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Ausdruck und Verkörperung : Fritz Kortners Überlegungen zu Stimme und Geste in Film und Theater
(2013)
Bertolt Brecht hat in seinem 'Arbeitsjournal' aus dem kalifornischen Exil die Schwierigkeiten eines seiner Bekannten, des Schauspielers Fritz Kortner (1892−1971), in den Filmstudios von Hollywood beschrieben: "Kortner kann keine rolle bekommen. eisler erzählt, daß die leute in RKO [Radio Keith Orpheum, eine amerikanische Radio- und Filmgesellschaft] bei der Vorführung von Probeaufnahmen laut gelacht hätten: er habe mit den augen gerollt. nun ist eigentliches spiel hier verpönt, man gestattet es nur den negern. die stars spielen nicht rollen, sondern kommen in "situationen". Ihre filme bilden eine art von comics (abenteurerroman in fortsetzungen), welche einen typ in vielen bedrängnissen zeigen (selbst die wiedergabe der story in der presse sagt etwa: gable haßt garbo, hat aber als reporter … usw.). aber gerade seine arbeitslosigkeit veranlaßt k[Kortner], sogar im privatleben sehr viel mehr zu spielen, als er es je auf der bühne tat. ich sehe ihn mit einem gemisch von heiterkeit und entsetzen eine einfache erzählung unbedeutender vorgänge mit einem unmaß von gestik und "ausdruck" vortragen." Diese Eintragung Brechts aus dem Jahre 1942 ist über den anekdotischen Anlass hinaus aufschlussreich. Brecht notiert die unterschiedlichen Auffassungen bei europäischen Emigranten und den Gewaltigen der amerikanischen Filmindustrie hinsichtlich dessen, was es heißt, eine Rolle zu spielen. Fritz Kortner verfügt über die vokalen und mimisch-gestischen Ausdrucksmittel der expressionistischen Schauspieler-Generation vor und nach dem Ersten Weltkrieg, er weiß, wie man etwas 'mit Ausdruck' vorträgt. Doch erscheint eben dieser von ihm so virtuos verkörperte Schauspielertypus im amerikanischen Filmgeschäft der 40er Jahre nur noch als exotisch. Allenfalls wird dergleichen bei 'Negern', also den Verlachfiguren des Hollywood-Films, toleriert. Von weißen Schauspielern wird etwas anderes erwartet: Nicht die Verwandlung ist das Ziel, sondern die Wiedererkennbarkeit der Stars in unterschiedlichen Kontexten. Und gefragt ist eine unterkühlte und - gemessen an europäischen Maßstäben - anti-theatralische Art des Schauspielens mit herabgesetztem Einsatz von Mimik, Gestik und vokalen Mitteln.
Wie müsste ein filmisches Gegenstück zur klassischen Utopie aussehen? Dass ein Spielfilm in vielerlei Hinsicht ungeeignet ist für einen Gesellschaftsentwurf in der Tradition der morusschen "Utopia" (1516), ist im Grunde unbestritten. Es gibt denn auch kein Beispiel eines fiktionalen Films, der diesem Typus auch nur halbwegs nahe käme. Die Schlussfolgerung, dass positive Utopien im Film generell unmöglich sind, wäre allerdings voreilig, denn es existieren durchaus Spielarten des Mediums, in denen die klassische Tradition lebendig ist. So paradox es auf den ersten Blick auch scheinen mag – ausgerechnet im nichtfiktionalen Film findet die Utopie, die per definitionem von (noch) Nicht-Existierendem berichtet, einen fruchtbaren Boden.
Den grundlegenden Gedanken, dass das filmische Gegenstück zur klassischen utopischen Literatur im Dokumentarfilm zu suchen ist, habe ich bereits in meinem Beitrag zum Tagungsband der dritten GFF-Jahrestagung ausgeführt. Hier soll diese These nun genauer ausgearbeitet werden. Der Fokus liegt dabei auf dem bereits angedeuteten Widerspruch, dass eine Gattung, die sich just durch die Abbildung des Realen definiert, geeignet sein soll, um die Nicht-Orte der Utopie darzustellen. Nach einer kurzen Zusammenfassung meiner bisherigen Überlegungen wird der Schwerpunkt des Artikels deshalb auf der Theorie des Dokumentarfilms liegen.
1918 sprang der berühmte russische Filmemacher Dziga Vertov von einer Mauer und ließ dabei sein Gesicht filmen. Heraus kam eine Folge von Einzelbildern, die die Veränderungen seines Gesichtsausdrucks während des Sprungs zeigen sollten, innere Befindlichkeiten also, die er selbst nur unbewusst zum Ausdruck gebracht hatte. Jahre später wiederholte er den Sprung und schrieb dazu: "Vom Gesichtspunkt des gewöhnlichen Auges sehen Sie die Unwahrheit. Vom Gesichtspunkt des kinematographischen Auges (mit Hilfe besonderer kinematographischer Mittel, in diesem Falle – der Zeitrafferaufnahme) sehen Sie die Wahrheit. Wenn vom Lesen der Gedanken eines Menschen auf Entfernung (und es ist nicht selten wichtig für uns, nicht die Worte eines Menschen zu hören, sondern seine Gedanken zu lesen) die Rede ist, so haben Sie diese Möglichkeit gerade hier erhalten. Die Mittel des "Kinoglaz" haben sie entdeckt. Die "filmtauglichen" Mittel bieten die Möglichkeit, die Maske vom Menschen wegzunehmen, ein Teilstück der Filmwahrheit zu erhalten." Das menschliche Auge desjenigen, der den springenden Filmemacher beobachtete, sah hiernach die Unwahrheit. Stattdessen war es das technische Auge der Kamera, das Vertovs wahres Antlitz offenbarte, das ihm die Maske vom Gesicht riss. Der frühe Film schien menschliche Gesichter auf eine bestimmte Weise noch 'wirklicher' sehen zu können, als dies natürliche Augen gekonnt hätten. Doch um welche Art Wirklichkeit ging es hier? Was kommunizierte der frühe Film über das menschliche Gesicht, wenn Vertov nicht die natürliche Wahrheit sondern die 'Filmwahrheit' anvisierte? Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, ob die Maske durch den Film tatsächlich zum Verschwinden gebracht werden konnte oder ob sie sich nicht vielmehr einen neuen Ort gesucht hat - statt vor dem Gesicht etwa auf der Leinwand oder in der Kamera.