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Das Aufkommen der Biopolitik als Dispositiv der Moderne beschreibt Michel Foucault als Effekt einer Reihe von Transformationen, verbindet es allerdings an dieser Stelle nicht explizit mit den wissenschaftlichen Entdeckungen Darwins. Die Eingliederung des Menschen in das Kontinuum der lebenden Organismen ist aber eine der bedeutsamsten Konsequenzen von Darwins Theorie von der Abstammung des Menschen. Wenn parallel zu oder auch in Abhängigkeit von dieser Transformation des biologischen Wissens der Mensch als lebendiges Wesen sich auch politisch zu verstehen beginnt, stellt sich dann freilich die Frage, als was er dies tut. Wird dann der Organismus, das Individuum als biologische Entität zugleich zum politischen Subjekt? Und bedeutet dies dann eine Erweiterung des personellen, intellektuellen und vor allem ethischen Subjektbegriffs auf lebende Wesen, die zumindest potenziell die Grenzen des Menschengeschlechts überschreiten? Oder bedeutet diese fundamentale Umwälzung der Biopolitik ganz im Gegenteil eine objektivierende, Politik, Recht und Ethik auf Wissenstechnik einschränkende Verwaltung von lebenden Einheiten, deren Subjektstatus sich auf die Teilbedeutung des Unterworfenseins einengt? Foucaults eigene Rede von der Sorge eines administrativen Apparats um die Lebensvollzüge von Bevölkerungen legt Letzteres nahe. Jedoch bleibt seine grundsätzliche Formel vom Eintritt des Lebendigen in die Sphäre des Politischen und Historischen gegenüber beiden Auslegungen offen.
Teil IV unserer Artikelserie zur Ethik der Drohnen. Deutschland diskutiert über bewaffnete Drohnen. Endlich. Allerdings hat es den Anschein, als sei die Debatte nur noch ein Scheingefecht. Denn die Entscheidung, ob Deutschland auf den Drohnenzug aufspringen soll, ist im Wesentlichen gefallen, und die Beschaffung scheint nur noch eine Frage der Zeit. Vor allem ist es interessant zu sehen, welchen Einschlag die „Debatte“ inzwischen genommen hat. Mit seiner Aussage, Waffen seien „ethisch neutral“ (die er im Anschluss relativierte, aber bezüglich aktueller Drohnen aufrecht erhielt), hat Verteidigungsminister de Maizière die Debatte in eine Richtung gelenkt, bei der zentrale sicherheitspolitische Fragen, aber auch Fragen der ethischen Einordnung zukünftiger Drohnensysteme weitgehend unter den Tisch fallen. Verengt man die Debatte auf die Frage der ethischen Einordnung aktueller Kampfdrohnen, dann bietet sich als „objektiver“ Maßstab zunächst das Humanitäre Völkerrecht an. Waffen, wie z.B. Bio- oder Chemiewaffen oder Landminen, sind deshalb geächtet, weil sie gegen die fundamentalen völkerrechtlichen Normen der Diskriminierung (der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten) oder der Proportionalität verstoßen. Drohnen sind zwar nicht so „chirurgisch“ präzise, wie es die Befürworter gerne hätten (nach Schätzungen des Bureau of Investigative Journalism ist ca. jeder vierte von Drohnen in Pakistan getötete Mensch ein Zivilist), aber ungenauer als andere Waffensysteme sind Drohnen sicher nicht. Und setzt man Drohnen nur im Rahmen völkerrechtlich zulässiger internationaler oder nicht-internationaler bewaffneter Konflikte ein, dann ist ihr Einsatz zulässig und völkerrechtlich nicht zu beanstanden...
Gender ist rhetorisch verfaßt, und es sind die Figuren und die Tropen der Autobiographie, die diese" Verfaßtheit lesbar machen. Die Autorin analysiert die scheinbar gesicherte Differenz der Geschlechter wie auch die der Genres, indem sie die Figuren des Genres Autobiographie den Figuren, die die Illusion einer vordiskursiven Geschlechtsidentität konstruieren, gegenüberstellt und ihre Funktionsweisen korreliert. Über die Umbesetzung der traditionellen rhetorischen Terminologie wird eine Lektürepraxis erprobt, die die rhetorische Verfaßtheit der Kategorien Gender/Genre reflektiert und diese als Paradigmen subjektstabilisierender Diskursformen in Frage stellt. Ausgehend von Paul de Mans Reformulierung des klassischen Rhetorikbegriffs, Jacques Derridas Reflexionen zum Gesetz der Gattung und zum Verhältnis von Geschlecht und Sprache sowie Judith Butlers Konzeption einer performativen Geschlechtsidentität unternimmt die Autorin eine Umschrift des Gender/Genre-Begriffs, der nicht nur neue Sichtweisen auf Identitätskonstruktionen ermöglicht, sondern darüber hinaus die Grenzen des Faches Literaturwissenschaft selbst in Frage stellt und überschreitet.
