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Hans-Georg Soldat rezensiert Günter de Bruyns Aufsatzsammlung "Deutsche Zustände. Über Erinnerungen und Tatsachen, Heimat und Literatur" aus dem Jahre 1999. Fast unversehens für den Leser weitet sich die Betrachtung jüngster Gegenwart zu einer subtilen Analyse ihrer Wurzeln, wird zu einer deutschen Geschichtsschreibung allgemein, zur Darstellung der Verdrängungsprozesse, die dabei in Ost und West gleichermaßen eine Rolle spielen. Das Überzeugende daran ist, dass dies ohne jeden Eifer geschieht, unaufgeregt, überlegen und dennoch unglaublich engagiert.
Unbekannte Essays von Robert Musil : Versuch einer Zuweisung anonymer Beiträge im "Losen Vogel"
(2001)
Nicht mit einer Signatur oder vergleichbaren "Zeichen" versehene d.h. anonyme Erscheinungen sind in einer Zeit der Namen eine besondere Herausforderung. In den bildenden Künsten hat sie neben Hilfsnamen wie "Meister mit den Bandrollen" oder "Petrarca-Meister" zu einer Fülle von Attributionen geführt; vor allem, weil der Markt, auf dem die Gier einzelner und der Museen nach großen Namen den großen Preis macht, danach lechzt; so dass sich der Betrachter eines Rembrandt, van Gogh usw. nicht zu Unrecht immer wieder einmal fragt, ob das stolz von einer Galerie herausgestellte Bild denn auch tatsächlich echt sei; und weil er überdies weiß, wie auch in jüngster Zeit renommierte Museen und Auktionshäuser mit ausgewiesenen Experten auf Fälschungen hereinfielen und statt durch Forschung durch bloßen Zufall dahinter kamen. Oder weil er weiß, dass die zahllosen Zuschreibungen zahlreiche Abschreibungen nach sich zogen, etwa die Anzahl der erhaltenen eigenhändigen Gemälde Rembrandts sich von 1935 festgestellten über 600 zunächst um ein rundes Drittel und inzwischen nochmals verringert hat. - Ohne jeden Zweifel: Wäre der "Lose Vogel" eine Sammlung 1911 bis 1914 entstandener und erworbener Gemälde, noch das kleinste davon wäre längst attribuiert und die Attribution diskutiert. Im Wissen um die Probleme des Attribuierens auf dem Gebiet der bildenden Künste habe ich die Herausforderung angenommen und bin das Wagnis eingegangen. Ein Teil der hier mitgeteilten Attributionen ist skizzenhaft entstanden im Zusammenhang mit den textkritischen Untersuchungen zu Kafka. Bei der Rolle, die Blei für Kafka spielt, musste dabei auch die Zeitschrift der Anonymen "Der Lose Vogel" genauer angesehen werden; denn viele der jungen Leute, die Blei gefördert hat oder die mit ihm in Kontakt waren - Carl Einstein, Karl Klammer, Robert Musil, René Schickele, Kurt Tucholsky u. a. – wählen wie Blei selbst irgendwann einmal ein Pseudonym, ein Kryptonym oder die Anonymität.
Mais do que um princípio formal, a noção de ensaísmo de Robert Musil adquire o duplo estatuto de uma "utopia" e de uma atitude diante da realidade. É esse duplo viés que permitirá à arte preservar-se como potência crítica e epistemológica num contexto de crise cultural e de valores na Europa no início do XX. Este artigo aborda a noção de ensaísmo de Musil a partir de seus textos críticos e de seu romance "O homem sem qualidades", demonstrando como as idéias expostas no registro estritamente "ensaístico" se configuram no âmbito da representação poética, consumando assim a "utopia" pretendida pelo autor, de fundar novas relações entre as esferas da razão e do sentimento, da ciência e da arte, da objetividade e da subjetividade.
Peter Weiss: Meine Ortschaft
(2000)
„Meine Ortschaft” - ein Possessivpronomen, ein nicht näher bezeichneter Punkt auf der Landkarte: „Ortschaft”, lesen wir im Universal-Duden, sei auch ein Synonym für „Gemeinde”. In der Tat, um eine sehr spezielle „Gemeinde” an einem sehr speziellen Ort geht es hier, um Auschwitz nämlich, oder präziser, um das, was zwanzig Jahre nach seiner Befreiung von dieser Todesfabrik übriggeblieben ist.
Musil uses the word 'Dichter', 'poet', as a dignified title reserved for artists of great achievement (different from 'Schriftsteller', 'writer'). His use of the word emphasizes the importance of the specifically poetic qualities of literature (and of the poetic sensibility of criticism,) not as an idle objection to the contemporary merging of literary works with either pure sensation and feeling, or with other forms of discourse. Focusing on "Törless", as well as on Musil's notebooks and essays, this article shows how Musil understands the relationship between rational thinking and the latent ideas and thoughts that emerge within the poetic dimension (the 'other state of mind' or 'other condition.') This approach illuminates Musil's conception of "precision and soul" - the interlocking of sensitive perceptiveness and intellectual rigor - as a necessary pre-condition for valuable literature and valuable life.
