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Jan-Hendrik Müller und Stefanie Zingl verfolgen mit ihrem radikal empathischen Ansatz des Archivierens Strategien des In-Beziehung-Setzens filmischen und afilmischen Materials, wobei sie den Nachlass der österreichischen Schauspielerin und Filmemacherin, Elfriede Irrall, ins Zentrum ihrer Untersuchung stellen. Ziel dieser Auslegungen des archivarischen Kuratierens ist es, dominierender Filmgeschichtsschreibung von den Rändern her zu begegnen und sie mit anti-kanonischen Ordnungsprämissen zu konfrontieren, die dem teleologischen Positivismus der Filmgeschichte etwas entgegenstellen.
Der Untertitel meines Textes spielt offensichtlich mit einer Phrase Martin Heideggers, die häufig verkürzt wie eine simple sprachliche Gleichung formuliert wird: Herkunft = Zukunft. Der "Primat der Zukunft", die Akzentuierung des herzustellenden Werks, welche die Vergangenheit der kommenden Zeit unterwirft, ist eine rhetorische und epistemische Figur, die ich einerseits aus spezifisch medienarchäologischer Sicht kommentieren, anderseits mit einem Erweiterungsangebot bedenken möchte, das auf aktuelle kulturtechnische Sachverhalte reagiert. Die Unterwerfung des gerade Vergangenen unter die Anforderungen des Künftigen als eine Geste gleichsam ökologischer Verkoppelung. Kulturproduktion im Energiesparmodus: Die Avantgarde – wenn man diesen Begriff noch verwenden darf – wird durch die Nutzbarmachung und schöpferische Neuinterpretation der vergangenen Gegenwarten brisant und mitunter brillant, wenn sie den Transformationsprozess in ästhetisch überzeugender Manier zu schaffen in der Lage ist. Ich diskutiere das Thema in vier Abschnitten: zwei Hinführungen über einen Umweg, einem exemplarischen Mittelteil und einer vorsichtig verallgemeinernden Bewegung als Ausgang, die keinesfalls als letztes Wort in unserem Kontext begriffen werden möchte, sondern als Beginn einer Diskussion.
Archiv
(2005)
I. BEGRIFFSGESCHICHTE. Archiv (von gr. archeion bzw. lat. archivum) bezeichnet das Amtsgebäude, in dem bestimmte Dokumente (Urkunden, Akten, Amts- und Geschäftsbücher) aufbewahrt werden, die zu rechtlichen oder administrativen Zwecken erhalten werden sollen. In einem weiteren Sinne sind Archive Institutionen, die der selektiven Sammlung und der konservierenden Speicherung von Dokumenten aller Art (nicht nur schriftliche, sondern auch Bild- und Tondokumente) dienen. Im Unterschied zu Bibliotheken und Museen, mit deren Arbeit sich das Archiv zum Teil überschneidet, zeichnet sich das Archiv dadurch aus, daß das Archivgut, "nur zu einem kleinen Teil von vornherein als dauerndes Zeugnis [...] angelegt wurde" (Franz 1989,2).
Im vorliegenden Versuch nehme ich mehrere Schritte: Zunächst spreche ich über das Innenleben staatlicher Archive und zwei Typen von Papierorganismen. Zum einen geht es dabei um die Wahrnehmung der materiellen Gestalt bürokratischer Vorgänge und der spezifischen Zeitlichkeit, die sie verkörpern. Zum anderen um die Angst vor deren Zersetzung durch biologische Organismen. Das wäre der zweite Typ von Papierorganismus. In einem weiteren Schritt geht es mir darum, diese stummen Geschichten aus dem Inneren der Archive als Ausgangspunkt für ein Modell historischer Zeiten zu nehmen, das die Materialität der Archive als solide und konkrete Metapher auffasst, das also die metaphorische Bedeutung aus der Materialität des Geschriebenen bezieht. Ein Modell, das etwas weniger spekulativ, etwas weniger philosophisch ausgerichtet ist, als etwa Reinhart Kosellecks, dafür aber umso mehr dazu anregt, eine Theorie historischer Zeiten und empirische Forschung einander anzunähern. Das Archiv der Bürokratie dient hier freilich lediglich als Modell, um an einer Form der verkörperten Vergangenheit materielle Eigenzeitlichkeit als beweglichen Untergrund der Geschichtsschreibung zu denken. Andere Archive erfordern freilich entsprechend andere Forschungsstrategien.
