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Die hier vorgestellte Studie entwickelt eine Theorie 'lyrischer Selbstentwürfe' und leistet eine kritische Bestandsaufnahme und Evaluation diesbezüglicher Forschungspositionen. Entgegen verbreiteter literaturwissenschaftlicher Grundannahmen wird die These vertreten, dass lyrische Texte faktual sein und auf Autor:innen referieren können. Für solche Fälle liefert die Studie ein begriffliches Instrumentarium, das sie an Beispielanalysen erprobt.
Ungeachtet ihrer Relevanz und Wichtigkeit, das werden wir sehen, gehört die Selbstbefragung nicht per se zum Brotgeschäft des akademischen Alltags. Die Problematisierung der eigenen Arbeitsweise nimmt abseits des Lehrbuchs (und dort unter anderen Vor- und Fragezeichen), das seine Beliebtheit zuweilen einer Gemengelage verlegerischer Interessen und curricularer Finessen verdankt, nur eine äußerst marginale Rolle in wissenschaftlichen Lebenswelten ein. [...]
Die sozioautobiographischen Tendenzen an den Übergängen zwischen aktuellen Sozialwissenschaften und Gegenwartsliteratur scheint diesem zwar unbeabsichtigt Abhilfe zu schaffen; um aber der bloßen Konstatierung eines neuen 'turns' zu entgehen, ist allerdings deren gesellschafts- und gattungstheoretische Einbettung dringend angeraten. Die Einordnung der sozioautobiographischen Erfolgs-, genauer Rezeptionserfolgsgeschichte wird nur im Gefolge einer interdisziplinären Gesellschaftstheorie deutlich. Diese erinnert dann gleichzeitig an die frühe Konsolidierungsphase der Soziologie, in der das Soziologische sich formierte als permanenter Übergang von Wissensformen und Erkenntnispraktiken: Erst im Dialog, nur durch den Austausch konnte sich die Soziologie begründen. Diese These zu plausibilisieren ist das erste Anliegen dieses Essays, das zweite ist es, Konsequenzen aufzuzeigen, die sich aus diesem Kontext für die Bewertung gegenwartssoziologischer Tendenzen mit Zukunftsansprüchen ableiten lassen.
Through various cases and instances, this essay opens with the question of biography and the demands of its form: that is, biography's attempt to reduce historical totalities to the page in moments of sudden condensation. It then introduces the figure of Charlotte Wolff (1897–1986), a doctor and later hand reader and sexologist, who appears on a diagram, constructed by Walter Benjamin in 1932, to map his life through his 'Urbekanntschaften' (primal acquaintances). It then seeks to transpose Benjamin's diagram into other linear forms, such as a family tree, a diagram of chemical affinity, and an astral chart, to add one: the diagram as a map of the hand. This opens up a number of temporal, historical, and epistemic reductions, or cases of reduction, in Wolff's work and beyond. It concludes with a particular moment in Wolff's biography - her arrest in 1933 and her escape to Paris - as a final instance of the line, as border.
Zeitgenössische autobiographische Textauszüge dienen als eine gute Inspiration zum biographischen Schreiben, denn in ihnen begegnen dem Leser Themen wie Kindheit, Jugend, Schule, Reisen, Stadt, Heimatort. Diese Ich-Geschichten sind erinnernd, beschreibend, berichtend und erzӓhlend. Das Ziel dieser Arbeit ist es darzulegen, inwieweit ein Portfolioeinsatz einen Beitrag bzw. eine Anregung zum Schreiben über eigene Lebenserfahrungen anhand von beschreibenden, berichtenden und erzählenden Aufzeichnungen von Erinnerungen zu leisten vermag. Durch das Lesen von Auszügen autobiographischer Texte erlangen die Studierenden grundlegende Kenntnisse über die Funktion von beschreibenden, berichtenden und erzӓhlenden Darstellungsweisen und nutzen diese bei der schriftlichen Darstellung ihrer eigenen Erlebnisse und Erfahrungen. Insgesamt wird nicht nur die Dokumentation der eigenen Schreibprodukte, sondern auch die inhaltliche sowie formale Gestaltung des Schreib-Portfolios für die Produktion von biographischen Texten als wirksam angesehen. Die Studierenden sahen sich in ihrem handwerklichen Tun bei der Produktion eigener autobiographischer Texte bestӓrkt und ermutigt.