Hans-Georg Soldat rezensiert für NDR 3 / Radio 3 die 1999 im Suhrkamp Verlag erschiene tagebuchartige Essaysammlung "Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen" von Durs Grünbein. Wieder erweist sich, welch Ausnahme-Autor der jetzt 38 jährige Durs Grünbein ist. Nicht nur, dass die Tagebuchaufzeichnungen in den Ablauf und die Vorgeschichte der deutschen Wiedervereinigung, ihre psychologischen Hemmnisse und spezifischen mentalen Schwierigkeiten, sie haben weit aus mehr zu bieten - literarische Miniaturen, Ausflüge in die Welt der Wissenschaft, Anekdoten aus dem Alltag. Nebenbei vermitteln sie sogar eine Ahnung von dem Werdegang dieses verschlossenen, ernsten Dichters.
Wissenschaft, so heißt es, sei ein Projekt, das auf Erkenntnis zielt. Damit verbunden ist die Vorstellung, daß wir heute mehr wissen als gestern und morgen mehr wissen werden als heute. Die Frage ist nur, ob sich das zu Erkennende auch in diese Gedankenfigur fügt. Wie müßten wir vorgehen, wenn jene weißen Flecken auf der Landkarte des Wissens, welche zu besetzen und zu füllen ein konsti-tutiver Bestandteil wissenschaftlichen Selbstverständnisses ist, eo ipso als Wirklichkeiten anzuerkennen sind, die unerkannte Möglichkeiten in sich bergen? Wie können wir diesen virtuellen Realitäten (im emphatischen Sinne der Prägung, nicht dem geläufigen, der auf einem technizistischen Mißverständnis beruht) gerecht werden, ohne sie durch den fixierenden Zugriff, das Aussagen und Ausmalen, Aufschreiben und Aufzeichnen ihrer Virtualität zu berauben? ...
In der vorhandenen Sekundärliteratur zu Georg Lukács' "vormarxistischem" Frühwerk findet man allzu oft Interpretationen, die - wie Christian Schneider einmal treffend notierte - "einsinnig auf den Zügen von Lukács' theoretischer Physiognomik" insistieren, "die eine lineare Konstruktion des Gesamtbilds erlauben". Manchmal zeitigte zwar diese Forschungslinie wichtige Befunde - aus heutiger Sicht muss sie aber als unangemessen betrachtet werden, da sie den Fokus der Interpretation verengte: Unabhängig davon, von welcher ideologischen Warte aus Lukács' marxistische Wende Ende 1918 positiv oder negativ beurteilt wurde, suchte man aus dem Frühwerk hauptsächlich diejenigen Elemente heraus, die seine Entwicklung zum späteren marxistischen Werk dem Anschein nach verständlich machten. Gleichwohl kann man vielleicht nach dem Ende des Kalten Krieges ohne Vorentscheidungen an die frühen Texte Lukács' herangehen; man kann zumindest versuchen, sie neu zu verstehen, was sich eventuell von Vorteil auch für ein neues Verständnis seiner späteren intellektuellen Entwicklung erweisen könnte. Das Frühwerk Lukács' ist geprägt von einer inneren Verbindung zwischen einer starken kulturkritischen Empfindlichkeit und einem lebhaften literaturwissenschaftlichen Interesse. Lukács' Hauptidee ist einfach: Er diagnostiziert eine grundlegende Problematik der modernen Kultur, deren Widerspiegelungen an den modernen literarischen Formen "abgelesen" werden können. Letztere sind von derselben romantischen "Frivolität" wie das relativistische Zeitalter charakterisiert, in dem sie erscheinen. Diese Entsprechung zwischen der Problematik der modernen literarischen Formen und der modernen Sozial- und Kulturstrukturen war schon Lukács' Leitidee in seinem Erstlingswerk 'Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas'. In seinem zweiten Buch 'Die Seele und die Formen' - das neben der Theorie des Romans von 1916 zu den berühmtesten seines Frühwerks zählt -, versuchte er dann durch eine "metaphysische Vertiefung" die weltanschaulichen Kriterien seiner Kulturkritik der Moderne essayistisch zu untermauern. Im Folgenden möchte ich mich auf diesen Essayband konzentrieren, um - gestützt auf die Interpretationslinie, die ich anderswo umrissen habe - eine neue, umfassende Lektüre dieses Werks vorzuschlagen.
Nachdem Martin Doerry im Spiegel die Krise der Germanistik wiederbelebt hat, bleibt unklar, ob es diese jemals gegeben hat, immer schon gab oder ob wir es hier mit einem Zombie des Feuilletons zu tun haben. Der Artikel zeugt zunächst einmal von einer enttäuschten Erwartung an die Germanistik, die dem Fach eine merkwürdige Potenz zuschreibt. Nur gut, dass die Historiker dieser Erwartung nachkommen, denn bei ihnen werden noch "die großen Fragen der Zeit diskutiert". Doerry hat sich offensichtlich mehr von den Literaturwissenschaftlern erwartet.