Johann Wolfgang Goethe ist für die Beschäftigung mit Fragen des Archivs nicht nur ein symptomatischer oder beispielhafter, sondern ein beispielgebender Autor. Er besetzt eine wichtige Funktionsstelle in der Koppelung moderner Autorschaft ans Archiv. Genauer gesagt, steht er wie wohl kein anderer Schriftsteller – jedenfalls in der deutschen Literaturgeschichte – für die Selbstinstitutionalisierung von Autorschaft durch eine bestimmte Art der Selbstarchivierung, die man, im Anschluss an den von Steffen Martus geprägten Terminus der Werkpolitik, als Archivpolitik bezeichnen könnte. Vor allem die epochale Erkenntnis des alt gewordenen Goethe, "sich selbst historisch" zu werden, führte zu archivarischen Maßnahmen größeren Stils, die ihrerseits jene Erkenntnis immer weiter beförderten. Das so entstehende Spät- oder Alterswerk ist nicht einfach nur die Summe der relativ spät verfassten Texte dieses Autors, vielmehr liegt seine Spezifik im Altern des Werks selbst. So erklärt sich zum einen die Emphase, mit der Goethe sein Lebenswerk, sein Leben im Werk und sein Leben als Werk, konzipierte, zum anderen die große Aufmerksamkeit, die er auf die Sortierung seiner Schriften, Notizen, Bilder und Objekte, auf die Materialität seiner Produktion insgesamt wendete.
Aus einer grammatologischen Betrachtungsweise – und das heißt mit Jacques Derrida: aus dem Blickwinkel jener Spuren, die dem Bestehenden vorausgehen – verändert sich das Bild des Archivs. Von der Institution zur Bewahrung von 'Archivgut', dem Zentralbegriff der Archivalienkunde, verlagert sich der Blick auf das Zustandekommen des Archivs und die Metamorphose von Dokumenten zu Archivgut. Es geht dann weniger um den Ort inventarisierter Archivalien beziehungsweise geordneter Einheiten von Dokumenten, Textkorpora und anderen Medien des Wissens als um diejenigen Verfahren und Regelungen, durch die Zeugnisse und Hinterlassenschaften ins Archiv eingehen – oder eben gerade nicht ihren Weg dorthin finden. Denn, so Derrida: "Die Bewegung der Spur ist notwendig verborgen, sie entsteht als Verbergung ihrer selbst." Archive werden gemeinhin als institutionalisiertes, positives Gedächtnis eines Gemeinwesens oder eines speziellen Wissensgebiets betrachtet, das auf einer systematischen Erhaltung, Erfassung und Erschließung von Dokumenten basiert, die mithilfe von Signaturen und Registern für die Nutzung zugänglich gemacht werden. Auf der Benutzeroberfläche erscheint das Archiv als geordnetes, auf Einheit und potentielle Vollständigkeit ausgerichtetes Inventar, während dessen Genese doch zumeist im Dunkeln bleibt – gleichsam vor dem Archiv.
