Refine
Document Type
- Article (11)
- Book (4)
- Part of Periodical (1)
- Report (1)
Language
- German (17)
Has Fulltext
- yes (17) (remove)
Is part of the Bibliography
- no (17) (remove)
Keywords
- Anarchismus (17) (remove)
Institute
Mattia Luigi Pozzi liefert aus philosophiegeschichtlicher Perspektive einen Überblick über "Die Rezeption Stirners in Italien (1850-1920)". Pozzi kann zeigen, dass die Auseinandersetzung mit dem deutschen Denker eng verbunden ist mit der Ablehnung der Hegelschen Philosophie und eine starke Selbstreflexion der italienischen Zeitgenossen bewirkt. Kritik an Stirner und gleichzeitig eine starke Faszination durch dessen Theorien entwickeln sich im postrisorgimentalen Italien durch die Schlagworte Anarchismus und Individualismus. Diese werden immer wieder in Diskussionen von Schriften Stirners diskutiert. Pozzi kann zeigen, dass und wie sich die Stirner-Rezeption bis ins 20. Jahrhundert ununterbrochen fortsetzt. Sie wird auch für das Denken Benito Musselinis einflussreich.
Dort, wo der Weg der Geschichte sich gegabelt hat zwischen der Hinnahme des Gewohnten und dem Ausstieg aus ihm, so sanft wie tunlich oder so revolutionär wie nötig, da stoßen wir auf eine Reihe von Neuerern: Kritiker der gesellschaftlichen Verhältnisse oder der überkommenen Denkbahnen, z.T. auch Sprachkritiker, Sprachneuerer. Die "Linkshegelianer" bilden den Grundstock: Strauß, Feuerbach, Bruno Bauer, Stirner, Hess, in ihren Anfängen müssen wir auch Marx und Engels dazu zählen. Sie haben an schon etablierten politischen Lehren weitergearbeitet, aber sie haben, vor allem, neue Lehren und eine Kritik an allem Überkommenen in die Welt gesetzt. Zu einem beträchtlichen Teil haben sie sie nicht selbst erdacht. Bei französischen Revolutionären (oder auch Reformern) von Babeuf und Fourier bis zu Proudhon sind sie in die Lehre gegangen, Marx auch bei Ricardo und den Größen der britischen Nationalökonomie. Auf die Nachzeichnung jener Lehren soll es hier ankommen. Dazu greife ich einen heraus, der interessant ist, weil er von den Anfängen seiner Reflexion an, erst mit der Verarbeitung seines Judentums beschäftigt, sich zu einem Mitkämpfer der führenden kommunistischen Führerpersönlichkeiten entwickelt hat, aber auf anarchistische Weise; danach ist er auch noch bei den frühen Sozialdemokraten gelandet, eben Moses Hess.
Keine Macht für Niemand : gegen die Ehe: Luise Mühlbach, Louise Dittmar, Louise Aston, Wilhelm Marr
(2017)
Theoretisch-utopische Entwürfe der Frühen Neuzeit und der Aufklärung haben fast automatisch nur männliche Akteure im Blick. Wenn Frauen dennoch auftauchen, dann allenfalls als Gebärerinnen, Haushaltsverantwortliche oder Erzieherinnen. Und auch für 'anarchoide' Entwürfe des 18. Jahrhunderts - gleich ob theoretisch-utopische oder literarische - gilt: Es waren fast ausschließlich solche von Männern für Männer. Diese Sichtverengung änderte sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts, d.h. mit dem Eintritt von Frauen als Autorinnen in soziale und politische Diskurse. Denn Frauen - unter einer Mehrfachherrschaft: unter dem gleichen sozialen, ökonomischen und politischen Druck wie Männer, aber zusätzlich noch unter dem Druck eben der Männer - hatten ihre Anliegen selbst in die Hand zu nehmen, und sie nahmen sie in die Hand. Und es zeigt sich: Nicht wenige der Emanzipationsdiskurse, die bislang als demokratisch angesehen wurden und werden, waren mitnichten 'nur' demokratisch. Denn sie waren nicht selten anarchistisch oder 'anarchoid'. Das verdeutlichen zum Beispiel auch die Debatten um den Status von 'Ehe'.
In Deutschland nahezu unbekannt, gehört der Schriftsteller Laurent Tailhade (1854-1919) zu den interessantesten Persönlichkeiten des literarischpolitischen Anarchismus im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts. Er verfasste zahlreiche Gedichte und Essays, trat aber auch als Autor polemischer Zeitungsartikel und als aggressiver Redner hervor, sodass sich an seiner Person exemplarisch das Zusammenspiel von literarisch-ästhetischer und politisch-provokativer Praxis darstellen lässt.
