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Distanz
(2012)
'Distanz' ist ein interdisziplinärer Begriff. Anders als wissenschaftliche Allgemeinbegriffe wie 'System', 'Form' oder 'Interaktion' haben interdisziplinäre Begriffe spezielle Bedeutungen in den Wissenschaften, in denen sie erscheinen. Sie sind Begriffe mit theoretischem Gewicht, mit deren Hilfe für eine Disziplin zentrale Verhältnisse zum Ausdruck gebracht werden können. Dies gilt für 'Distanz' gewiss. Kaum eine Theorie der sozialen Beziehungen, des ästhetischen Produzierens und Konsumierens oder der Sonderstellung des Menschen unter den Lebewesen, die ohne diesen Begriff auskommen könnte. Und doch sind es jeweils andere Aspekte und Schwerpunkte, die in den verschiedenen Disziplinen in dem Begriff gesetzt sind.
Weil 'Distanz' in verschiedenen Disziplinen nicht nur spezifische Verhältnisse auf den Begriff bringt, sondern grundsätzliche Aspekte des Ansatzes der Disziplinen betrifft, kann er als ein multipler Grundlegungsbegriff verstanden werden.
Die folgende Darstellung versteht sich als eine erste Grabung in der Geschichte des Begriffs Verschränkung, deren Ziel es ist, anhand der Exploration seiner wissenschaftlichen Verwendungsweisen seine vielfältige Semantik freizulegen. Zumeist werden mit dem Begriff Verschränkung Grenzphänomene bezeichnet, die als Ausnahmen von einer Regel zugleich die Grenze einer spezifischen Erkenntnismöglichkeit markieren. Wenn diese disparaten und paradoxen Einheiten nicht nur am Rande einer Wissenschaft erscheinen, sondern in deren Zentrum rücken, können sie - wie im Falle von Helmuth Plessners philosophischer Anthropologie - zum Anlass einer gewichtigen methodischen Verschiebung werden und die Notwendigkeit einer spezifischen Form von "Grenzforschung" dokumentieren.
Revolution und Evolution
(2012)
Die Begriffsgeschichte der Termini Revolution und Evolution ist bereits ausführlich und vielerorts nachgezeichnet worden. Ins Blickfeld geriet jedoch selten ein Übertragungs-, Rückübertragungs- und Veränderungsprozess, der sich vor allem ab Mitte des 18. Jahrhunderts abspielte. Während dieses Zeitraumes prägte die Entdeckung der "geologischen Tiefenzeit" zunehmend den naturhistorischen Diskurs, und diese neue Zeit -Vorstellung überschnitt sich mit jener noch wirkmächtigeren politischen und geschichtsphilosophischen Zeit-Vorstellung, die durch die Französische Revolution ausgelöst wurde. Die Übertragungsprozesse von Revolution und Evolution überkreuzten sich in den Debatten der Aufklärung, und während eines bestimmten historischen Zeitraums strukturierten sie gemeinsam den Diskurs der "Geognosie" bzw. "Geogonie", wie zu dieser Zeit die Geologie avant la lettre zu meist genannt wurde. Die Herder’schen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit können in diesem Kontext der Umbruchphase der Spätaufklärung als repräsentativ für diese semantischen Übertragungs- und Wanderungsbewegungen gelten, denn Revolution und Evolution sind entscheidende entwicklungslogische Interpretationskategorien in Herders geogonischem und geschichts-philosophischem Entwurf. Da Herder keinen Bruch zwischen Naturentwicklung (-geschichte) und Menschheitsentwicklung (-geschichte) sieht, sondern beides unter der Perspektive einer Fortschrittsidee subsumiert, gibt es bei ihm auch noch keine eindeutige Kategorisierung und Zuordnung von Evolution (zu Natur) und Revolution (zu Geschichte). Zugleich lassen sich die Mehrdeutigkeiten beider Begriffe sowie ihre sich beschleunigenden semantischen Verschiebungen besonders augenfällig am Beispiel des Herder'schen Textkorpus belegen, das aus diesem Grunde im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht.
Katastrophen
(2012)
Tagungsbericht zum 2. Interdisziplinären Symposium des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 4. bis 6. Mai 2011.
Katastrophen erscheinen im Lichte der Berichterstattung über das Erdbeben, den Tsunami und den Reaktorunfall in Japan allgegenwärtig zu sein. Tatsächlich wird jede (aufgeklärte) Gesellschaft durch den Zusammenbruch der Ordnung in Form verheerender Unglücke bedroht, die nicht mehr durch eine transzendente Instanz erklärt und aufgefangen werden können. Allerdings können solche Ereignisse gleichzeitig als Motor fur Entwicklung und Fortschritt fungieren. Diese ambivalente Bedeutung des Begriffs sowie der akuten "Katastrophe" war Thema des 2. Interdisziplinären Symposiums des 'Freiburg Institute for Advanced Studies' (FRIAS) im Mai 2011.
