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In Deutschland hängen Bildungschancen wie in kaum einem anderen Land vom Bildungsstatus der Herkunftsfamilie ab. Vom Ideal einer Chancengleichheit sind wir weit entfernt. So verlässt beispielsweise jedes vierte Kind mit Migrationshintergrund die Schule ohne Abschluss. Viele Kinder aus sozial schwierigen Verhältnissen enden wie meist schon ihre Eltern in der Arbeitslosigkeit und in einem Leben am Rande der Gesellschaft.
Warum übt diese kurze Geschichte bis heute eine unmittelbare Faszination sowohl auf Kinder als auch auf Erwachsene aus? Warum konnte sie in den letzten 200 Jahren zu verschiedensten Zwecken eingesetzt werden? Zur Entdeckung "normaler" kindlicher Widerspenstigkeit in der Zeit aufkommender bürgerlicher Emanzipation, im Dienste einer autoritären Erziehung in der Wilhelminischen Ärea (Struwwelliese), zur Vorbereitung auf den Militärdienst während des Ersten Weltkriegs, als Symbol eines nicht bezähmbaren Revolutionärs, als sarkastische Progaganda gegen nationalsozialistische Ideologien ("Struwwelhitler") oder schließlich einer aufgeklärten "anti-autoritären" Erziehung wie im "ANTI-Struwwelpeter" von F. K. Waechter? Im Folgenden ein kurzer Versuch einer psychoanalytischen Erklärung als Ergänzung zu anderen Annäherungen : Heinrich Hoffmann ist es in den Struwwelpeter-Geschichten mit bewundernswert treffsicherer Intuition gelungen, ubiquitäre unbewusste Fantasien von Kindern, aber auch von Erwachsenen, anzusprechen und die damit assoziierten Erinnerungen an intensivste Emotionen, Ängste und Konflikte wachzurufen.
Wer als Kind den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat, kann diese intensiven und lebensbedrohlichen Erlebnisse oft auch als Erwachsener nicht ausblenden – sie überschatten sein Leben weiter, auch ohne dass es dem Betroffenen selbst bewusst sein muss. In einer Studie der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung unter der Leitung der Direktorin des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts, Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber, wurden 401 Patientinnen und Patienten nachuntersucht, die zwischen 1990 und 1993 ihre psychoanalytische Langzeitbehandlung beendet hatten. Das Forscherteam ist unerwartet häufig und dramatisch den Schatten des Zweiten Weltkriegs begegnet: Bei mehr als der Hälfte der untersuchten Personen, bei 54 Prozent, hat die zivilisatorische Katastrophe in Deutschland die gesamte Lebensgeschichte bestimmt und Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialistischen Regimes mit dazu beigetragen, dass sie psychotherapeutische Hilfe suchten.
Über keine Diagnose ist in den vergangenen Jahren weltweit so viel, so heftig und so kontrovers diskutiert worden wie über die Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (AD[H]S) – und das gleichermaßen in der fachlichen wie der allgemeinen Öffentlichkeit. Eine besondere Brisanz erhält diese Diskussion, weil nicht wenige der betroffenen (überwiegend) Jungen nicht nur durch eine ausgeprägte Konzentrationsschwäche und motorische Unruhe, sondern zudem durch ein starkes antisoziales Verhalten auffallen. Sie handeln derart aggressiv, dass sie sich kaum sozial integrieren lassen und somit die Bildungsangebote im Kindergarten und mehr noch in Schulen nicht für ihre Entwicklung nutzen können. AD[H]S greift unabhängig von der sozialen Herkunft um sich: Den einen verbaut es den sozialen Aufstieg, andere bedroht es mit sozialem Abstieg. Neben der Diagnose wird vor allem die Behandlung mit Psychopharmaka kontrovers diskutiert. Knapp die Hälfte der Kinder, bei denen AD[H]S diagnostiziert wurde, bekommt entsprechende Medikamente, am häufigsten Präparate mit dem Wirkstoff Methylphenidat (Ritalin, Medikinet, Concerta), die insbesondere zwischen neun und zwölf Jahren verabreicht werden. Insgesamt wird die Zahl der medikamentös behandelten Kinder weltweit auf über zehn Millionen geschätzt. Sowohl bei der Häufigkeit der Diagnose als auch der psychopharmakologischen Behandlung gibt es international große Unterschiede: Neben den USA wird in Ländern wie Kanada, Australien und Norwegen besonders schnell zu Medikamenten gegriffen. Während diese Psychopharmaka 1993 lediglich in 13 Ländern eingesetzt wurden, sind es inzwischen weit mehr als 50 Länder. Auch Deutschland holt auf; dem neuesten Bericht des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte sind enorme Steigerungsraten zu entnehmen: So hat der Verbrauch dieser Mittel zwischen 1993 und 2006 um 3591 Prozent, von 34 Kilogramm auf 1221 Kilogramm zugenommen! Gesundheitsexperten warnen vor einer Verordnung überhöhter Dosen und vor einer laxen Indikationsstellung. Vermutlich ist tatsächlich die Zahl der schweren AD[H]SFälle über die Jahre gleich geblieben, während die Zahl der diagnostizierten Kinder zugenommen hat, die vergleichsweise nur wenige und schwach ausgeprägte Symptome zeigen. Da es keine objektive Grenze zwischen »krank« und »gesund« gibt, weist jeder Diagnoseprozess eine Grauzone auf. Und da Methylphenidat auch das Leistungsvermögen von »gesunden« Kindern steigert, ist zu vermuten, dass die Präparate zur Verstärkung »normaler « Funktionen eingesetzt werden. ...