Berühmt wurde Tailhade durch seinen zynischen Ausspruch "Qu’importent les victimes si le geste est beau!" anlässlich des Attentats von Auguste Vaillant auf die Französische Nationalversammlung im Dezember 1893: Gegenüber der "Schönheit" des terroristischen Aktes spielten humanitäre Erwägungen für Tailhade scheinbar keine Rolle. Nur wenige Monate später, im April 1894, wurde er selbst Opfer eines Anschlags in dem Pariser Restaurant Foyot, wobei er ein Auge einbüßte, sich aber dennoch - dies ist neben der ‚Ironie des Schicksals‘ der eigentlich entscheidende Aspekt - weiterhin für anarchistische Ideen einsetzte. Im Folgenden soll versucht werden aufzuzeigen, wie sich die zur viel zitierten ästhetizistischen Provokationsformel geronnene Aussage Tailhades in dessen literarisch-intellektueller Entwicklung und im künstlerischen und politischen Kontext des 19. Jahrhunderts verorten lässt.
0. Wenn man als Anarchisten jemanden versteht, der davon überzeugt ist, dass es den Menschen möglich ist, ihr Zusammenleben so zu organisieren, dass Herrschaft in jeglicher Form verzichtbar ist, dann war Grabbe ganz sicher keiner. Auch gibt es in allem, was schriftlich von ihm überliefert ist, keinen einzigen Hinweis darauf, dass er sich jemals zustimmend zum Ideal der Herrschaftslosigkeit geäußert hätte. Wenn Grabbe m.E. dennoch zum Kontext des Themas Anarchismus im Vormärz gehört, so hat das andere Gründe.
1. Negativer Anarchismus
Das Programm, mit dem sich der noch ganz junge, 1801 geborene literarische Debütant mit seiner Tragödie 'Herzog Theodor von Gothland' (entstanden zwischen 1819 und 1822) von dem das literarische Feld seiner Zeit bestimmenden klassisch-idealistischen Diskurs in radikalster Weise abgrenzen will, ist das eines Frontalangriffs auf alle ihm zugrunde liegenden Wertvorstellungen und Deutungsmuster. Die hehren Ideale des klassisch-humanistischen Projekts (das Wahre, Gute und Schöne als zugleich Mittel und Ziel der menschlichen Veredelung durch einen umfassenden Bildungsprozess) werden im Gothland ebenso rigoros als nicht mit der Wirklichkeit kompatibel zurückgewiesen wie die aufklärerische Grundannahme der Perfektibilität des Menschen und die christliche Überzeugung von einem guten Gott, der die Geschicke im Sinne der an ihn Glaubenden und ihm Vertrauenden lenkt. Nach Grabbe ist so gut wie in jeder Hinsicht das Gegenteil der Fall.
In Deutschland nahezu unbekannt, gehört der Schriftsteller Laurent Tailhade (1854-1919) zu den interessantesten Persönlichkeiten des literarischpolitischen Anarchismus im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts. Er verfasste zahlreiche Gedichte und Essays, trat aber auch als Autor polemischer Zeitungsartikel und als aggressiver Redner hervor, sodass sich an seiner Person exemplarisch das Zusammenspiel von literarisch-ästhetischer und politisch-provokativer Praxis darstellen lässt.
Berühmt wurde Tailhade durch seinen zynischen Ausspruch "Qu’importent les victimes si le geste est beau!" anlässlich des Attentats von Auguste Vaillant auf die Französische Nationalversammlung im Dezember 1893: Gegenüber der "Schönheit" des terroristischen Aktes spielten humanitäre Erwägungen für Tailhade scheinbar keine Rolle. Nur wenige Monate später, im April 1894, wurde er selbst Opfer eines Anschlags in dem Pariser Restaurant Foyot, wobei er ein Auge einbüßte, sich aber dennoch - dies ist neben der 'Ironie des Schicksals' der eigentlich entscheidende Aspekt - weiterhin für anarchistische Ideen einsetzte. Im Folgenden soll versucht werden aufzuzeigen, wie sich die zur viel zitierten ästhetizistischen Provokationsformel geronnene Aussage Tailhades in dessen literarisch-intellektueller Entwicklung und im künstlerischen und politischen Kontext des 19. Jahrhunderts verorten lässt.
Die "erste anarchistische Sammlung in deutscher Sprache" hat der vielleicht bedeutendste Historiker des Anarchismus, Max Nettlau, die von Ludwig Buhl 1844 herausgegebene 'Berliner Monatsschrift' genannt und im gleichen Atemzuge Edgar Bauers ein Jahr zuvor entstandenes, dann beschlagnahmtes und 1844 neugedrucktes Buch 'Der Streit der Kritik mit Kirche und Staat' als anarchistische Schrift gewürdigt. Beide Texte entstammen dem lockeren Kreis der Berliner 'Freien', der aus dem Doktorklub der 1830er Jahre hervorgegangen ist und zu dem neben Edgar Bauer und Ludwig Buhl etwa Max Stirner, Arnold Ruge, Moses Hess oder Eduard Meyen gehörten und in dem Edgars Bruder Bruno die führende Rolle spielte.
