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In den Weblogs der Zeit hat sich in den letzten zwei Wochen eine interessante, weil emotionale und problematische Debatte über Verständnis und Unverständnis terroristischer Gewalt entwickelt. Die Debatte ist emotional, da der Ausgangspost von Jörg Lau, persönlich betroffen, ja gar aufgewühlt daher kommt und bisher 1314 Kommentare provoziert hat. Die von Lau und Yassin Musharbash in seiner Replik vertretenen Thesen sind problematisch, da sie unzulässig verkürzen. Die Debatte ist interessant, da sie uns einen Blick auf den Umgang mit terroristischer Gewalt vor allem in Journalismus und Wissenschaft, aber auch in der Gesellschaft erlaubt...
Prophetie und Prognostik : Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten
(2013)
Jede Prognostik bezieht ihre diskursive Macht aus der Behauptung, in gewisser Weise über die Zukunft verfügen zu können, jede Prophetie versucht in ihren Appellen, die Zukunft zu verändern. In beiden Fällen verschränken sich Formen des Zukunftswissens mit Modi wirksamer Rede.
Dabei ist Prophetie nicht einfach eine unwissenschaftliche 'Vorstufe' der Prognostik. Noch die differenzierten Prognosen über Klima, Bevölkerung und Ökonomie, die aus den Zukunftsmodellierungen heutiger Szenariotechnik gewonnen werden, stehen in der Nähe zur Prophetie.
Prophetie und Prognostik untersucht diese Wissensformen, Symboliken und Aussageweisen in verschiedenen Religions- und Wissenschaftskulturen, in bildender Kunst und Literatur.
In diesem Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, wodurch sich wissenschaftliche Zukunftsbetrachtungen, die vielfach für die Politik- und Gesellschaftsberatung unternommen werden, von anderen Formen der Zukunftsschau unterscheiden. Wissenschaftliche Zukunftsschau ist oft teuer und langwierig, es erscheint also mehr als berechtigt, nach ihren Vorteilen gegenüber anderen Zugängen zu fragen, etwa der literarischen Zukunftsschau. Dazu werde ich folgende Thesen entfalten:
• Wissenschaftliche Zukünfte sind soziale Konstruktionen und keine wertneutralen Beschreibungen zukünftiger Entwicklungen.
• Ein Nachweis der Wissenschaftlichkeit wissenschaftlicher Zukünfte ist wissenschaftstheoretisch nicht trivial und unterscheidet sich von den Nachweisen der Wissenschaftlichkeit in anderen Bereichen.
• Die Erwartung, wissenschaftliche Zukünfte seien per se besser als nichtwissenschaftliche (wie z. B. literarische oder astrologisch motivierte Zukünfte) – in dem Sinne, dass sie besser die Zukunft vorhersagen –, ist nicht begründet.
• Stattdessen haben wissenschaftliche Zukünfte die Vorteile, dass sie allgemeine Zustimmungsfähigkeit schaff en, dass sie erlauben, Konsistenzforderungen zu stellen und zu überprüfen, und dass sie ein Lernen aus dem Vergleich der vorhergesagten mit den dann real eintretenden Ereignissen ermöglichen.
Wenn es in diesem Beitrag spezifisch um die Wissenschaftlichkeit von Zukunftsbetrachtungen geht – in Gegenüberstellung zu einer un- oder nichtwissenschaftlichen Prophezeiung –, so möchte ich die Betrachtung auf die wissenschaftlich gestützte Zukunftsschau in gesellschaftlichen Feldern beschränken und nicht auf Vorhersagen generell, etwa der Astronomie, der Meteorologie oder der Kosmologie, erstrecken.
Gesichtsauflösungen
(2013)
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird aus einem wiedergeöffneten Stollen der Bergwerke von Falun in Schweden der nahezu unversehrte Leib eines verschütteten Mannes geborgen. Die verblüfften Bergleute blicken in ein frisches Gesicht, in "die noch unveränderten Gesichtszüge eines verunglückten Jünglings" – wie es in der Quelle, in Gotthilf Heinrich von Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften (1808) heißt. Gleichsam eingelegt in Kupfervitriolwasser hat das Gesicht in 300 Ellen Tiefe überdauert, doch kann dessen Konservierung der Berührung mit Luft und Licht und mithin dem Auge der Umstehenden nicht standhalten. Gesicht und Körper lösen sich auf, zerfallen zu Staub, doch erst, nachdem ein altes Mütterchen "an Krücken und mit grauem Haar" den Konservierten erkennt und an ihre Brust drücken kann: Nicht die Mutter, nein sie ist die Braut des Jünglings von vor fünfzig Jahren, und ihr eingefallenes, "verwelktes" Gesicht kontrastiert der Wirkung des seinen. Die Geschichte vom konservierten Bergmanngesicht ist eine der bekanntesten Kombinationen von Literatur und anorganischer Chemie. Johann Peter Hebel und E.T.A. Hoffmann haben diese Geschichte der Flüssigkeiten als eine Art Antidoton gegen die Auflösungserscheinungen des Gesichts erzählt, die zumindest bei Hebel