Seuchenjahr
(2021)
"Theorie" spricht gerne im Präsens. Allein, es handelt sich um ein unechtes Präsens, das über der Zeit zu stehen beansprucht. Die Ausnahmesituation der Pandemie lädt dazu ein, dieses Präsens zu überdenken und die unvermeidlichen Bindungen der Theorie an gegenwärtiges Geschehen sichtbar zu machen. Durch die klaustrophobische Situation des Lockdown ist eine unheimliche Korrelation von Theorie und Phobie kenntlich geworden. Beide suchen nachträgliche Bestätigung durch die Wirklichkeit. Durch diese Parallele wird auch der Lockdown, in dem das kulturtheoretische Denken ohnehin feststeckte, für sich selbst sichtbar wie in einem Spiegel. Unter dem Stichwort einer "Geschehensethik" erstellen Henning Trüpers Betrachtungen eine Inventur der Probleme und Lektionen, denen sich insbesondere die Theorie der Moral und verwandter Gebiete in der Schule der Pandemie ausgesetzt sehen.
Wenn Søren Kierkegaard in den "Schriften über sich selbst" die eigene Gegenwart als "eine Zeit der Auflösung"l bezeichnet, die eine "Radikalkur" bedürfe, so markiert er damit zugleich seinen eigenen philosophischen Entwurf existenz-dialektischen Denkens. als ein Konzept, das im Horizont jener gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse zu verorten ist, die im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts eine Neukonzeptualisierung des Denkens von Mensch und Welt unabweisbar fordern. Topisch geworden in diesem Sinne ist Karl Löwiths Rede vom "revolutionären Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts". Wie für viele seiner Zeitgenossen bildet dabei für Kierkegaard die Identitätsphilosophie Hegels den negativen Bezugspunkt. Während jedoch Theoretiker wie Marx in dem Sinne der Hegelschen Spur folgen, daß sie den Systemcharakter dieser ersten Theorie der Moderne beerben, ist es im Falle Kierkegaards gerade Hegels Verwissenschaftlichung der Philosophie, die zum Widerspruch herausfordert. Der Begriff der Verwissenschaftlichung bezeichnet dabei den Sachverhalt, daß die Philosophie in Gestalt einer objektivierenden Ontologie der Gegenwart dem Individuum keinerlei Handlungsorientierung mehr zu geben vermag. Kierkegaard problematisiert mit seiner HegelKritik also jene Grundtendenz der modernen Kultur, welche Max Weber als einen Prozeß der Ausdifferenzierung in füreinander gleichgültige Wertsphären und mithin als einen Vorgang der Dezentrierung der symbolischen Ordnung beschrieben hat.
Sibylle Schmidt untersucht die Sozialität einer Wissenspraxis, in der der Zeuge deshalb zur zentralen Figur wird, weil wir nicht alles selbst erfahren können. Nach Schmidt ist die interpersonale Struktur der Zeugenschaft und die intentionale Dimension des Bezeugens "das Spezifikum und zugleich die Crux des Zeugnisses", und in diesem Sinne ist von einer epistemischen Kooperation zwischen Zeuge und Zuhörer zu sprechen. Die interpersonale Struktur der Zeugenschaft unterscheidet das Zeugnis von der Spur oder dem Indiz. Nach Ricœur liegt die Valenz des Zeugnisses im Echo, das es findet - von hier ist es nicht weit zu der Überlegung, dass bei gelingender Zeugenschaft immer Aspekte der Überzeugung eine Rolle spielen müssen. Es reicht nicht, dass der Rezipient das Zeugnis hört und versteht, er muss von der Aufrichtigkeit des Zeugen und der Wahrheit der Aussage überzeugt sein: Ein Zeugnis "ist nie vollständig ohne die Akkreditierung und den Glauben der Rezipienten". Darüber hinaus wirft diese Dimension die grundlegende Frage auf, inwiefern die ethischen Gründe, die mit dem Vertrauen in den Zeugen und wiederum dessen Selbstverpflichtung seinem Adressaten gegenüber "auch als Prinzipien von Erkenntnis und Wissenschaft relevant werden können".
