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Die Suche nach der meistgehaßten Berufsgruppe führt schnell zu einem Ergebnis, jedenfalls wenn man zahlreichen deutschsprachigen Werken der Gegenwart Glauben schenkt: Den Spitzenplatz einer solchen Statistik würden zweifellos die Literaturkritiker belegen. Goethes "Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent" wurde in den fiktiven Welten der Literatur seit Jahrhunderten in die Tat umgesetzt. Man erinnere sich nur an Bürgers Reaktion auf Schillers Attacken, die aggressiven Kritikersatiren von Heinrich Heine und Karl Kraus oder in der Literaturtheorie an die Exekution von Autor und Kritiker in Roland Barthes' 'La mort de l'auteur'. Selbst Thomas Manns Tagebücher zeugen von dessen "nächtlichen Haßwellen" gegen jeden Criticus. Seit es Literaturkritik gibt, gibt es auch die literarischen Vernichtungsphantasien der Schriftsteller gegenüber ihren Rezensenten, dennoch häufen sich in den vergangenen Jahren Texte, in denen mit Kritikern mehr als unsanft verfahren wird. Die höchsten Wellen schlug sicherlich der Mord an André Ehrl-König in Martin Walsers 'Tod eines Kritikers'. Allerdings wird er bekanntlich vom Mordopfer selbst nur inszeniert, denn Ehrl-König will für einige Zeit in charmanter Begleitung dem harten Literaturgeschäft entfliehen. Bodo Kirchhoffs "Großkritiker" Louis Freytag erleidet in Schundroman ein unangenehmeres Schicksal: Er stirbt an einem "Hieb ins Gesicht", der ihn als "Mann der Symbole" freilich bis ins Mark treffen mußte". Selbst wenn der Ich-Erzähler in Franzobels 'Shooting Star' seine Tötungsphantasien Marcel Reich-Ranicki sowie anderen Literaturkritikern gegenüber gerade noch im Zaum hält, startet er doch einen Rachefeldzug gegen Vertreter dieser Zunft: "So habe ich in unzähligen Nächten den Kritiker Gabor Keithel, der mir vorgaeworfen hat, daß ich nichts, aber auch wirklich nichts zu sagen habe, angerufen, und ihm mein Schweigen vorgeführt. Bei diversen Versandhäusern habe ich in seinem Namen Einbaumöbel bestellt, ihm einen Transvestiten geschickt, Kammerjäger, die dümmsten Leserbriefe in seinem Namen geschrieben, mich als er in Radiosendungen lächerlich gemacht. Auch bin ich in seinem Namen aus der Kirche ausgetreten, habe seiner Frau als Ermanno Peperoni glühende Liebesbriefe geschrieben und schließlich eine Keithel-Todesanzeige in die Zeitung setzen lassen und noch vieles mehr. Ich habe versucht, ihn zu vernichten, diese lächerlich verkniffene Intrigantenfigur."
Wie, so frage ich, soll man als Literaturhistoriker noch über Martin Walser schreiben, ohne unter Verdacht zu geraten, ihn für seine Friedenspreis-Rede mit einem Angriff auf sein literarisches Werk abzustrafen? Auf den Knien, wie Frank Schirrmacher oder auf dem Bauch, wie Franziska Augstein ? Muß man "zittern" wie der Geehrte, wenn nüchterne Analyse und nicht Huldigung das Ziel ist? Wird man zu den "Überführungsexperten (...) auf der Suche nach jenem letzten, allen Verdacht bestätigenden Beweis" gezählt, wenn man sich auf die philologische Suche nach den Quellen der Frankfurter Rede begibt?
Was für ein Buch hat Martin Walser nach Meinung einer gewissen Fraktion des deutschen Feuilletons geschrieben? Ein gelungenes oder ein mißlungenes? Ein überzeugendes oder ein abstoßendes? Ein spannendes oder ein langweiliges? "Das alles wären […] nur Kategorien für ein 'schlechtes' oder 'gutes' Buch. Ich aber halte Ihr Buch für ein Dokument des Hasses." So Frank Schirrmacher in seinem offenen Brief in der FAZ (29.5.2002), mit dem die Debatte beginnt. Nicht daß Schirrmacher nicht wüßte, er habe es mit Literatur, mit Fiktion zu tun. "Ich bin imstande, das literarische Reden vom nichtliterarischen zu unterscheiden." Aber ich will nicht. Hier und jetzt ganz und gar und durchaus nicht.
