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Totalität
(2022)
Aus dem weiten Bedeutungshorizont des philosophischen Terminus soll im Folgenden 'Totalität' vor allem als Begriff in einer bestimmten neuzeitlichen Theorietradition thematisiert werden, in der er besonders prominent ist, und zwar in der zunächst im deutschen Idealismus verwendeten, dann vornehmlich im westlichen Marxismus prominent werdenden dialektischen Philosophie, wobei Gesellschaft zum paradigmatischen Gegenstand wird. Von Hölderlin über Hegel bis zu Lukács und Adorno lässt sich die Kategorie der Totalität wiederholt als eine dem Ideal des Kunstwerkes entlehnte erkennen. Beim jungen Hegel heißt es: "Jede Philosophie ist in sich vollendet und hat, wie ein echtes Kunstwerk, die Totalität in sich." Dennoch wäre es verfehlt, den philosophischen Gehalt von 'Totalität' allein als eine Übertragung von der Kunst auf die Gesellschaft anzusehen. [...] Bei dem hier interessierenden Begriff der Totalität geht es um die vermittelt gedachte, nicht um die unmittelbar geschaute oder gefühlte Einheit der Welt. Auf andere, seltenere Verwendungen, etwa Alexander von Humboldts eher in der Anschauung gegründeten, panoramatisch auf die "Totalität der Naturanschauung" gerichteten Gebrauch, wird hier nicht näher eingegangen. Hegels berühmtes Diktum: "Das Wahre ist das Ganze" jedoch gehört ganz wesentlich zu dieser Theorietradition, auch wenn er das Wort Totalität an dieser Stelle selbst nicht verwendet. Die Bestimmung: "Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen" ist die wesentliche Denkfigur, die auch Hegel selbst später mit dem Terminus Totalität gefasst hat. Die Debatten um den Begriff sind seit den 1920er Jahren, worauf am Ende einzugehen sein wird, zugleich hochpolitisch, was die morphologische und semantische Nähe von 'Totalität' als philosophischer Kategorie und 'Totalitarismus' als politischem Schlagwort zeigt.
Adorno und die Kabbala
(2015)
Im neunten Band der Reihe geht Ansgar Martins kabbalistischen Spuren in der Philosophie Theodor W. Adornos (1903–1969) nach. Der Frankfurter Gesellschaftskritiker griff im Rahmen seines radikalen materialistischen Projekts gleichwohl auch auf "theologische" Deutungsfiguren zurück. Vermittelt durch den gemeinsamen Freund Walter Benjamin (1892–1940) stieß Adorno dabei auf das Werk des Kabbala-Forschers Gershom Scholem (1897–1982). Zwischen Frankfurt und Jerusalem entwickelte sich eine lebenslange Korrespondenz.
Für Adorno erscheint vor dem Hintergrund lückenloser kapitalistischer Vergesellschaftung jede religiöse Sinngebung in der Moderne als unmöglich. Der Tradition der jüdischen Mystik schreibt er hingegen eine innere Affinität zu dieser hoffnungslosen Logik des "Verfalls" zu. Sie scheint ihm zur unumgänglichen Säkularisierung religiöser Gehalte aufzufordern. Adornos kabbalistische Marginalien beziehen einen breiten Horizont jüdisch-messianischer Ideen ein. Er verleugnet dabei nie, dass es ihm um eine sehr diesseite Verwirklichung geoffenbarter Heilsversprechen zu tun ist: Transzendenz sei als erfüllte Immanenz, als verwirklichte Utopie zu denken. In diesem Anliegen sieht Adorno selbst jedoch gerade seine Übereinstimmung mit der Kabbala.
Adornos kabbalistische Motive, die auf Scholems Forschungen zurückgehen, werden hier ausführlich an seinen Schriften und Vorlesungen untersucht. In seinem Verständnis der philosophischen Tradition sowie im Modell der Metaphysischen Erfahrung suchte er etwa explizit Anschluss an Deutungen der Kabbala: Das unerreichbare Urbild der Philosophie sei die Interpretation der geoffenbarten Schrift. Wie säkularisierte heilige Texte wurden Werke von Beethoven, Goethe, Kafka oder Schönberg so zum Anlass für "mystische" Interpretationen. Deren detaillierte Untersuchung erlaubt, das viel beschworene jüdische Erbe von Adornos Philosophie zu konkretisieren und bedenkenswerte Einzelheiten von der Negativen Dialektik zur Ästhetik in den Blick zu nehmen.
