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Die übergreifende theoretisch-historische Fragestellung für die folgenden Ausführungen lautet: Warum wird die Antike rezipiert? Konkret handelt es sich um Wandlungsprozesse in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland, die von Winckelmann ausgingen, an der zahlreiche Intellektuelle dieser Zeit Anteil hatten und die im weimarisch-jenaischen Kulturkreis kulminierten - bei Schriftstellern und Gelehrten, die mehr oder weniger lange und mehr oder weniger enge Verbindungen mit Thüringen hatten (auch wenn manche ihrer Äußerungen schon vor oder erst nach ihrer Thüringer Zeit lagen). Die auffallendste Wandlung in der europäischen (mit besonderem Nachdruck in der deutschen) Antikerezeption des 18. Jahrhunderts ist die Verlagerung des Schwerpunktes von Rom auf Griechenland (und zwar auf Athen bzw. auf ein von Athen her bestimmtes Griechentum) - eine Wandlung, die zugleich die Wende von einer primär politischen zu einer vorrangig kulturellen Antikerezeption bedeutete. Ich werde darauf eingehen, das Problem aber einem anderen Aspekt unterordnen: der Frage nämlich, ob die Beziehung zum Altertum in erster Linie die Ästhetik und Poetik oder die Geschichtsphilosophie, Anthropologie und Ethik betrifft, ob sie der Kunstschönheit oder dem Menschenbild gilt, ob sie auf eine Normativität des Stils und der literarischen Gattungen oder auf eine Aufnahme von Stoffen und Motiven zielt. Es soll demnach vor allem untersucht werden, ob es sich um eine detaillierte, punktuelle, selektive oder um eine universelle Rezeption handelt und ob die imitatio von musterhaften künstlerischen Werken sowie die Befolgung allgemeinverbindlicher kunsttheoretischer Lehren oder die Affinität zum Leben, zur Geschichte, zur Kultur und zum Mythos - also zur Antike als einer ganzheitlichen Erscheinung - ausschlaggebend ist.
Schiller sagt in seinem - laut Thomas Mann - "tiefsten und glänzendsten Essay": "Der Dichter [...] ist entweder Natur, oder er wird sie suchen. Jenes macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter." Der naive Poet könne sich auf die "Nachahmung des Wirklichen" beschränken und habe deshalb "zu seinem Gegenstand auch nur ein einziges Verhältnis"; Aufgabe des sentimentalischen Schriftstellers hingegen sei "die Darstellung des Ideals", und hierfür gebe es "drei [...] mögliche Arten": "Satyre, Elegie und Idylle". Schiller verwendet hier Bezeichnungen für literarische Gattungen, die aus der Antike stammen und im 18. Jahrhundert noch in hohem Ansehen standen, betont aber mehrfach, daß er diese Bezeichnungen "in einem weiteren Sinne [...] als gewöhnlich" verstehen wolle: nämlich als "Empfindungsweise[n]" oder "Dichtungsweise[n]". Der satirische Dichter schildere "die Entfernung von der Natur und den Widerspruch der "Wirklichkeit mit dem Ideale"; der elegische Dichter setze "die Natur der Kunst und das Ideal der Wirklichkeit [...] entgegen" und stelle dabei die "Natur" als "verloren" und das "Ideal" als "unerreicht" dar; der idyllische Dichter schließlich gestalte die "Uebereinstimmung" zwischen Ideal und Realität (20,436-467).
Schiller hat damit den in den drei literarischen Gattungen dominierenden Merkmalen eine übergreifende Bedeutung gegeben. Gewiss treten die einzelnen künstlerischen Verfahrensweisen nicht rein auf und sollten deshalb nicht verabsolutiert werden - der Dichter selbst hat in seinen Werken diese Elemente durchaus miteinander vermischt Dennoch hat er - wie schon bei der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen "naiver" und "sentimentalischer" Dichtung - heuristisch äußerst fruchtbare Distinktionen getroffen. Ich möchte seine Untergliederung zum Ausgangspunkt nehmen, um eine konkrete Problematik des Schillerschen Werkes zu untersuchen - nämlich das Verhältnis zwischen idyllischen und elegischen Zügen in seinem Antike-, insbesondere seinem Griechenbild - und darüber hinaus die Vielschichtigkeit dieses Bildes überhaupt herausstellen. (Satirische Elemente sind seinem Werk nicht fremd, spielen aber keine dominierende Rolle.)
