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In aktuellen Diskussionen werden Forderungen nach einer diversen Kinder- und Jugendliteratur laut. Autor:innen wie Andrea Karimé oder Chimamanda Ngozi Adichie fordern Gegenerzählungen oder sprechen von den Gefahren einer 'single story', in denen den Leser:innen nur weiße Geschichten präsentiert werden. Im Mittelpunkt des Beitrags stehen ausgewählte Kinderromane der Autorin Andrea Karimé sowie die Frage nach diversen und intersektionalen Kindheitsbildern. Die Analysen zeigen, dass sowohl diversitätssensible als auch intersektionale Perspektiven für die Auswahl von Kinderliteratur für den Unterricht bereichernd sind, denn sie eröffnen den noch jungen Leser:innen nicht nur neue Welten, sondern stärken auch die Kinder mit Blick auf ihre eigene Lebenswelt. Zugleich spielt insbesondere Intersektionalität eine untergeordnete Rolle, sollte aber dennoch aufgrund des hohen Potentials stärker in die literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Debatten rücken.
Der Erfolg von Elena Ferrantes vierbändigem Romanzyklus "L'amica geniale" (2011-2014) wird hier in der Verortung Ferrantes in die Schule der literarischen Hontologie (Eribon, Ernaux, Louis) und in eine Strömung von Romanen, die den Klassismus anvisiert, erklärt. Gezeigt wird, wie intersektionale Verflechtungen von Ferrante in Szene gesetzt werden: Das Schicksal eines proletarischen Mädchens mit intellektuellen Ambitionen, aufgewachsen in einem Armenviertel, in dem Gewalt und Mafia an der Tagesordnung sind und immer wieder an den gesellschaftlichen Benachteiligungen sich stoßend etc. Sexismus, Homophobie, Regionalchauvinismus und andere Diskriminierungsformen leiten die Geschichte. Intersektionalität trägt das Romanganze inhaltlich; die Fiktionalisierung geht über gebräuchliche Konzepte von auto-fiction hinaus und erlaubt gerade durch die lebensweltliche Botschaft Einsichten in gesellschaftliche Komplexitäten. Genau diese Konstruktion des literarischen Textes ist für die Rezeption des Werks ausschlaggebend, zumal die Wahl des Pseudonyms der Autorin ermöglicht, die Thematisierung und Problematisierung von Intersektionalität hier und in weiteren Romanen jenseits der Tetralogie zu intensivieren, wie etwa in "La vita bugiarda degli adulti" (2019).
Intersektionalität hält als Forschungsgegenstand, als Schauplatz theoretischer Diskussion und als Analyseperspektive seit Jahren verstärkt Einzug in unterschiedliche akademische Disziplinen und Bereiche. Es verwundert daher nicht, dass sich das Intersektionalitätsparadigma auch im Bereich der Literaturwissenschaft und -didaktiken zunehmend als produktiv erweist, wie wir mit dem Sammelband zeigen wollen, der intersektionale literaturwissenschaftliche und -didaktische Fallstudien aus unterschiedlichen Philologien versammelt und so ein Prisma der Erforschung literarischer Repräsentationen des Zusammenspiels von einander verschärfenden bzw. abschwächenden Diskriminierungskategorien bietet. Inwiefern die Einzelbeiträge kritische Reflexionen verschiedener Positionen der Intersektionalitätsforschung präsentieren und Beispiele für die vielfältige Ausgestaltung intersektional orientierter Textanalyse auf theoretischer und methodischer Ebene anbieten sowie didaktische Lesarten des Intersektionalitätsparadigmas aufzeigen, machen wir aufbauend auf einer ausführlichen Begriffs- und Theoriereflexion einleitend deutlich.
Obwohl Empathie beim literarischen Lesen unstrittig eine äußerst bedeutsame Rolle spielt, ist sie ein in der Literaturdidaktik immer noch nicht theoretisch und empirisch ausreichend erforschter Bereich. Bisher noch so gut wie gänzlich unbeachtet ist dabei ein Phänomen, das eng und unmittelbar mit empathischen Prozessen zusammenhängt: Ekpathie. Hierbei handelt es sich um lesebezogene Aspekte, die möglicherweise auch auf Grund ihres beispielsweise aktiv zurückweisenden Charakters - Leser:innen nähern sich einer literarischen Figur bewusst und willentlich nicht - aus nahe liegenden Gründen in der Literaturdidaktik noch nicht grundlegend thematisiert wurden. Der vorliegende Beitrag skizziert ekpathische Prozesse beim Lesen literarischer Texte in theoretischer Hinsicht und veranschaulicht sie auf der Grundlage wirkungsästhetischer Überlegungen auch aus einer dezidiert intersektionalen Perspektive anhand eines jugendliterarischen Beispieltextes.