Wie kommen Begriffe in die Welt? Auf diese Frage gibt es mehr als eine Antwort; eine davon aber verweist mit Sicherheit auf die akademische Welt. Ständig mit (vermeintlich) neuartigen Sachverhalten konfrontiert, erfindet diese unermüdlich neue Benennungen, um die zu analysierenden Phänomene beschreib- und fassbar zu machen. Dabei hat sich im Laufe der Zeit ein noch immer nicht abgeschlossener Katalog an Fachwörtern angesammelt. Dieser mag den Eindruck erwecken, die wissenschaftliche Begriffsbildung sei nur in den seltensten Fällen um besonders poetische oder eingängige Fachbegriffe bemüht. Doch es gibt eine unliebsame Verwandte der Wissenschaft, die Neologismen sehr zugetan ist, und deren sprachliche Welt von einem Hauch von Poesie belebt wird, die Science-Fiction. Sie steht zwischen Forschung und Fiktion, übernimmt Termini aus der Wissenschaftssprache, verfremdet sie, kombiniert sie neu, und trägt zu ihrer Popularisierung bei. Auch der Begriff "Klon" ist in diesem Kontext zu verorten, allerdings weicht er in seiner Charakteristik und Entwicklung von anderen Fachtermini ab. Gerade seine Besonderheiten machen ihn aber für die begriffsgeschichtliche Arbeit so interessant. Wie die Wissenschaftshistorikerin Christina Brandt zeigt, muss der "Klon" als "hybride Konstellation" historisch unterschiedlich gelagerter Bedeutungsebenen verstanden werden, in der die biowissenschaftliche Definition und wesentlich ältere religiöse, naturphilosophische Denkfiguren und kulturhistorische Narrative zueinander in Spannung geraten sind. Auch dieser Beitrag skizziert den "Klon" als einen Begriff, der in verschiedenen Diskursen und Disziplinen verortet ist und auf der Grundlage kulturhistorisch wesentlich älterer Narrative und Denkfiguren neue Bedeutungen generiert. Das nicht enden wollende Hin und Her um seine Auslegung und Verwendung kann aber auch als Hinweis auf bestimmte irrationale Elemente gelesen werden, die in diesem Streit um die Deutungshoheit eine Rolle zu spielen scheinen. So lässt sich nicht leugnen, dass von bestimmten Begriffen eine besondere Faszination ausgeht. Dies wird vor allem deutlich, wenn ein wissenschaftlicher Begriff in den allgemeinen Sprachgebrauch übergeht. Die Transferbewegung des "Klons" in den öffentlichenRaum der Alltagssprache ist – dies gilt es zu zeigen – zweifellos auch, wenn nicht gar in entscheidendem Maße, den meist äußerst phantasievollen visuellen Eindrücken zu verdanken, die in der populären Vorstellung an den Begriff gekoppelt wurden. Denn es sind vor allem Bilder, die eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben, die Imagination beflügeln und vermeintlich leere Begriffe in einem einzigen Augenblick mit neuem Inhalt füllen. Im Unterschied zu bisherigen begriffsgeschichtlichen Arbeiten soll deshalb hier das Augenmerk auf dem Moment der Faszination und auf dem Visuellen liegen, um so die Korrespondenz historischer Denkfiguren, Mythen und Narrative zu ikonischen Semantiken und visuellen Bildkomplexen aufzuzeigen.
Außenwelt und Organismus : Überlegungen zu einer begriffsgeschichtlichen Konstellation um 1800
(2012)
Denkt man im Rahmen der Geschichte der Lebenswissenschaften an den Außenwelt-Begriff, fällt einem sofort Georges Canguilhems Aufsatz 'Le vivant et son milieu' ein. Nachdem 'milieu' in einem Newtonisch geprägten Begriffsfeld einen Zwischenraum zwischen den Dingen bezeichnete, wird das 'milieu' in Canguilhems Rekonstruktion erst mit Auguste Comte um 1830 zu einem Raum, zu dem lebendige Körper in einem systematischen Verhältnis stehen und in dem sie existieren. Im Schatten dieser Rekonstruktion steht das Aufkommen des Außenwelt-Begriffs im deutschsprachigen Kontext im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts, der erstaunlicherweise mit dem des Organismus-Begriffs korreliert. Im Folgenden werde ich mich damit beschäftigen, warum beide Begriffswörter gemeinsam zu dieser Zeit Karriere machen. Hierfür stelle ich zunächst drei Thesen auf und werde sie anschließend mit einigen historischen Referenzen stützen.
Als Unterzeichner der ‚Berlin Declaration on Open Access to Knowledge in the Sciences and Humanities‘ unterstützt das ZfL den freien Zugang zu öffentlich finanzierten Forschungsergebnissen im Internet mit Online-Formaten, die den Goldenen Weg des Open Access beschreiten, bei dem neue Erkenntnisse als erstes online publiziert werden. Das zweimal pro Jahr erscheinende E-Journal "Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte (FIB)" versammelt in Themenausgaben aktuelle Forschungen zur Begriffsgeschichte.
Eine der wichtigen, gleichwohl bislang kaum untersuchten Traditionslinien der Begriffsgeschichtsschreibung führt in die Kulturphilosophie und -theorie des frühen 20. Jahrhunderts. Dieser Verbindung ist ein Schwerpunkt in der vorliegenden Ausgabe des 'Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte' (FIB) gewidmet - am zugleich einschlägigen wie unerwarteten Beispiel Erich Rothackers. Bekanntlich stellte Rothacker nach 1933 sich und seine 'geistesgeschichtliche' Geschichtsphilosophie in den Dienst von Goebbels Propagandaministerium, bevor er nach 1945 die institutionellen Voraussetzungen für die philosophische Begriffsgeschichtsforschung in der Bundesrepublik legte. Weniger bekannt sind hingegen seine Verbindungen zur 'ersten Kulturwissenschaft'. Sie stehen im Zusammenhang mit seinem Konzept eines kulturphilosophischen Wörterbuchs aus den späten 1920er Jahren. Rothacker wollte darin, im heutigen Verständnis durchaus interdisziplinär, Grundbegriffe der Philosophie mit einzelwissenschaftlichen Begriffen der Soziologie, Psychologie, Kunstwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Anthropologie sowie der Allgemeinkultur begriffshistorisch und systematisch in Verbindung bringen. Zur Realisierung des Wörterbuchs suchte er unter anderem die Zusammenarbeit mit der 'Kulturwissenschaftlichen Bibliothek' Aby Warburgs sowie mit Ernst Cassirer und dessen Schülern Joachim Ritter und Raymund Klibansky.