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Entwurf der Lyrik
(1994)
Die Frage, auf die dieses Buch eine Antwort zu geben versucht, lautet: Was weiß die Lyrik? Die Frage richtet sich an die europäische Tradition, soweit sie dafür in Betracht kommt, also an die Neuerfindung der Poesie in der Renaissance und die prägnanten Momente im achtzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, in denen das Projekt der Dichtung als einer eigenen Wissensinstanz im analytischen Zusammenspiel mit den Wissensmodellen der Zeit wieder aufgenommen und weiter getrieben wurde. Die Untersuchungen zu Celtis, Shaftesbury, Klopstock und Valéry (mit einem kurzen Ausblick auf Stefan George) haben modellhaften Charakter, sie gelten den Grundvorstellungen, die in Werk und Theorie der genannten Autoren ihre Stunde hatten.
Dass Paul Valéry, zunächst über seine Schriften, später auch persönlich als Vortragsredner, den einundzwanzig Jahre jüngeren Walter Benjamin intellektuell stark beeindruckt hat, ist in dessen Briefen, Aufsätzen und Rezensionen, dem Verzeichnis der gelesenen Schriften und dem Quellenverzeichnis zum Passagen- Werk gut dokumentiert. Danach lernte Benjamin von Valérys Werk seit Mitte der 1920er Jahre neben der Lyrik und 'Monsieur Teste' auch die literaturtheoretischen und kulturkritischen Essays kennen: zunächst den ersten Band der Sammlung 'Variété, Eupalinos ou l’architecte' und 'L’ Âme et la danse', dann auch die 'Introduction à la méthode de Léonard de Vinci, L’ Idée fixe' (wohl 1934), die 'Pièces sur l’art' und 'Regards sur le monde actuel', beide in der Ausgabe 1938. Fasziniert hat Benjamin an Valéry nach Ausweis seiner bisweilen geradezu hymnischen Urteile vor allem die Betonung der Intellektualität und Bewusstheit gerade auch bei den vagen Objekten der ästhetischen Reflexion und damit die Gegnerschaft zum surrealistischen Konzept. Ihre Nähe ist gelegentlich aber auch mit der gemeinsamen Affinität zum Aphoristischen in Verbindung gebracht worden, die in Benjamins Valéry-Lob keinen direkten Niederschlag findet. Ich will daher hier einmal etwas genauer der These einer generischen Nähe zweier Korpora von kurzen Reflexionen uneinheitlicher Textsortenzugehörigkeit nachgehen, die kurz nacheinander erschienen sind - und vielleicht auch nicht ganz unabhängig voneinander: Valérys 'Rhumbs' (die hier metonymisch für verschiedene Einzelsammlungen aus dem später sogenannten 'Tel-Quel'-Konvolut stehen) und Benjamins 'Einbahnstraße'.