Im Sommer 2000 erhielt der Verfasser [i.e. Justus H. Ulbricht] vom Präsidenten der Goethe-Gesellschaft den Auftrag, für das Jahr 2001 zur Hauptversammlung eine Ausstellung zur Gesellschaftsgeschichte zu organisieren. Aufgrund gesellschaftsinterner Debatten über Anlaß und Umfang der Exposition, vor allem aber über Intention und Dramaturgie des Ausstellungskonzepts, wurde die Eröffnung auf den Sommer 2003 verschoben ..., die Debatten dauern an. Die folgenden Bemerkungen skizzieren die wesentlichen Konturen einer kritischen Goethe-Gesellschafts-Geschichts-Betrachtung und fragen nach den Bedingungen der Erinnerung an das Wirken der organisierten Goethe-Verehrer in Deutschland und Weimar.
Am 17. Januar 2022 jährt sich der Todestag des russischen Dichters und Schriftstellers Warlam Schalamow zum vierzigsten Mal. Mit seinen sechs Zyklen umfassenden "Erzählungen aus Kolyma" setzte er den Tausenden Toten in den Zwangsarbeitslagern des GULag ein bleibendes literarisches Denkmal. Der Jahrestag bietet nicht nur Anlass, sich mit Schalamows Ringen um eine literarische Aufarbeitung des staatlich organisierten Massenterrors gegen die eigene Bevölkerung auseinandersetzen. Ein Archivfund rückt auch seine Sorge um die Rezeption seiner Texte ins Blickfeld. Da in der Sowjetunion die Erinnerung an Terror und Gewalt tabuisiert wurde, kursierten diese zu Lebzeiten nur in Abschriften des Samisdat ('Selbst-Verlag') und blieben für das breite sowjetische Lesepublikum unzugänglich. Die ersehnte Anerkennung blieb ihm verwehrt. Mittlerweile werden seine Werke in Russland gedruckt und aus Anlass des Todestages würdigen Konferenzen seine literarische und menschliche Lebensleistung. Doch Schalamows Imperativ des Erinnerns, der Wahrung des Gedächtnisses an die stalinistischen Verbrechen trifft heute zugleich auf das Bestreben der russischen Machthaber, dieses Gedächtnis erneut mit repressiven Mitteln auszulöschen.
Die Machtergreifung der Bolschewiki 1917 führte zu einer jahrzehntelangen tiefen Spaltung der russischen Literatur und Kultur, viele Vertreter von Literatur und Kunst verließen das Land oder wurden in die Emigration getrieben. Epochen- und Biographiebrüche, Kriege, Terror- und Gewaltexzesse hatten zur Folge, dass zahlreiche literarische Archive und persönliche Sammlungen geplündert, vernichtet, in alle Winde verstreut wurden oder gänzlich verloren gegangen sind. Die rigide ideologische Kontrolle, die in den ersten Jahren der Sowjetmacht vorrangig für das gedruckte Wort galt, betraf zunehmend auch jegliches unveröffentlichtes literarisches Wort. Jegliche schriftliche Äußerung einer eigenen Weltsicht kam in dieser Kultursituation einem Wagnis gleich. Das Aufbewahren unveröffentlichter Manuskripte in einem privaten, mitunter (insbesondere in den Jahren des Terrors unter Stalin) aber auch in einem staatlichen Archiv, konnte lebensbedrohlich sein.
Die Auffassung, daß Goethes Überlieferungspraxis vornehmlich davon diktiert sei, "der Flüchtigkeit des Geschehens und Geschriebenen durch schriftliche Aufzeichnungen dauerhaft entgegenzuwirken" und "für die Nachwelt [...] einen Fundus zu gestalten" oder von einem "elementare[n] Bedürfnis nach Ordnung in Lebensführung und Gestaltung", dürfte schon der von Goethe selbst demonstrierte Umgang mit seinem Nachlaß entgegenstehen. [...] Mittlerweile herrscht auch in der traditionellen Germanistik Konsens, daß Goethes "grundsätzlicher Status autobiographischen Schreibens [...] nicht eigene Identität gleichsam objektiv dar[stellt], sondern [er] 'erschreibt' sie als spezifische Identität mit dem Zielpunkt der Schreibgegenwart", wie es Benedikt Jeßing [...] im neuen Goethe-Handbuch formuliert.