Der Beitrag zeigt, dass der populäre niederländische Roman "Geen gewoon Indisch meisje" ("Kein gewöhnliches Indisches Mädchen") van Marion Bloem aus dem Jahr 1983 als eine literarische Ausdrucksform des niederländischen Intersektionalitätsdenkens (cf. Essed, Hoving, Wekker) avant la lettre gelesen werden kann. Anhand eingehender intersektionaler Analysen verschiedener Passagen der durchweg als Autofiktion rezipierten Coming of Age-Erzählung über ein niederländisches Mädchen of Color, dessen Eltern aus der ehemaligen niederländischen Kolonie Niederländisch-Ostindien stammen, dem heutigen Indonesien, macht dieser Beitrag deutlich, wie der Roman verschiedene Tabuthemen innerhalb der niederländischen Gesellschaft wie Race, weiße Privilegien und Sexismus unerschrocken und kritisch zur Diskussion stellt, und dies in einer Zeit, in der solche Ungleichheitsfaktoren noch unsichtbar waren und/oder nicht über sie gesprochen werden durfte. Der Beitrag erörtert die Strategien, mit denen Bloems Roman auf freimütige und für weiße Leser:innen häufig schmerzhaft konfrontierende Weise einer jungen Woman of Color eine Stimme gibt, für deren Anders-Sein in der niederländischen Gesellschaft eigentlich kein Platz ist, und von der als 'feminist killjoy' erwartet wird, dass sie schweigt.
Ausgehend von der Frage nach literarischen Darstellungskonventionen, die zu verschiedenen historischen Zeitpunkten als Medien der Beobachtung und Reflexion von Intersektionalität und interdependenten Herrschaftsverhältnissen dienen konnten, untersucht der Beitrag das Erzählen 'vom Dorf' und 'der Provinz' als Mittel der Narration von sozialer Ungleichheit. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert intensiviert sich eine kulturelle Stadt-Land-Dichotomie, aufgrund derer das 'Ländliche' in Abgrenzung zur urban geprägten Moderne als das rückwärtsgewandte, hierarchisch schwächere 'Andere' wahrgenommen wird. Die Zugehörigkeit zu einem ländlichen oder städtischen Umfeld entwickelt sich daher zur 'Ungleichheitskategorie', die im intersektionalen Zusammenspiel mit anderen Differenzfaktoren auftreten kann. Zugleich ist 'das Dorf' als sozialer Raum konventionell durch eine strikte Einteilung von Menschen in die Kategorien 'Einheimische' und 'Fremde' geprägt und produziert auf Basis strenger Normvorstellungen in besonderem Maße soziale Zuschreibungen der Nichtzugehörigkeit, die wiederum mit Diskriminierungskategorien wie Geschlecht, ethnische Herkunft, ökonomischer Status etc. verwoben sein können. In der literarischen Dorfgeschichte bzw. dem 'Provinzerzählen' vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart dient der rurale Raum daher auf vielfältige Weise als Ort der Darstellung und Reflexion intersektionaler Formen der Diskriminierung und Ungleichheit. Demonstriert wird dies durch eine Untersuchung von Berthold Auerbachs Dorfgeschichte "Des Schloßbauers Vefele" von 1843 und Maja Haderlaps Roman "Engel des Vergessens" aus dem Jahr 2011.
Eine dreifache Bewegung der Emanzipation appelliert im 19. Jahrhundert an eine realistische Darstellung: Die Befreiung und Gleichstellung von Frauen, Jüd:innen und der Arbeiter:innenklasse wird von realistischen Texten teils protegiert, teils bekämpft. Am Beispiel von sowohl vor- als auch nachrevolutionären Romanen und Erzählungen Fanny Lewalds entwickelt der Beitrag ein intersektionales Verständnis von Realismus, das dieser politischen Seite des Begriffs Rechnung trägt. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass realistische Poetiken mit der Verfahrensweise intersektionaler Textbeobachtungen eine Gemeinsamkeit in der Privilegierung der Referenzebene der 'erzählten Welt' besitzen. Wie aber können sich mehrere strukturell divergente Erfahrungswelten innerhalb derselben erzählten Welt artikulieren, ohne in ihrer konfliktuellen Heterogenität nivelliert zu werden? Während "Jenny" (1843) als Versuch über die Phänomene doppelter, aber auch wechselseitiger Diskriminierung subalterner Akteur:innen gelesen werden kann, wirft der Beitrag am Beispiel der Novellen "Der dritte Stand" (1845) und "Auf Rother Erde" (1850) die Frage auf, welche poetologischen Konsequenzen sich aus jener intersektionalen Problematik ergeben, der sich Lewald auch in diesen beiden Novellen systematisch verschrieben hat. Anknüpfend an Überlegungen Susan Lansers geraten dabei u.a. das Geschlecht der Erzählinstanz und die Poetik des Dialogs in den Blick. Wie damit gezeigt werden soll, gehört der nur intersektional fassbare Streit um die Wirklichkeit zu den entscheidenden Voraussetzungen sowie den formalen Problemstellungen des Realismus.
