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Man gelangt zu interessanten Ergebnissen, wenn man folgende Verse von Ludovico Ariosto genauer untersucht, die gleich zu Beginn des Werkes, fast als Auftakt des Romans, zitiert werden: "Oh quante sono incantatrici, oh quanti / incantator tra noi che non si sanno." Diese Verse stammen aus dem VIII. Gesang des Ritterepos "Orlando furioso", der besonders wichtig ist, da gerade hier der Held zum ersten Male vorgestellt wird. Eine weitere symbolische Bedeutung ist in diesem Gesang ebenfalls zu erkennen, denn gerade hier läßt der zitierte Zauber die Liebenden "la lor prima forma", d.h. ihr urprüngliches, wahres Antlitz zurückgewinnen. Berücksichtigt man auch die Tatsache, daß der Held bei seinem ersten Auftreten schon im Aufbruch begriffen ist, so kann behauptet werden, daß bereits an dieser Stelle das Thema der Bildungsreise eingeführt wird, die sich allmählich in Selbstsuche verwandeln wird. Parallelen zum "Andreas" beginnen somit schon ansatzweise sichtbar zu werden. Gerade bei seinem ersten Auftritt hat der Aufbruch des Helden Orlando nichts Zufälliges an sich, sondern weist schon auf die immanente Struktur des Werkes hin, wo jede einzelne Gestalt im Begriff ist, sich fortzubewegen, um vor jemandem zu fliehen oder um jemandem zu begegnen. Eine unaufhörliche Bewegung der Trennung und Vereinigung durchzieht das ganze Werk.
Jede Episode wird durch eine weitere aufgehoben; auf diese Weise erhält man den Eindruck einer unaufhaltsamen Mobilität, und während sich die ganze Darstellung ins Endlose ausweitet, weisen die einzelnen Geschehnisse einen fragmentarischen Charakter auf.
Ariosto selbst hat sein Werk nie als abgeschlossen betrachtet und daran immer wieder, bis zu seinem Tode - im Jahre 1533 - gearbeitet.
Wie andere bedeutende Romanprojekte des frühen 20. Jahrhunderts ist Hofmannsthals "Andreas" Fragment geblieben. Die ältere Forschung hat das vielfach als Symptom eines Scheiterns gewertet und noch der Herausgeber der "Kritischen Ausgabe" ist ihr darin gefolgt. Dagegen wurde in neuerer Zeit geltend gemacht, dass "Andreas" nicht nur im äußerlichen Sinn unabgeschlossen, sondern "seiner inneren Struktur" nach "fragmentarisch" sei und dass diese "innere Fragmentarik" durch seine "ästhetisch-poetische Eigenart" motiviert werde. Die Dynamiken der Dissoziation und Spaltung, der Entzweiung, Halbierung und Verdoppelung, von denen der Text handelt, kennzeichnen demnach auch seine Entstehung und Form. Diese Neubewertungen weisen insofern über "Andreas" hinaus, als sie den Blick für die Prozesshaftigkeit und den Suchcharakter von Hofmannsthals gesamtem Œuvre schärfen. Es stellt sich heute, nach der Erschließung des Nachlasses, weniger als ein Werk denn als eine Werkstatt dar und zeugt von offenen Schreibprojekten, die über Textgrenzen hinaus fortgesetzt werden und sich in beständiger Auseinandersetzung mit den eigenen Voraussetzungen, Optionen und Zielen befinden.
Obwohl Fragment geblieben, steht der "Andreas" im Zentrum von Hofmannsthals Schaffen. Um die Bedeutung und den fragmentarischen Status des "Andreas" zu erklären, ist ein Blick auf seine Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte unerläßlich.
Hofmannsthal arbeitete an seinem Romanprojekt "Andreas" zwischen 1907 und 1927. Circa 500 Manuskriptseiten umfaßt der "Andreas" im Nachlaß Hofmannsthals. Davon entfallen annähernd 100 Seiten auf den relativ geschlossenen Hauptentwurf von 1912/13, - er wurde postum, im Jahre 1930, unter dem Titel "Andreas oder die Vereinigten" erstmals veröffentlicht - der Rest verteilt sich auf insgesamt knapp 400 Entwürfe, Skizzen, Notizen und Exzerpte.