Kein gutes Buch also. Aber auch kein schlechtes. Gar kein Buch. Vielmehr ein Dokument, das, er mag es wollen und wissen oder nicht, Zeugnis über seinen Autor ablegt. Für ihn oder gegen ihn. Und was bezeugt es, Schirrmacher zufolge? "Es geht hier nicht um die Ermordung des Kritikers als Kritiker [. . .] Es geht um den Mord an einem Juden." Hätte also Walser seinen André Ehrl-König als Kritiker ermorden, als Juden, als Person aber leben lassen (denn wer so ohne Umschweife vom Juden spricht, wie Schirrmacher es tut, muß wohl Judentum und Persönlichkeit gleichsetzen), dann wäre sein Buch möglicherweise immer noch schlecht, aber es wäre immerhin ein Buch und kein "Dokument des Hasses ", in dem es gar nicht um Medienkritik, sondern um Antisemitismus geht.
Walsers Text führt einen falschen, täuschenden Titel: "Tod eines Juden" müßte er lauten, und nicht Tod eines Kritikers. Diese Meinung hat Schule gemacht. Walser zeichne "einen widerlichen Kritiker als Juden" schreibt Ruth Klüger in ihrem offenen Brief an ihn in der Frankfurter Rundschau vom 27. Juni 2002. "In diesem Buch spricht immer nur eine Stimme", findet Jan Philipp Reemtsma in seiner ausführlichen Besprechung vom 27. Juni 2002 in der FAZ. Alle übrigen, den Roman figurierenden Stimmen gelten ihr gegenüber nichts, weil sie alle "von ähnlichen Affekten getragen werden, nämlich denen des Autors".
Um die Vorwürfe zu entkräften, die gegen sein Stück Der Müll, die Stadt und der Tod erhoben wurden, gab Rainer Werner Fassbinder folgende Inhaltsangabe: "Die Stadt läßt die vermeintlich notwendige Dreckarbeit von einem, und das ist besonders infam, tabuisierten Juden tun, und die Juden sind seit 1945 in Deutschland tabuisiert, was am Ende zurückschlagen muß, denn Tabus, darüber sind sich doch wohl alle einig, führen dazu, daß das Tabuisierte, Dunkle, Geheimnisvolle Angst macht und endlich Gegner findet." Fassbinder äußert sich hier, als hätte er ein Stück im Stil von Brechts Rund und Spitzköpfen geschrieben. Doch gerade er hat dem Dunklen, Geheimnisvollen, Angstmachenden, das er vom Tabu ausgehen sieht, selbständige Gestalt erst gegeben, als er die Figur des "reichen Juden" in den Mittelpunkt seines Stücks rückte. "Dieser Jude", sagt Fassbinder, "ist reich, ist Häusermakler, trägt dazu bei, die Städte zuungunsten der Menschen zu verändern; er führt aber letztlich doch nur Dinge aus, die von anderen zwar konzipiert wurden, aber deren Verwirklichung man konsequent einem überläßt, der durch Tabuisierung unangreifbar scheint." Während die anderen, die Mächtigen der Stadtverwaltung, mit der "Dreckarbeit" jeweils einen Zweck verfolgen, führt der Jude sie um ihrer selbst willen aus. Davon handeln seine Monologe: "Es muß mir egal sein, ob Kinder weinen, ob Alte, Gebrechliche leiden. Es muß mir egal sein. Und das Wutgeheul mancher, das überhör ich ganz einfach. Was soll ich auch sonst. [...] Soll meine Seele geradestehen für die Beschlüsse anderer, die ich nur ausführe mit dem Profit, den ich brauche, um mir das leisten zu können, was ich brauche. Was brauch ich? Brauche, brauche – seltsam, wenn man ein Wort ganz oft sagt, verliert es den Sinn, den es ohnehin nur zufällig hat. Die Stadt braucht den skrupellosen Geschäftsmann, der ihr ermöglicht sich zu verändern. Sie hat ihn gefälligst zu schützen." (S. 681). ...
Schriftsteller sind auch nur Menschen und wollen sich genauso an der jeweiligen Tagesdebatte beteiligen können und sich im Diskursgeschehen der Gesellschaft genauso Gehör verschaffen wie der 'normale' Bundesbürger (wenn sie nicht selbst schon Ursache der Tagesdebatte sind). Doch ist ein Autor 'nur' ein 'normaler' Bundesbürger? Hat er oder sie nicht eine besondere Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, gebührt seiner oder ihrer Stimme nicht ein besonderes Gewicht in der öffentlichen Debatte? So haben wir's doch seit dem deutschen Idealismus gehalten: der Dichter ab Stimme des Volkes, als Statthalter des Gewissens, als Wegweiser und Vordenker, Mahner und Warner und was noch alles mehr. […] An zwei Beispielen, Heinrich Böll und Martin Walser, will [der Autor] nicht nur prüfen, warum gewisse 'menschliche' Äußerungen, die sie taten, „durch Publizität zum Spott oder zum Skandal“ wurden, sondern auch wie sich beide Autoren nachträglich dazu äußerten, und was wir daraus wohl schlußfolgern können.