebiet befindlichen […] Kultur- und Naturerbes sowie seine Weitergabe an künftige Generationen". So wie in dieser Formel, ist das Konzept des 'Erbes' auch sonst begriffs- und diskursgeschichtlich mit dem der intergenerationellen Übertragung verknüpft. Das gilt für alle drei Aspekte des Erbe-Begriffs, wie er sich – in eben dieser Dreigliedrigkeit – seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hat: für die zivilrechtlich kodizifierte Eigentumsübertragung, für die biologische Weitergabe von Eigenschaften (bzw. deren Anlagen) und für die kulturelle Traditionsbildung. Was aber heißt es eigentlich, Praktiken der Weitergabe von 'Kultur' mit der Bezeichnung 'Erbe' zu belegen?
The notion of world literature is often understood as a global distribution of literary forms and structures from Europe to the rest of the globe. Under the premise that non- European literatures don't just reproduce European forms, but reinterpret and change them in the process of adaptation, world literature can be defined as a "productive misunderstanding". This article attempts to show that Orhan Pamuk's novel "Masumiyet Müzesi" ("Museum of Innocence") is in this sense a productive appropriation of European forms of the novel. Pamuk's novel is a narration about the modernization of Turkey in the 20th century, which is depicted as a chain of faulty imitation that nevertheless creates something new. Similarly, the "Museum of Innocence" is characterized by an abundance of intertextual relations to the tradition of European novel (e. g., to Proust's texts), which, however creates a "productive misunderstanding".
Weltmusik
(2018)
Der Begriff der Weltmusik produziert Fremdheit. Die Erzählung seiner Geschichte beginnt üblicherweise mit der Verwendung durch den Musikwissenschaftler Georg Capellen, der 1905 für einen 'neuen exotischen Musikstil' plädiert: Waren 'exotische' Motive bislang nur als "Kuriosum" in der europäischen Musik vertreten, erhofft sich Capellen, "falls unsere Komponisten sich in die neuen Ausdrucksformen einzuleben und die fremdartige Nahrung in eignes Blut umzuwandeln vermögen", die Etablierung eines "exotisch-europäische[n] Mischstil[s] oder (um mich phantastisch auszudrücken) eine[r] 'Weltmusik'". Dabei spielt für Capellen keine Rolle, dass in dieser Reduktion auf die Harmoniestrukturen europäischer Kunstmusik gerade die Charakteristika zahlreicher außereuropäischer Musiken ausgestrichen bleiben müssen; zu schweigen von der Inkommensurabilität der europäischen Taktordnung mit anderen Formen der Rhythmik. Bereits 1902 verweist Friedrich Spiro indes auf eine verwickelte Geschichte des Begriffs.
Weltschmerz
(2018)
"Nur sein [Gottes] Auge sah alle die tausend Qualen der Menschen bei ihren Untergängen - Diesen Weltschmerz kann er, so zu sagen, nur aushalten durch den Anblick der Seligkeit, die nachher vergütet." Und so kommt er in die Welt, dieser eigentümliche Schmerz, der im Kontext seiner literarischen Geburt zunächst ein rein göttliches Befinden auszudrücken scheint, als 'Genitivus objectivus' vielleicht aber auch den Schmerz der Welt postuliert. Sein Schöpfer Jean Paul (1763−1825) hat den Begriff im Text nicht eigens markiert, ihn weder formal noch erklärend als Neuschöpfung konstituiert. Der Weltschmerz tritt eher beiläufig auf (das "so zu sagen" im Zitat bezieht sich auf das göttliche Aushalten desselben); er fügt sich in den Text, als wären Autor und Leser gleichermaßen vertraut mit ihm. Und tatsächlich wird der 'Weltschmerz' im Nachhinein als eine Art Begriffsvehikel für ein weitgehend älteres Befinden gedeutet - eine innere Zerrissenheit und Trauer über die Unzulänglichkeit der Welt -, das keiner zusätzlichen Erläuterung bedurfte und in der Spätromantik lediglich ein neues sprachliches Gewand erhielt.
Der Aufsatz vergleicht das barocke Trauerspiel 'Catharina von Georgien' mit der spanischen comédia 'El principe constante' in Hinblick auf ihren Anspruch universaler Geltung und setzt beide von der antiken Tragödie 'Antigone' ab. Besonderes Augenmerk wird dabei der Rolle sprachlicher Ambivalenz sowie der Figur des Gespenstes gewidmet.
"Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe - dieser Textur - verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge" (Barthes 1986: 94). Dieses Zitat von Roland Barthes aus Die Lust am Text enthält so etwas wie das Programm des Schreibens und Lesens von Hypertexten. Da ist zunächst das Bild des Netzes, genauer, des "Web", das als ständig im Entstehen begriffenes Gewebe gefaßt wird. Auch der Hypertext ist, zumindest der Theorie nach, "ständig im Entstehen begriffen", ein Netz von Verknüpfungen. Die Spinne, die sich in ihrem eigenen Saft auflöst und sich dergestalt als entsubjektivierte Netzerzeugerin zum Verschwinden bringt impliziert die These vom Tod des Autors - Stichwort: "wen kümmert´s wer spinnt?"
Charakteristischerweise geht die Praxis der Physiognomie mit deutlichen Linien, Markierungen und Figuren einher und verheißt so etwas wie ein System, Entzifferbarkeit und Universalität. In dieser Hinsicht ist Le Bruns 'Grammatik des Gesichts' exemplarisch. Doch hier werde ich mein Augenmerk auf Situationen und Gemälde richten, in denen die physiognomische Information partiell, mangelhaft, vage oder doppeldeutig ist. Oberflächlich betrachtet sind derartige Szenarien das Gegenteil der Le Brun'schen Lesbarkeit und dem ordnungsbewussten Physiognomiker damit ein Gräuel. Doch ich werde im Folgenden deutlich machen, dass diese pikturalen Lücken und Fehlstellen Bedeutung keineswegs negieren, sondern die Imagination des Betrachters vielmehr anregen und ihn emotional einbeziehen. Es gilt, einen physiognomischen Prozess des Entschlüsselns und Analysierens zu untersuchen, der sich etwas von dem Le Brun'schen Modell unterscheidet, gleichwohl aber auf körperlicher Expressivität beruht. Außerdem werde ich die These vertreten, dass die hier identifizierten Tendenzen in der Malerei sich im Einklang mit kognitiven Prozessen und Betrachtungsweisen jener Zeit befinden.
Saiyid Ahmad Khan (1817−1898) gilt bis heute in Indien und Pakistan als einer der großen Reformer, der sein ganzes Lebenswerk darauf gerichtet hat, die Muslime in die Moderne zu führen, vor allem nach dem verheerenden Aufstand von 1857. [...] Saiyid Ahmad Khan sah seine Aufgabe als eine doppelte: zum einen galt es, das verlorene Vertrauen der Kolonialmacht zurück zu gewinnen, denn eine Modernisierung, so meinte er, sei nur mit der Kolonialmacht, nicht gegen sie zu erreichen. Zum zweiten strebte er danach, das muslimische Bildungssystem zu reformieren - strukturell und inhaltlich - um die Muslime in die Lage zu setzen, ihren Bildungs- und Zivilisationsrückstand, oder was er dafür hielt, zu überwinden. Damit wollte er den Weg freimachen für eine Erforschung der Natur, die sich von den theologischen Vorgaben löste. Dies beinhaltete keine Abwendung von den religiösen Wahrheiten, sondern sollte vielmehr den von ihm zeitlebens festgehaltenen Anspruch untermauern, dass Gottes Wort in der Offenbarung und Gottes Werk in der Schöpfung nicht im Widerspruch zueinander stehen könnten. Vor allem aber ging es darum, die Muslime mit dem westlichen Wissenskanon vertraut zu machen und ihnen den Zugang zu moderner, d. h. englischer Bildung zu ermöglichen. [...] Umso mehr erstaunt es, dass 'modern' und 'die Moderne' als Begriffe in seinen Schriften überhaupt nicht auftauchen. 'Modern' im Unterschied zu 'neu' ist im Urdu des späten 19. Jahrhunderts nicht übersetzbar, es fehlt schlichtweg das Wort. Es kommt auch nicht, wie es vielleicht zu erwarten gewesen wäre, zu einem Neologismus oder zu einer Transkription des englischen Begriffs in die Urdu-Schrift, sondern Saiyid Ahmad Khan und seine Mitstreiter, aber auch seine Gegner, behelfen sich weiterhin mit verschiedenen Varianten des Wortes 'neu'.