Das weisse Buch (2010) dient Rafael Horzon als Baustein seiner öffentlichen Inszenierungspraktiken, die, so die These dieses Beitrags, den kulturellen Techniken von hochstaplerischen Performances entsprechen. Es wird folgend der Versuch unternommen, Überlegungen zum Begriff der ‚Hochstapelei‘ mit vielversprechenden Ansätzen der autofiktionstheoretischen Forschung zu verbinden. Dabei arbeitet der Beitrag heraus, wie sich der reale Autor Rafael Horzon als gleichnamiger autodiegetischer Erzähler in Das weisse Buch inszeniert. Peritextuelle Angaben in Form von zugleich ironisierenden und täuschenden Gattungsbestimmungen sowie Wahrheitsbekundungen sind Teil einer textintern zum Vorschein kommenden hochstaplerischen Performance. Mit dem spielerischen Umgang zwischen Primärtext und Epitexten setzt der reale Autor Horzon diese Performance textextern fort und versperrt seinen Rezipient*innen letztlich den Zugang zur ‚echten‘ Person hinter dieser schelmischen Fassade.
Dieser Beitrag fokussiert die Arbeiten von Charlotte Prodger als ein Beispiel für gegenwärtige künstlerische Strategien, die sich bewusst einer Vereinnahmung bzw. einer Kommodifizierung queerer Ästhetiken verweigern und stattdessen die Notwendigkeit einer queeren Selbstbestimmung und damit einer queeren Bewegungsgeschichte (erneut) in den Vordergrund rücken. Insbesondere der 2019 bei der Biennale in Venedig gezeigte Film "SaF05" wird dabei im Zentrum der Überlegungen stehen - eine Arbeit, die in gewisser Weise an experimentelle Prozesse des New Queer Cinema anknüpft und die Betrachtenden in und durch queere (Erinnerungs-)Landschaften führt.
Niklas Luhmann hat die europäische Moderne als einen Ausdifferenzierungsprozess beschrieben, der am Ausgang des sogenannten Mittelalters begann und alle gesellschaftlichen Bereiche erfasste. Das betrifft auch und insbesondere 'die Technik'. Deren herausragende Vertreter sind die Ingenieure, die man als Gewinner des Modernisierungsprozesses bezeichnen kann, erlebte dieser Berufsstand doch vor allem seit der Aufklärung eine Erfolgsgeschichte, die nicht mehr nur die Erweiterung und Ausdifferenzierung des eigenen Berufsbilds umfasste, sondern auch in die Gesellschaft hineinwirkte und diese wesentlich veränderte. [...] Insbesondere die Sozial- sowie die Technikgeschichtsforschung haben jedoch herausarbeiten können, dass sich eine Kluft auftat zwischen der Selbstwahrnehmung 'der Ingenieure' als "Intellektuelle[] der Technik" und der aus ihrer Sicht noch immer nicht angemessenen Fremdwahrnehmung durch eine doch maßgeblich durch Technik bestimmte und von ihr profitierenden Gesellschaft. Dieser häufig beklagten Verteilungsungerechtigkeit symbolischen Kapitals in Form von Sozialprestige liegen allerdings realgesellschaftliche Defizite zugrunde, insbesondere die Unterrepräsentation in politischen Gremien oder, wie der Hochofentechniker Joseph Schlink schon 1879 aufzählte, in Sachen "Besitz, Macht und Einfluss, Mitgliedschaft von parlamentarischen, kommunalen und sonstigen Körperschaften, Titel und Orden, Hoffähigkeit und Adel u. dergl.". Auf beide Problembereiche reagierten 'die Ingenieure' mit diskursiven, pragmatischen und institutionsorientierten Strategien. Aus 'der Technik' als dem schlechthin Anderen der Kultur wurde eine technische Kultur als harmonische Verbindung, sie wurde also als Anpassung beider Sphären konzeptualisiert. Den Autobiographien deutscher Ingenieure kommt insofern eine herausragende Rolle in diesem Prozess zu, als sie die persönlichen Erfahrungen der Autoren mit einem gruppenbezogenen Anspruch an die Gesamtgesellschaft verknüpfen. In diesem Sinne nutzten die Ingenieure gezielt die nach Peter Sloterdijk zentrale Gattungsfunktion für ihre Zwecke: "Lebensgeschichtliches Erzählen ist eine Form sozialen Handelns - eine Praxis, in der individuelle Geschichten mit kollektiven Interessen, Werten, Phantasien und Leidenschaften zusammengewoben werden". Das Ziel dieses sozialen Handelns war die Sichtbarmachung, Anerkennung und Etablierung des auf technischem Gebiet genial-tatkräftigen Individuums, des 'großen Mannes'. So konnten 'die Ingenieure' ihren Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe erheben und sich selbst aus der als demütigend empfundenen Anonymität herausführen. Mittels ihrer oft mit Vorbild- und Appellfunktionen versehenen Autobiographien gelang es ihnen, aktiv eine neue, technische Kultur zu gestalten.