Die Textüberlieferung von Hofmannsthals einzigem Romanversuch ist nach wie vor heikel, eine allseits befriedigende Lösung scheint vorerst nicht in Sicht. Dabei betrifft die Strittigkeit der Lesarten sowohl die aus dem Nachlaß edierte Handschrift in ihrer Binnenvarianz als auch die Abgrenzung der Handschrift nach außen. Während ersteres nur in einer Mikroanalyse der Handschrift und ihrer komplizierten Schichtungen möglich sein dürfte, sollen für letzteres im folgenden Beispiele - ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit gegeben werden, um die Diskussion über eine verbesserte Textdarstellung auf weitere Desiderata hinzuweisen. Es werden daher zwei Arten von Textergänzungen vorgestellt: Bei der ersten Art handelt es sich um handschriftlich überlieferte Notizen, die u.a. aufgrund namentlicher ("Mariquita") Nähe in den Umkreis des Romans gestellt werden könnten, ohne daß eine definitive Zuweisung möglich wäre. Vielmehr soll damit und der anderen hier gebotenen Art von Textergänzungen - zwei Zeitungsartikel, die Hofmannsthal selbst in das "Andreas"-Konvolut gelegt hat - das Bewußtsein für die Durchlässigkeit der Grenzen dieses Textes gestärkt werden, der sich als fluktuierende, nicht als völlig absehbare Größe im Werk Hofmannsthals bewegt
Niemand kennt sich, insofern er nur er selbst und nicht auch zugleich ein anderer ist: Mit diesem Gedanken, den Friedrich Schlegel in seinem Aufsatz "Über Lessing" (1797) formulierte und der von Hofmannsthal ins "Buch der Freunde" übernommen wurde, ist eine Grundformel angedeutet, die Selbsterkenntnis und Vielseitigkeit, Identität und Differenz aufeinander bezieht. Selbsterkenntnis nicht als Monolog oder System, sondern aus dem Gespräch der Stimmen, aus dem Widerspiel von Fragment und Kritik zu entwickeln, ist ein Anliegen, das die frühromantische Kunsttheorie mit Hofmannsthal verknüpft, der eben sein "Buch der Freunde" mit der Überlegung einleitet, daß der Mensch "die Welt [braucht], um gewahr zu werden, was in ihm liegt". Zugleich hat Hofmannsthal damit die Formel des Bildungsromans getroffen, an dessen Traditionen sein Roman "Andreas" anknüpft, ohne sich ihnen integrieren zu können oder zu wollen. Andreas tritt unter dem biblischen Motto, wonach es nicht gut sei, wenn der Mensch allein ist, die Reise zu sich selbst an, die auf den Umweg über die Dissoziation und die Distanz führt. Anders als der Held des klassischen Bildungsromans erfährt Andreas jedoch die eigene Identität nicht mehr als Resultat eines Prozesses der Differenzierungen, der am Ende in die Aufhebung aller Spaltungen mündet, sondern ihm bleibt das Auseinandergetretene, Gespaltene als Ingrediens seiner Identität eingeschrieben, die nicht vollkommen, sondern fragmentarisch ist. Von hier aus tritt die Frage nach dem Fragmentcharakter dieses Romans, gar nach den Gründen des Abbruchs, hinter die Einsicht von der fragmentarischen, die Differenz nicht löschen könnenden Identität von Andreas' Selbst zurück. Die Kenntnis der gesamten Textgenese des Andreas-Romans läßt überdies deutlich werden, wie sehr sich das poetologische Programm dieses Werkes der Reziprozität von Selbständigkeit und Vergleichung, von Originalität und Tradition, von Individualität und literarischem Vorbild verdankt, denn die Orientierung an den Romanen von Moritz, Goethe, Novalis und Stifter bietet einen Generalbaß, auf dem sich die durchaus eigengewichtige Melodie von Andreas' Reise erhebt.