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In Deutschland nahezu unbekannt, gehört der Schriftsteller Laurent Tailhade (1854-1919) zu den interessantesten Persönlichkeiten des literarischpolitischen Anarchismus im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts. Er verfasste zahlreiche Gedichte und Essays, trat aber auch als Autor polemischer Zeitungsartikel und als aggressiver Redner hervor, sodass sich an seiner Person exemplarisch das Zusammenspiel von literarisch-ästhetischer und politisch-provokativer Praxis darstellen lässt.
Berühmt wurde Tailhade durch seinen zynischen Ausspruch "Qu’importent les victimes si le geste est beau!" anlässlich des Attentats von Auguste Vaillant auf die Französische Nationalversammlung im Dezember 1893: Gegenüber der "Schönheit" des terroristischen Aktes spielten humanitäre Erwägungen für Tailhade scheinbar keine Rolle. Nur wenige Monate später, im April 1894, wurde er selbst Opfer eines Anschlags in dem Pariser Restaurant Foyot, wobei er ein Auge einbüßte, sich aber dennoch - dies ist neben der 'Ironie des Schicksals' der eigentlich entscheidende Aspekt - weiterhin für anarchistische Ideen einsetzte. Im Folgenden soll versucht werden aufzuzeigen, wie sich die zur viel zitierten ästhetizistischen Provokationsformel geronnene Aussage Tailhades in dessen literarisch-intellektueller Entwicklung und im künstlerischen und politischen Kontext des 19. Jahrhunderts verorten lässt.
"Im Grunde ist der ästhetische Anarchismus viel gefährlicher als der politische", warnte Hans Sedlmayr, österreichischer Kunsthistoriker mit NS-Vergangenheit und höchst umstrittener Kritiker der modernen Kunst, in einem Beitrag für die Zeitschrift Scheidewege von 1978. Während die Aktionen der politischen Anarchisten historisch weitgehend folgenlos geblieben seien, habe die anarchische Ästhetik der künstlerischen Avantgarden in einer viel umfassenderen, permanenten Revolution alle Bereiche des menschlichen Lebens im 20. Jahrhundert erfasst.
Die Absage an die Kunst, die Logik, die Ethik, die Scham; an die Kirche, den Staat, die Familie; an die klassische Tradition Europas wie an jede Religion - ist in die Tages- und Bildzeitungen, in Film- und Fernsehen, auf das Theater und in die Happenings, in die Praxis des Lebens eingedrungen. Die Ursprünge dieser Entwicklung verortet Sedlmayr in der Frühromantik, genauer: den Texten von Friedrich Schlegel und Novalis - "ohne sie ist das anarchische 20. Jahrhundert in der Tiefe nicht zu begreifen."
In Schlegels frühem, Ende 1795 fertiggestelltem Aufsatz 'Über das Studium der griechischen Poesie' allerdings, der noch weitgehend den Maßstäben einer klassizistischen Ästhetik verpflichtet ist und vom Verfasser des Verlusts der Mitte bei seinen Überlegungen daher zustimmend angeführt wird, erscheint das Wort 'Anarchie' überwiegend negativ konnotiert. Es fungiert hier als Metapher für Charakter-, Gesetz- und Formlosigkeit, für moralischen Verfall und ästhetische Desorientierung auf dem Gebiet der modernen Dichtkunst.
0. Wenn man als Anarchisten jemanden versteht, der davon überzeugt ist, dass es den Menschen möglich ist, ihr Zusammenleben so zu organisieren, dass Herrschaft in jeglicher Form verzichtbar ist, dann war Grabbe ganz sicher keiner. Auch gibt es in allem, was schriftlich von ihm überliefert ist, keinen einzigen Hinweis darauf, dass er sich jemals zustimmend zum Ideal der Herrschaftslosigkeit geäußert hätte. Wenn Grabbe m.E. dennoch zum Kontext des Themas Anarchismus im Vormärz gehört, so hat das andere Gründe.
1. Negativer Anarchismus
Das Programm, mit dem sich der noch ganz junge, 1801 geborene literarische Debütant mit seiner Tragödie 'Herzog Theodor von Gothland' (entstanden zwischen 1819 und 1822) von dem das literarische Feld seiner Zeit bestimmenden klassisch-idealistischen Diskurs in radikalster Weise abgrenzen will, ist das eines Frontalangriffs auf alle ihm zugrunde liegenden Wertvorstellungen und Deutungsmuster. Die hehren Ideale des klassisch-humanistischen Projekts (das Wahre, Gute und Schöne als zugleich Mittel und Ziel der menschlichen Veredelung durch einen umfassenden Bildungsprozess) werden im Gothland ebenso rigoros als nicht mit der Wirklichkeit kompatibel zurückgewiesen wie die aufklärerische Grundannahme der Perfektibilität des Menschen und die christliche Überzeugung von einem guten Gott, der die Geschicke im Sinne der an ihn Glaubenden und ihm Vertrauenden lenkt. Nach Grabbe ist so gut wie in jeder Hinsicht das Gegenteil der Fall.