Im Folgenden möchte ich den anarchistischen Motiven in den beiden von Nettlau genannten Texten nachgehen. Das bedeutet: Ich beschränke mich auf diese beiden Quellen und wage gar nicht erst den Versuch, anarchistischen Gedankengängen in anderen Schriften der Gruppe nachzuspüren oder gar eine Geschichte der Kritik im Bauer'schen Freundeskreis zu schreiben. Indem ich von einem Kreis spreche, halte ich die Abgrenzung bewusst offen und lasse die bekannten terminologischen und historischen Unterscheidungen zwischen Links- und Rechts-, Jung- und Althegelianern dahingestellt sein.
Für Deutschland gilt nach wie vor, wie Olaf Briese es jüngst formulierte, "dass anarchistische Theorieanalysen aus dem Feld derjenigen kommen, die sich selbst als Anarchisten verstehen." Völlig zutreffend stellt er fest, dass "[u]niversitär-akademisches Milieu und anarchistisches Milieu sich nicht [...] aneinander beflecken [wollen]." Der vorliegende Band hat den Anspruch, diesem Muster nicht zu entsprechen. Er versammelt Beiträge aus beiden "Milieus", wobei insbesondere darauf hinzuweisen ist, dass sich gerade die deutsche Literaturgeschichtsschreibung mit der Thematik Anarchismus in der Literatur bislang so gut wie gar nicht beschäftigt hat. Und sicher wird es auch überraschen, wenn in diesem Kontext neben den explizit philosophischen Bezügen von Autoren wie Friedrich Schlegel, Christian Dietrich Grabbe, Gottfried Keller oder Friedrich Theodor Vischer die Rede ist.
Der Anarchismus stellt eine Form des Gefühls der Grenzenlosigkeit dar. Ob der politische Anarchismus auf dieser affektiven Basis entsteht oder einen anderen Ursprung hat, sei zunächst dahingestellt. Wie ist es aber möglich, dass sich dieses Gefühl immer wieder entwickelt, ohne sein Ziel - die Grenzenlosigkeit - je erreichen zu können? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich an der Wurzel dieses Gefühls ansetzen. Oft gründet das Gefühl überbordender Freiheit im Gefühl des Behütetseins bzw. des Schutzes, in dem man nur allmählich zum Wunsch der Überschreitung kommt, weil die Grenzen nicht fühlbar waren, innerhalb derer sich das Kind in seiner familiären Tätigkeitssphäre noch unbewusst bewegte. Gerade die Abwesenheit eines Kanons von Verhaltensregeln ermöglichte es dem Kind, den Fallen und Inklinationen transgenerationaler Verhaltensanweisungen gegenüber noch frei zu bleiben. In dieser Grenzferne des Kindes - sowie auch im Zustand der Resignation mancher Erwachsenen, die ihr Ziel nicht erreichen konnten und aufgeben mussten - kann das gedeihen, was jene "Lehre von der Freiheit als Grundlage der menschlichen Gesellschaft" erahnen lässt, die Erich Mühsams sozialistischer Prägung als sittlicher Zustand und geistige Welt gegolten hatte. Gesetzesferne bedeutet aber noch keine intendierte Gesetzlosigkeit.
Aus der Gesetzesferne trifft das Kind vielmehr allmählich auf die Regularien, die diese Gesetzesferne durch soziale Entitäten ablösen wollen. Die Grenzferne des Kindes hatte aber bereits tiefergreifend seine Handlungsauffassung geprägt. Im Folgenden möchte ich die These entwickeln, nach der ein Element des Anarchismus eine schon früh ansetzende Gefühlsform ist.
Was könnte Max Stirner, den Propheten des Individual-Anarchismus, mit der Urgestalt des kollektivistischen Anarchismus verbinden? Welche Gemeinsamkeit bestehen zwischen dem Stirner'schen "Mir geht nichts über Mich" und seiner Lobpreisung des "Egoismus" und Bakunins Kampf für die Befreiung der Menschheit? Steht nicht die Stirner'sche Kritik alles Religiösen diametral dem Bakunin'schen Setzen auf eine "neue Religion des Volkes" gegenüber? Ist Bakunin nicht gerade einer jener Freiheitsschwärmer, die Stirner immer wieder polemisch attackiert und - anders herum -, Stirner aus Bakunins Perspektive einer jener Bourgeois-Egoisten, die nur an sich selbst denken und die Idee der Freiheit nicht verstanden haben? Es liegt also mehr als nahe, beide Denker als miteinander unvereinbar zu erklären. Zeigen nicht alleine schon die endlosen Querelen zwischen individualistischen und sozialistischen (kollektivistischen, kommunistischen) Anarchisten, dass hier keinerlei Verbindung möglich ist? Und so, wie wenn von letzteren den ersteren bisweilen abgesprochen wurde, überhaupt Anarchisten zu sein - lässt sich das dann nicht umso mehr in Bezug auf Stirner selbst geltend machen?
Es wird im Folgenden nicht eine Geschichte der erwähnten Querelen innerhalb der anarchistischen Bewegung erzählt werden können, noch wird es im Kern darum gehen, Stirner als Anarchisten auszuweisen. Was dagegen gezeigt werden soll, ist, dass sich das Denken bzw. die Intention Stirners und Bakunins keineswegs derart unvereinbar gegenüber stehen wie oftmals angenommen.