Das Spannungsverhältnis zwischen poetischer Einbildungskraft und positivistischer Wissenschaft, zwischen Imagination und Evidenz, wird wohl an keinem anderen literarischen Genre des 19. Jahrhunderts so augenfällig wie am historischen Roman. Schon in der Gattungsbezeichnung verbinden sich die Lizenzen der Fiktionalität, die der Roman gewährt, mit einem wie auch immer gearteten Anspruch auf historische Faktizität. Die unüberschaubare Menge der historischen Romane, die im 19. Jahrhundert entstand, spiegelt in den vielfältigen Sujets und Figuren nicht nur die Interessen- und Problemlagen ihrer Entstehungszeit wider, sondern liefert im Zeitalter des ästhetischen Historismus ganz unterschiedliche Beispiele von textuellen Verfahren, die das Verhältnis von Imagination und Evidenz sichtbar machen.
Im Spektrum der Epochen, von denen der Historienroman im 19. Jahrhundert erzählt, spielt die Antike eine untergeordnete Rolle. Ihr vorgezogen werden die großen Zeitalter der nachantiken europäischen Geschichte: das hohe Mittelalter, die Renaissance, die Frühe Neuzeit und die Revolutionsepoche um und nach 1800. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, lange nach der sogenannten „Scott-Ära“ in den 1820er Jahren, in denen sich der historische Roman in ganz Europa zur beliebtesten Erzählform entwickelt, wird häufiger über die Antike erzählt. So steigt die Zahl der Romane, welche die antike Geschichte thematisieren, gegen Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts langsam und kontinuierlich an bis zu einem Höhepunkt in den 1880er Jahren, um danach wieder leicht zurückzufallen. Auch in den 1880er Jahren bleibt die jährliche Publikationsrate von Romanen über das Altertum freilich im einstelligen Bereich und damit deutlich unterhalb der Quote je- ner Texte, die sich späteren historischen Zeiträumen widmen. Themen aus der Phase zwischen Barockzeitalter und beginnendem 19. Jahrhundert dominieren die gesamte Epoche; bestimmend ist die Tendenz zu jüngeren Zeitabschnitten, zur modernen Geschichte.
Als Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer“ 1857 erscheint, hat das Bild der klassischen Antike, wie es durch Winckelmann und Goethe einen hohen Grad der Verbindlichkeit erhalten hatte, längst an Faszination und normativer Kraft eingebüßt. Im Gefolge des Historismus, der jeder Epoche ihr Eigenrecht zuerkannte, waren historische Vorstellungen an die Stelle normativer getreten. In Stifters „Nachsommer“ ist davon freilich nur wenig zu spüren. Der Roman wendet sich ostentativ gegen aktuelle Zeittendenzen und scheint für ein Festhalten an einer zeitlos-idealen Antike einzutreten. Die ausführlichen Gespräche, die der Ich-Erzähler Heinrich Drendorf mit seinem Gastgeber Risach über antike Kunst führt, wiederholen und zementieren überkommene Auffassungen. In Superlativen beschwört Risach Größe und Einfachheit der antiken Kunst; er nennt die griechische Dichtung „das Höchste“ und „was die Griechen in der Bildnerei geschaffen haben, [...] das Schönste, welches auf der Welt“ überhaupt bestehe. Stifters Antike orientiert sich, wie in der Forschung einhellig anerkannt, an Leitvorstellungen Winckelmanns, und die im „Nachsommer“ geführten Kunstgespräche treten in die Spuren der ästhetischen Debatten des ausgehenden 18. Jahrhunderts.
Das christliche Bild im 19. Jahrhundert zeigt, so die These dieses Aufsatzes, dass Verwissenschaftlichung nicht notwendigerweise historistische Entidealisierung bedeuten musste – wie eben auch die Lektion der historisch-kritischen Bibelforschung nicht unweigerlich zu einer Relativierung der Heiligen Schrift führen musste. In der ästhetischen Konstruktion der biblischen Antiken wurden Evidenz und Imagination zu komplementären Repräsentationsstrategien, die einen gemeinsamen Ursprung jenseits der Unterscheidung zwischen geschichtlicher Wahrheit und archäologischem Wissen hatten. Eine christliche Kunst musste diese historische Wahrheit, die eben keine wissenschaftlich positivistische sein sollte, sichtbar machen. „Das Göttliche kann sich in der Knechtsgestalt begränzter Zeit und Körperlichkeit nicht völlig offenbaren“, formulierte Karl Schnaase im Jahre 1862 diesen Grundsatz eindringlich, „es will mehr geahnt und geglaubt als gesehen sein“. Zwischen archäologischer Treue und kunsthistorischer Tradition, mimetischer Sinnlichkeit und abstrakter Idee erfüllt die Kunst ihre ureigene Aufgabe des Sichtbarmachens im Bewusstsein einer eingeborenen Unmöglichkeit. Die Welt der biblischen Antike wird so zum experimentellen Feld eines erfolgreichen Scheiterns.