In Deutschland nahezu unbekannt, gehört der Schriftsteller Laurent Tailhade (1854-1919) zu den interessantesten Persönlichkeiten des literarischpolitischen Anarchismus im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts. Er verfasste zahlreiche Gedichte und Essays, trat aber auch als Autor polemischer Zeitungsartikel und als aggressiver Redner hervor, sodass sich an seiner Person exemplarisch das Zusammenspiel von literarisch-ästhetischer und politisch-provokativer Praxis darstellen lässt.
Berühmt wurde Tailhade durch seinen zynischen Ausspruch "Qu’importent les victimes si le geste est beau!" anlässlich des Attentats von Auguste Vaillant auf die Französische Nationalversammlung im Dezember 1893: Gegenüber der "Schönheit" des terroristischen Aktes spielten humanitäre Erwägungen für Tailhade scheinbar keine Rolle. Nur wenige Monate später, im April 1894, wurde er selbst Opfer eines Anschlags in dem Pariser Restaurant Foyot, wobei er ein Auge einbüßte, sich aber dennoch - dies ist neben der ‚Ironie des Schicksals‘ der eigentlich entscheidende Aspekt - weiterhin für anarchistische Ideen einsetzte. Im Folgenden soll versucht werden aufzuzeigen, wie sich die zur viel zitierten ästhetizistischen Provokationsformel geronnene Aussage Tailhades in dessen literarisch-intellektueller Entwicklung und im künstlerischen und politischen Kontext des 19. Jahrhunderts verorten lässt.
Mattia Luigi Pozzi liefert aus philosophiegeschichtlicher Perspektive einen Überblick über "Die Rezeption Stirners in Italien (1850-1920)". Pozzi kann zeigen, dass die Auseinandersetzung mit dem deutschen Denker eng verbunden ist mit der Ablehnung der Hegelschen Philosophie und eine starke Selbstreflexion der italienischen Zeitgenossen bewirkt. Kritik an Stirner und gleichzeitig eine starke Faszination durch dessen Theorien entwickeln sich im postrisorgimentalen Italien durch die Schlagworte Anarchismus und Individualismus. Diese werden immer wieder in Diskussionen von Schriften Stirners diskutiert. Pozzi kann zeigen, dass und wie sich die Stirner-Rezeption bis ins 20. Jahrhundert ununterbrochen fortsetzt. Sie wird auch für das Denken Benito Musselinis einflussreich.
Der Anarchismus stellt eine Form des Gefühls der Grenzenlosigkeit dar. Ob der politische Anarchismus auf dieser affektiven Basis entsteht oder einen anderen Ursprung hat, sei zunächst dahingestellt. Wie ist es aber möglich, dass sich dieses Gefühl immer wieder entwickelt, ohne sein Ziel - die Grenzenlosigkeit - je erreichen zu können? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich an der Wurzel dieses Gefühls ansetzen. Oft gründet das Gefühl überbordender Freiheit im Gefühl des Behütetseins bzw. des Schutzes, in dem man nur allmählich zum Wunsch der Überschreitung kommt, weil die Grenzen nicht fühlbar waren, innerhalb derer sich das Kind in seiner familiären Tätigkeitssphäre noch unbewusst bewegte. Gerade die Abwesenheit eines Kanons von Verhaltensregeln ermöglichte es dem Kind, den Fallen und Inklinationen transgenerationaler Verhaltensanweisungen gegenüber noch frei zu bleiben. In dieser Grenzferne des Kindes - sowie auch im Zustand der Resignation mancher Erwachsenen, die ihr Ziel nicht erreichen konnten und aufgeben mussten - kann das gedeihen, was jene "Lehre von der Freiheit als Grundlage der menschlichen Gesellschaft" erahnen lässt, die Erich Mühsams sozialistischer Prägung als sittlicher Zustand und geistige Welt gegolten hatte. Gesetzesferne bedeutet aber noch keine intendierte Gesetzlosigkeit.
Aus der Gesetzesferne trifft das Kind vielmehr allmählich auf die Regularien, die diese Gesetzesferne durch soziale Entitäten ablösen wollen. Die Grenzferne des Kindes hatte aber bereits tiefergreifend seine Handlungsauffassung geprägt. Im Folgenden möchte ich die These entwickeln, nach der ein Element des Anarchismus eine schon früh ansetzende Gefühlsform ist.
Für Deutschland gilt nach wie vor, wie Olaf Briese es jüngst formulierte, "dass anarchistische Theorieanalysen aus dem Feld derjenigen kommen, die sich selbst als Anarchisten verstehen." Völlig zutreffend stellt er fest, dass "[u]niversitär-akademisches Milieu und anarchistisches Milieu sich nicht [...] aneinander beflecken [wollen]." Der vorliegende Band hat den Anspruch, diesem Muster nicht zu entsprechen. Er versammelt Beiträge aus beiden "Milieus", wobei insbesondere darauf hinzuweisen ist, dass sich gerade die deutsche Literaturgeschichtsschreibung mit der Thematik Anarchismus in der Literatur bislang so gut wie gar nicht beschäftigt hat. Und sicher wird es auch überraschen, wenn in diesem Kontext neben den explizit philosophischen Bezügen von Autoren wie Friedrich Schlegel, Christian Dietrich Grabbe, Gottfried Keller oder Friedrich Theodor Vischer die Rede ist.