Im Zusammenhang mit den Tendenzen zum Autobiographischen in der Gegenwartsliteratur, die seit einiger Zeit unter dem Label der Autofiktion bekannt sind, wird häufig der Name der französischen Autorin Annie Ernaux genannt. Allerdings hat der Tagebucheintrag in ihrem Werk eine besondere Funktion, dient er doch der nachzeitigen Stabilisierung ihrer anderen Texte. Sie selbst bezeichnet ihre Texte, die autobiographische Erlebnisse im Kontext der sie bestimmenden sozialen Strukturen erzählen, auch nicht als Autofiktionen, sondern als "Autosoziobiographien", die sich ihrem Gegenstand nur im Rückblick annähern können.
Inzwischen mag es fast in Vergessenheit geraten sein, wie Facebook seine Hauptspielwiese bis zum Herbst 2011 genannt und organisiert hatte: Im Zentrum der Anwendung befand sich eine hellgraue Wand oder Mauer, an die man Informationen in zahlreichen Formaten und Varianten heften konnte. Was zuvor als flächig organisiertes, statisches, mit einem begrenzten Raum ausgestattetes, ältere Einträge automatisch verdrängendes Format diente, wird nun im Herbst 2011 ersetzt durch eine Organisationsform, die man - nicht ohne zahlreiche Implikationen - 'Timeline' zu nennen beliebt. Im Gegensatz zur vorherigen bietet diese neue Struktur ein dynamisches, spaltenartiges, nach oben in die offene Zukunft organisiertes Format, mit einem lediglich nach unten begrenzten Ursprung, ein Arrangement also, das ältere Einträge für den Besucher allesamt unmittelbar sicht- und abrufbar vorhält. Warum, so könnte man fragen, nimmt Facebook diese Änderung vor? Worin bestehen die Gründe, dass eine weitestgehend statische Fläche ersetzt wird durch eine verschiebbare, dynamische Zeitleiste? [...] Es läge nahe zu vermuten, dass einem solchen Medienwechsel vor allem ästhetische oder modische Überlegungen vorausgingen. [...] Ich möchte nun im Folgenden gegen diese allzu leichtgewichtige Vermutung einer rein ästhetischen, aufmerksamkeitsheischenden oder gänzlich arbiträren Umstellung seitens der Firma argumentieren, um einige strukturelle Gründe dafür anzuführen, warum sich dieser Wechsel dennoch und vor allem für die Firma Facebook als ratsam und nicht nur werbetechnisch als profitabel erwiesen hat. Eine solche Begründung findet sich allerdings weder in der Keynote von Zuckerberg vom September 2011 erwähnt noch im Kleingedruckten der Facebook-Statuten. Um die wahren Beweggründe für einen solchen, als durchaus tiefgreifend zu charakterisierenden Eingriff zu ermessen, erweist sich eine medienhistorische und auch medientheoretische Perspektive als außerordentlich hilfreich. Dazu sei zunächst etwas weiter ausgeholt, und zwar meinerseits mit Hilfe einer Zeitleiste, und zwar einer Zeitleiste zur Geschichte der Zeitleiste, die zeigt, was eine Zeitleiste eigentlich leistet.
Einer gängigen Periodisierung zufolge stellt das Leben, dem Bereich der Repräsentation entzogen und als Unbestimmtheit, Pluralität oder Vermögen verstanden, die Wissenschaften und die Ästhetik um 1800 vor ähnliche Probleme. Zugleich rückt der arbeitende, sprechende und lebende Mensch, das Subjekt und bevorzugte Objekt der sich etablierenden modernen Wissensordnung, in eine aushandlungsbedürftige Doppelexistenz als Einzel- und Gattungswesen. [...] Die sukzessive Ablösung eines naturhistorischen Zugriffs auf den Menschen durch einen experimentalwissenschaftlichen sowie die Aufkündigung von dessen Fundierung in einem göttlichen Heilsplan im Verlauf des 18. Jahrhunderts lassen sich als Vorgeschichte dieses modernen Lebenswissens erzählen. Ein eklektisches Textaufkommen, das sich seit dem späten 17. Jahrhundert aus diätetischer, medizinischer, philosophischer oder literarischer Perspektive mit dem Leben des Menschen beschäftigt, erlaubt jedoch auch den Schluss, dass sich hier in der Überkreuzung unterschiedlicher formaler Traditionen und Entwicklungen Spuren eines anderen Wissens vom Leben beobachten lassen: eines Wissens, dessen Fluchtlinie nicht zwingend jenes unförmige, anonyme Leben ist, dessen Karriere 'um 1800' beginnt, sondern dessen Gegenstand und Horizont ein irreduzibel konkretes Leben ist.