Adornos Verhältnis zu Kunst und Ökonomie ist ebenso bekannt wie kompliziert. Die spätkapitalistische Gesellschaft und ihre Subjekt- und Lebensformen leiden nach Adorno unter einer problematischen Vorherrschaft der Ökonomie, die Adorno und Horkheimer "totale Kapitalmacht" nennen. Die "ökonomische Durchorganisation" der Gesellschaft zeigt sich danach auch in der Kultur, wo sie unter dem Stichwort 'Kulturindustrie' firmiert. [...] Im scharfen Kontrast zur Kulturindustrie sollen in autonomen Kunstwerken hingegen keine ökonomischen Werte von Belang sein. Ihre Negativität gründet vielmehr in der autonomen "Geltungssphäre" der Kunst "sui generis", der kritischen Abkehr von der "empirische[n] Realität" samt ihrer kapitalistischen Werteordnung und der Überschreitung "vorgefundene[r] ästhetische[r] Normativität", wie Albrecht Wellmer zusammenfasst. Dennoch drängt sich der Verdacht auf, dass auch die Losgelöstheit von Marktprinzipien eine spezifische Ökonomie voraussetzt, eine poietische Ökonomie des Kunstwerks, das seine Darstellungselemente derart anordnen muss, dass es sich der eingängigen Konsumierung und Verwertung verweigert. Es ist diese Ökonomie der Kunst - so die These -, die zum einen das 'Befremden' angesichts der kapitalistischen Lebensformen zu Bewusstsein bringt und zum anderen darüber hinausverweisen soll. Ziel des Aufsatzes ist es daher, das Verhältnis sowohl der kulturindustriellen Produkte als auch der autonomen Kunst zu den ökonomischen Bedingungen zu beschreiben, unter denen nach Adorno ja beide entstehen, um vor diesem Hintergrund ihre je eigene poietische Ökonomie genauer in den Blick zu nehmen.
Mit dem Stichwort "Materialanalyse" tritt ins Blickfeld, was Walter Benjamin als ein "zentrales Problem des historischen Materialismus" bezeichnet hat: "auf welchem Wege es möglich ist, gesteigerte Anschaulichkeit mit der Durchführung der marxistischen Methode zu verbinden". Die Frage betrifft die Beziehungen von Philologie, geschichtlicher Erfahrung und materialistischer Dialektik im Zusammenhang einer Geschichtsschreibung, der es nicht, wie der konservativen Hermeneutik, um das "Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen" geht, sondern darum, das "Kontinuum der Geschichte aufzusprengen. Dass die marxistische Methode auf jene 'Beschaulichkeit' verzichten muss, die 'für' Benjamin das Verfahren des Historismus kennzeichnet, gründet in der von Friedrich Engels ausgegebenen Maxime, wonach die dialektische Darstellung den "Schein einer selbständigen Geschichte [...] der ideologischen Vorstellungen " aufzulösen habe, indem sie den "vom Denken unabhängigen Ursprung" zu ihrem Ausgangspunkt macht. Für Benjamin ist ihr Prinzip kein 'episches', sondern das der Montage. Sie ermöglicht, "die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten", um "durch Analyse des kleinen Einzelmoments" den "Kristall des Totalgeschehens" sichtbar werden zu lassen. Das Verfahren, das auch im apokryphen Materialgesellschaftliche Einsichten zu gewinnen sucht, verlangt nach einer aktiven Lektüre, die weniger 'auslegt' als 'übersetzt' und also den Text nicht unverändert lässt. Die Materialanalyse geht nicht aus von einem abstrakten Allgemeinbegriff, unter dem die Einzeldinge zum 'Spezialfall' herabsinken. Sie verlangt vielmehr, wie Theodor W. Adorno von der Dialektik fordert, die "Einlösung des Anspruchs der besonderen spezifischen Erkenntnis auf ihre Allgemeinheit". Ihren Namen, der in Studienprojekten des Argument-Verlags Ende der 1970er Jahre programmatisch wird, rechtfertigt die Materialanalyse da, wo das geschichtliche Material und eine am Begriff des Gegenstands selbst gebildete Reflexion sich zusammenschließen. Gefordert ist daher eine philosophische Arbeit, wie sie in marxistischer Tradition vor allem von Walter Benjamin und Antonio Gramsci ins Werk gesetzt worden ist. Die Materialanalyse setzt kein 'System' oder einen 'Entwurf' voraus, sondern schöpft aus der Kritik und dem Kommentar von Texten, prototypisch durchgeführt in der marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Sie verlangt eine Kunst des Zitierens, wie sie sich im 'Passagen-Werk' von Benjamin ähnlich wie in den 'Gefängnisheften' Gramscis vorgebildet findet. Ihre Verfasser "haben vorgemacht, wie aus Zitaten ein Text aufgebaut werden kann, der den Ursprungstexten nie in den Sinn gekommen wäre". Das Feststellen der "Einzeltatsachen in ihrer unverwechselbaren 'Individualität'" gilt dabei als eine unhintergehbare Voraussetzung 'für die Schaffung einer' "lebendigen Philologie", die ihr Material analytisch zu durchdringen versteht.
Adornos Kritik an Benjamin gilt heute als geläufig und weitgehend abgearbeitet; was Benjamin zu Adorno notiert hat, ist dagegen weitgehend unbekannt, jedenfalls unbeachtet. Im einen Fall mag das Objekt, die Skizzen zum Singspiel Der Schatz des Indianer-Joe, zu weit ab vom Schuss liegen, um unter mehr als rein historischen Gesichtspunkten in actu noch ergiebig zu sein. Im Falle des Kommentars zur Wagnerschrift liegen die Dinge deutlich anders. Liefert er doch beinahe eine konzeptionelle Alternative zu dem, wie Adorno mit Wagner umgeht, überdies avant la lettre Einwände gegen jenen Theoriegestus, den Adorno kurz darauf gegenüber Benjamins erstem Essay über Baudelaire an den Tag legen zu müssen meint.