Für Nietzsche sind die metaphysischen Orientierungspunkte des menschlichen Selbstbewusstseins unter Generalverdacht geraten, ebenso wie die für ewig gehaltenen Werte, aus denen der Mensch den Glauben an seine Würde bezog. Angesichts der Unwürdigkeit des Menschen erhebt die Selbstverkleinerung der Moderne die Scham zum bestimmenden Grundgefühl, und das schambestimmte Bewusstsein richtet sich letztlich gegen die Moral selbst. Der damit angezeigte Immoralismus wagt einen freien Blick auf die Selbstherabsetzung des modernen Menschen und einen tapferen Ausblick auf einen möglichen Gegenentwurf zur modernen Selbstverkleinerung. Das Verhältnis des Menschen zu sich selbst neu zu bestimmen, diesen Versuch unternimmt Nietzsche anhand der Frage nach der Vornehmheit. Der Vornehme ist ohne jene Scham vor dem Menschen, zeichnet sich zugleich aber durch einen 'Instinkt der Ehrfurcht' und Ehrfurcht vor sich aus.
Der Band bietet erstmalig eine umfassende Analyse der Schlüsselbegriffe Scham und Würde bei Nietzsche. So schließt er zugleich an gegenwärtige ethische Debatten an.
The relevance of the work and the influence of Franz Rosenzweig, a German Jewish philosopher of the beginning of the last century; are still to get the appreciation they deserve. Rosenzweig was the author of one of the greatest – and less read – books of the 20th century, "The Star of Redemption", where he develops his philosophical system mainly on basis of theological categories. To the "monologue of the I" of mainstream philosophy, Rosenzweig opposes a "new thinking", of existential character, which values orality and the "other", and where language substitutes reason as a tool for thought. In it one can find some correspondences with the thought of Walter Benjamin. This "new thinking", also, strongly influenced Emmanuel Levinas and nowadays bears its fruits within "linguistic turn" philosophy and theology, and post-modern Jewish thought. This philosophy found in Rosenzweig's work in translation one of its main practical applications. To translate was for Rosenzweig a necessity, emanating from an ethics constituted as "first philosophy". This article examines some aspects of Rosenzweig's writings from where his "philosophy of translation" is made explicit.
Der Aufsatz nimmt die argumentative Struktur in Tobias Peucers Dissertation "De relationibus novellis" (Leipzig 1690) in den Blick und beschreibt die Sicht Peucers auf eine "angemessene" Presseberichterstattung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Dies betrifft nicht zuletzt auch die Frage nach den persönlichen Dispositionen des Nachrichtenschreibers und der "inneren Haltung", mit der die frühmodernen Zeitungstexte verfasst wurden. Insbesondere ist im Hinblick auf Peucer und seine Zeitgenossen die Frage nach der zeitgenössischen Ausdifferenzierung von fiktionalen und faktualen Textsorten zu stellen. Auch offensichtlich fiktionale Texte bedienen sich sprachlicher Beglaubigungsstrategien, mit denen Glaubwürdigkeit herausgestellt und Faktualität postuliert wird. Das Spannungsfeld zwischen Unterhaltung, Nachrichtenwert und Glaubwürdigkeit von Nachrichten wird auch bei Peucer eindringlich und nach den wissenschaftlichen Standards der Zeit diskutiert.
Kleists kürzeste Novelle vermag bis heute eine "verstörende, die Erwartungshaltung der Leserschaft irritierende Wirkung" zu entfalten! Auch für Wissenschaft und Unterricht bleibt sie eine harte Nuss. Diese im schulischen Literaturunterricht zu knacken, fordert von Lehrenden wie Lernenden viel Frustrationstoleranz.
Davon gibt das folgende Gedicht bitteres Zeugnis:
Kleist, erster Versuch
1
Das Bettelweib von Lugano oder wo
also damit soll ich doch bitte nicht kommen
also wenn ich mal wirklich Gespenstergeschichten
dann könnte ich mich doch beraten lassen
oder mit Ehegeschichten und wie
einer verrückt wird und sonst was
2
wer da, ruft einer und haut
um sich herum
in allen Ofenecken
ein Grinsen
Im Gegenzug zu dem resignierenden Unterton in diesem Gedicht eines erfahrenen Deutschlehrers präsentiert der vorliegende Versuch über Kleists Mini-Novelle Argumente, die im Laufe vieler Jahre literaturwissenschaftlichen Unterrichts zusammengekommen sind, in dem mit Hunderten von Studierenden Probleme der Textanalyse, Interpretation und Kritik an Kleists kleiner Erzählung besprochen wurden.