Der Artikel zeichnet im Anschluss an eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Erzähltheorie an Olivia Wenzels Roman "1000 Serpentinen Angst" (2020) die im Text entworfenen Familienbeziehungen nach. Fokussiert wird, wie die Erzählerin sich über das Erzählen selbst mit ihrer eigenen intersektionalen Identität als Schwarze ostdeutsche queere Frau auseinandersetzt. In Rückgriff auf zentrale Forschungsbeiträge zum Konnex von Gender, Erinnerungsstrukturen und Erzähltextanalyse wird erstens gezeigt, dass durch die Erzähltechnik Situationen und gesellschaftliche Herausforderungen wie z.B. auch die staatlich-systematischen Ungleichheitsbehandlungen im Falle von Personenüberwachung akzentuiert werden, mit denen die Frau konfrontiert wird. Wenzels Erzählweise lässt sich als serpentinenartiges Erzählverfahren beschreiben, das in Erzählschlaufen und über narrative Umwege funktioniert. So wird gerade durch die Darstellungsweise des Romans deutlich, welche Schwierigkeiten in der persönlichen wie kulturellen Verortung der Figur liegen. Der Text wird zweitens als Erinnerungs- und Familienroman gelesen. Die intersektionale Identität der Erzählerin lässt sich dabei über die verschiedenen Lebensgeschichten ihrer Familienangehörigen, und besonders in der Abgrenzung von diesen, wie auch über ihre eigene Schwangerschaft rekonstruieren. Es zeigen sich übergenerationale und sich gegenseitig bedingende Faktoren für Ausgrenzungen und Stigmatisierung, welche Interdependenzen zwischen Geschlecht, Körperlichkeit, Öffentlichkeit, Identität und nationaler Zugehörigkeit offenlegen.
Ausgehend vom Konzept der Intersektionalität und ihrer Umsetzung in der Literatur und in der Literaturdidaktik wird der vieldiskutierte Roman "Identitti" von Mithu Sanyal zunächst analysiert und schließlich in einem Experiment mit Studierenden unterschiedlicher Studiengänge, einem Bachelorstudiengang für das Lehramt Deutsch der Sekundarstufe I, dem Masterstudiengang Kulturvermittlung und dem Masterstudiengang Interkulturelle Bildung, Migration und Mehrsprachigkeit, eingesetzt, um zu prüfen, ob damit für intersektionale Bildung zu sensibilisieren oder gar zu qualifizieren ist. Alle Studierenden hatten den Roman vorbereitend gelesen und führten ein fünfphasiges, durch die Dozentin moderiertes literarisches Gespräch. Das Experiment zeigt den Studiengängen entsprechend unterschiedliche Akzentsetzungen der Studierenden und dass die voraussetzungsreiche Bearbeitung dort am besten gelingt, wo Rassismus- und Weißseinskritik als zentrale Elemente einer intersektionalen Analyseperspektive im Studiengang verankert und schon vor der Lektüre verhandelt worden sind. Doch auch Lehramtsstudierende, denen diese Perspektiven aufgrund des Studienplans weniger vertraut sind, erhielten v.a. durch die Anschlusskommunikation in der Gruppendiskussion vertiefende Einblicke in diese Bereiche und begannen sich mit deren Relevanz für die spätere Unterrichtspraxis auseinanderzusetzen.
Der Beitrag widmet sich der Figurenanalyse als Bestandteil der Texterschließung im intersektional ausgerichteten Deutschunterricht und konzipiert ein konkretes methodisches Analyseverfahren, das intersektionale Fragestellungen bei der Figurenanalyse zu erarbeiten und darzustellen vermag. Über eine erste literaturdidaktische Fundierung der Figurenanalyse als Texterschließungsverfahren werden Anknüpfungspunkte zum Intersektionalitätsparadigma aufgezeigt Der Beitrag versteht sich als Vorschlag für eine mögliche kulturtheoretische Fundierung der Figurenanalyse durch das Intersektionalitätsparadigma, welches mit dem Kollektivansatz von Klaus P. Hansen und dessen Fortführung durch Jürgen Bolten zum fuzzy culture-Ansatz in Bezug gesetzt wird. Aus dieser theoretischen Verbindung wird ein konkretes Instrumentarium zur intersektional orientierten Figurenanalyse in literaturdidaktischen Settings entwickelt, das sich durch eine strukturierte visuelle Aufarbeitung intersektionaler Fragestellungen in Bezug auf literarische Figuren auszeichnet. Die folgenden Ausführungen bieten zunächst einen kurzen Überblick über die literarische Figur allgemein und ihre Merkmale sowie die Bedeutung der Figurenanalyse im Deutschunterricht, bevor letztere unter intersektionalen Gesichtspunkten beleuchtet und in ein konkretes Analyseinstrumentarium überführt wird. Dieses wird abschließend an Eleonora Hummels Roman "Die Fische von Berlin" beispielhaft erprobt.