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Dennis Bock stellt in seinem Beitrag "'Denn es geht hier nicht um Mögen oder Nichtmögen. Die Muselmänner stören ihn, das ist es' - Erzählungen über Muselmänner in der Literatur über die Shoah heraus", wie durch die narrative Variation der im Rahmen der Shoah-Literatur inventarisierten Figur des Muselmanns und dem mit ihr verbundenen konventionalisierten Narrativ ein Störpotential erzeugt wird, das den Fokus auf die Berührbarkeit eines Tabus legt. Es ist die Berührbarkeit des Todes, die durch die erzählerische Identifikation mit einer zwischen Leben und Tod begriffenen Figur evoziert wird, und dergestalt einen Reflexionsprozess in Gang setzt.
Die Erfahrung von Auschwitz bleibt eine offene Wunde, eine in der Zeit dauernde Frage, die auch die Gegenwart betrifft. In seinem Gedicht "Lehren ziehen" beschwört Günter Kunert die Welt der Konzentrationslager herauf, und er findet dort die Wurzeln eines Übels, das die Existenz der Menschheit bedroht. [...] In den ersten fünf Versen läßt der Dichter eine Situation wieder aufleben, die Primo Levi mehrfach in "Se questo è un uomo" (1947) beschrieben hat [...] Das von Kunert aufgerufene Bild verweist unzweifelhaft auf diese Erfahrung. Aber nach mehr als vierzig Jahren zeitlichen Abstands läd es sich auch auf mit Elementen aus der nachfolgenden Geschichte, und nicht nur der deutschen. [...] Das nur aus einer Strophe bestehende Gedicht ist Primo Levi gewidmet, wie der geklammerte Untertitel angibt, der seinen Namen zwischen lateinischer Erinnerungsformel und den Leerzeilen zum Gedichtanfang aufspannt. Das 1989 geschriebene Gedicht erinnert an den italienischen Autor, der 1987 unter nicht geklärten Umständen umkam.
Von vielen Überlebenden, die über das Erlittene geschrieben haben, ist bekannt, dass auch sie Schuld empfanden - viele von ihnen konnten "nicht mehr heimisch werden in der Welt", die "Schmach der Vernichtung" nicht mehr austilgen. Nicht selten endete ihr Überleben im Freitod, wie bei Jean Améry, Paul Celan und Primo Levi.
Vielfältig sind die Definitionen, die das Überlebensparadigma im Sinne eines die Weltsicht prägenden Denkmusters zu erfassen versuchen, und verschieden sind die Aspekte, die der Betrachter in seiner Auffassung jeweils als die dominierenden pointiert. Nichtsdestoweniger wurzelt das moderne Verständnis vom 'Überleben' zuletzt im evolutionistischen Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Unter dem evolutionistischen Diskurs sind nicht bloß Darwins Werke zu verstehen, sondern vielmehr die Konstellation von Autoren, Diskursen, Berichtigungen, Anregungen, Ergänzungen, die sich um Darwins Evolutionstheorie drehen und die den Namen Darwinismus tragen. Anders ausgedrückt: Unsere Auffassung des Überlebensbegriffs ist in diesem Diskurs verfangen und kann von ihm nicht restlos loskommen. Dies gewinnt an höchster Evidenz in den Reflexionen über das Überleben von kulturellen Artefakten, die in Analogie zu den Exemplaren bestehender Spezies als Resultat einer 'natürlichen' Auslese gedeutet werden. Unter den unzähligen Beispielen einer Übertragung des Auslesegesetzes von der biologischen auf die kulturelle Evolution mag hier die Reflexion von Hans Blumenberg vorgeführt werden, denn sie bietet viel mehr als eines der rein evolutionistischen Modelle, die eine Erläuterung des kulturellen Überlebens präsentieren. Kein weiterer Autor hat meines Erachtens in der Nachkriegszeit solch einen anspruchsvollen Versuch unternommen, das Darwinsche Evolutionsgesetz jenseits der Fehlschlüsse des Sozialdarwinismus wiederherzustellen und es für die kulturelle beziehungsweise ästhetische Anthropologie fruchtbar zu machen. Des Weiteren erzielte Blumenberg mit seiner theoretischen Berichtigung zuletzt die Beschreibung eines humaneren Modells der kulturellen Produktion, dessen ethische Dimension im Folgenden auszuloten ist. Das Heranziehen einiger Betrachtungen über Primo Levis narrative Erfahrung dient anschließend dazu, die ethische Grundproblematik herauszudestillieren, die das Verbleiben in diesem - obschon korrigierten - Überlebensparadigma in Hinblick auf das historische Gedächtnis impliziert.
In der von Adorno häufig gebrauchten Periodisierung 'Nach Auschwitz' artikuliert sich das Bewusstsein einer historischen Zäsur, die zu einer Revision der überkommenen Grundbegriff e und kulturellen Leitvorstellungen nötigt. Die Tiefe des zivilisatorischen Einschnitts lässt sich daran ermessen, dass er sogar die vermeintlich unverrückbare Relation von Leben und Tod fundamental verändert hat. Im Folgenden möchte ich verschiedene Formen der Zerrüttung dieser Relation durch den Nationalsozialismus untersuchen. Ich thematisiere das nationalsozialistische Programm der Vernichtung durch Arbeit, den Umgang der Nazis mit den Körpern der Ermordeten, die Gestalt des Muselmanns, die medizinischen Menschenversuche der Nazis sowie die Spätfolgen und Nachwirkungen der Konzentrations- und Vernichtungslager. Es versteht sich von selbst, dass im Rahmen eines Aufsatzes keines dieser Themen auch nur annähernd detailliert ausgeführt werden kann. Ein Ziel meiner Ausführungen liegt in der Analyse verschiedener Formen und in der Darstellung der spezifischen Charakteristika und Folgewirkungen der Formen, in denen die Nazis traditionelle Bestimmungen des Verhältnisses von Leben und Tod verändert oder zerstört haben.