Euphorisch nahm das deutsche Feuilleton im letzten Sommer ein schmales Bändchen auf: Theodor W. Adornos "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus". Ihm liegt ein von Adorno ursprünglich 1967 vor Wiener Studierenden gehaltener Vortrag zugrunde, in dem er auf den Einzug der NPD in einige deutsche Landesparlamente Ende der 1960er Jahre reagierte. Vorherrschend in den Besprechungen war der Verweis auf "erstaunliche Parallelen" zwischen dem Rechtsradikalismus der 1960er Jahre und den "gegenwärtigen Entwicklungen". [...] Magnus Klaue ist einer der wenigen Rezensenten, der in die Jubelrufe nicht einstimmt. In seiner Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kritisiert er nicht Adornos Vortrag selbst, sondern die aus seiner Sicht "um den Preis der Enthistorisierung" allzu munter betriebene Parallelisierung der damaligen mit aktuellen politischen Entwicklungen. Klaue plädiert für die Einordnung von Adornos Vortrag in seinen zeitgeschichtlichen Entstehungskontext, da sich die Situation Ende der 1960er Jahre von der heutigen deutlich unterscheide.
Wem es an eigener Erfahrung oder Anschauung mangelt, der kann sich u.a. von Theweleit darüber belehren lassen, dass beim Fußball viel gelitten wird. Auch der Fan ist alles andere als ein 'standhafter Zuschauer ästhetischer Leiden', denn er leidet wahrhaftig und sozusagen leibhaft mit. Darin ist und bleibt, mit Verlaub, auch der moderne Fußball ein so archaisches Phänomen wie, sagen wir, die sophokleische Tragödie, in der auch viel gelitten wird und die auch keine Zuschauer, sondern ausschließlich Ritualteilnehmer kennt. Mit dem Leidensbegriff, den die moderne Kultur ausgebildet hat, hat der Fußball nichts zu tun, eher schon fungiert er als Gegengift für Kulturleidende. Man kann sich kaum vorstellen, dass Adorno von diesem Mittel Gebrauch gemacht haben sollte. O-Ton Youtube: "[M]an muß […] daran erinnern, daß die Menschen, die also auf dem Sportfeld zuschauen und zwar in allen Ländern […], gegen die Fremdgruppe, also gegen das ausländische Team, sich in einer Weise benehmen, die den einfachsten Anforderungen der Gastfreundschaft [...] aufs Krasseste widerspricht." Nun ja; Adorno war eben Theoretiker von "Gruppenverhalten" und als Fußball-Fan ist er so schwer vorstellbar wie als Spieler. Oder doch? Gibt es vielleicht auch bei ihm Rudimente eines Fan-Begehrens, die nicht in der Analyse von Gruppenverhalten aufgehen und theorieimmanente Selbst-Widerstände artikulieren? Dagegen spricht vorläufig die übermächtige Tradition des Leidens an der Kultur, der Adorno ganz ohne Zweifel verhaftet ist, eben weil er ihr Fan nicht sein konnte oder wollte.
Fertig ist das Angesicht.
(2017)
In Bettines Titeln und Texten feiern Satzzeichen große Feste. Bindestriche, Gedankenstriche, Schrägstriche, Kommata, Ellipsen, Parenthesen machen sich zu schaffen - und ihr auch. Freigesetzt in ihr Tun und Lassen kommen sie in Schwung und intellektuell auf die Höhe, pfeifen auf Stimme und Schrift. Ein Komma im Frack lässt sich nicht blicken, aber mit Stifter wird man angesichts des entfesselten Kalküls der Satzzeichen sagen dürfen: "Es ist das kleinste Satzzeichen ein Wunder, das wir nicht ergründen können. Daß es ist, daß seine Teile zusammenhängen, daß sie getrennt werden können, daß die Teilung fortgesetzt werden kann, und wie weit, wird uns hienieden immer ein Geheimnis bleiben." Eigenmächtig setzt es Zeichen, die den Satz sperren oder stauen, ihn fluten oder dehnen, auch verrätseln. Und manches trägt dann ein Gesicht zur Schau. Der ernste Gedankenstrich in Theodor Storms Novellistik erschien Theodor W. Adorno als "Falten auf der Stirn der Texte" in seinem 1956 in der Zeitschrift "Akzente" erschienenen Essay "Satzzeichen". [...]
Jargon
(2018)
Jargon ist nicht nur ein Wort aus der Fremde, sondern auch seiner Bedeutung nach mit dem Andersartigen und zugleich Vertrauten, dem Nicht-Identischen, teils Unübersetzbaren und nur Halbbekannten von Sprache(n) verbündet. Anders als Fremdwörter, deren Verständnis Bildung voraussetzt, wurden Jargons über lange Zeit hinweg marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen, sogenannten 'Gaunern' und 'Vagabunden', zugeschrieben, wobei sie sich häufig auf Gegenstände des alltäglichen Lebens bezogen.