von einer Verwirrung der Chemikalien und ihrer Wirkungen geprägt ist. Denn die schnelle Auflösung, freilich nach vollzogener Identifikation durch die alte Braut, widerspricht dem chemischen Prozess, durch die jedoch deutlich werden soll, dass der unversehrte Kopf in Vitriol, seine Erkennbarkeit und Präsenz nur um den Preis der Sichtbarkeit zu haben ist: Allein als ein den Blicken und Interaktionen mit den Menschen entzogener Kopf bleibt er sich gleich, ist er intakt, unvergänglich. Damit wird gleichsam auf dem Haupt des aus der Zeitlichkeit herausgefallenen Bergmanns ein Spiel um natürliche und erworbene Konservierungsmodalitäten durch das Vitriol des Berges einerseits und das Gedächtnis der ergrauten Braut andererseits ausgetragen. Als Garanten gegen die Auflösung buhlen sie um die Haltbarkeit und physische Integrität des Menschen, genauer um das Bild von ihm. Durch eine "Verwirrung der Chemikalien", die im Übertrag von der Quelle zur Prosaerzählung erfolgte, wird der Konservierungsstoff Kupfervitriol oft als Eisenvitriol oder folgenreicher und entgegen der Nomenklatur gar als Schwefelsäure überliefert. In dieser starken Säure allerdings hätten sich nicht nur Gesicht und Körper des Bergmanns in maximal zwei Stunden, sondern auch das ganze Bergwerk zersetzt. Im konservierten Bergmann als der Geschichte einer aufgeschobenen Auflösung konvergieren einige Themenfelder der folgenden Beiträge: Neben dem Entzug und der Bergung eines unversehrten Antlitzes, dem eine Art facelifting zuteil wurde, sind es die Umstände seiner Erinnerung und die Bedingungen zu seiner Wiedererkennung, seine Fragilität und sein Zerfall. Themen, in die an dieser Stelle ein wenig eingeführt werden soll.
Eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf Zukunftswissen und Zukunftsforschung darf sich allerdings nicht nur auf die wissenschaftliche Prognostik der Gegenwart beschränken. Vielmehr verweist die Verschränkung von Wissen, Sprache und Macht auf ältere Figuren, deren Untersuchung es ermöglicht, die blinden Flecken im gegenwärtigen Diskurs zu erhellen. Zu ihnen gehört die Prophetie als eine der wirkmächtigsten Formen, auf Zukunft zuzugreifen und im Namen von etwas zu sprechen. Denn auch der Prophet redet nicht aus eigenem Antrieb und auf eigene Rechnung über die Zukunft, sondern als Ermächtigter, als Delegierter, als Medium: Er versteht sich vor allem als Bote Gottes, in dessen Namen er spricht und dessen Worte er überbringt. Was er über die Zukunft 'weiß' – welche kommenden Zustände er ausmalt, androht, verheißt –, hat er aus dieser Vollmacht. Artikuliert wird dieses Wissen nicht um seiner selbst willen, sondern mit dem Ziel, einen göttlichen Auftrag zu erfüllen, nicht selten im schmerzlichen Bewusstsein, einem solchen Auftrag nicht gewachsen zu sein – der Widerstand der Propheten gegen ihre Sendung ist ein stehender Topos biblischer Berufungsgeschichten. Im prophetischen Sprechen koexistiert daher die Behauptung unumstößlicher Gewissheit mit der Inszenierung äußerster Schwäche.
Sowohl die exklusive Vermarktung steuerfinanzierter wissenschaftlicher Werke durch Verlage als auch das Wissenschaftsurheberrecht stehen seit längerem in der Kritik. Die Open-Access-Bewegung tritt dafür ein, dass überwiegend öffentlich geförderte wissenschaftliche Ergebnisse frei im Internet verfügbar sein sollen. Die Implementierung dieses Ideals stößt aber auf erhebliche Beharrungskräfte. Deshalb gehen öffentliche Forschungsförderer vermehrt dazu über, Wissenschaftler zu Open-Access-Publikationen zu verpflichten. Der Beitrag skizziert die rechtlichen Maßnahmen, die ergriffen werden müssten, um Open Access zum Goldstandard der wissenschaftlichen Veröffentlichung zu küren. Ferner geht der Beitrag der Frage nach, ob ein solches Regelwerk Grundrechte der Verlage und der Wissenschaftler verletzen würde.
Seit dem Einzug der digitalen Netzwerktechnologie ist das Urheberrecht zu einem heftig umkämpften Politikum geworden. Dies gilt auch im Hinblick auf „Wissenschaft“ als urheberrechtlichen Schutzgegenstand. Ob das Verhältnis zwischen Urheberrecht und Wissenschaft allerdings überhaupt als problematisch erscheint und welche Lösungsansätze für einen ggf. wahrgenommenen Konflikt präferiert werden, hängt maßgeblich von der Perspektive ab. Der Beitrag unterscheidet insoweit eine urheberrechtliche von einer wissenschaftstheoretisch/-soziologischen Betrachtungsweise. Es zeigt sich, dass nur Letztere geeignet ist, den gegenwärtig stattfindenden, grundlegenden Wandel des wissenschaftlichen Kommunikationssystems zu erklären und adäquate Regulierungsvorschläge zu entwickeln.